Wie lange Val bereits dagelegen und den ungewöhnlich klaren Sternenhimmel über sich betrachtet hatte, wusste sie nicht. Ihre Gedanken schienen wie die leuchtenden Punkte am Firmament zu sein – viel zu weit weg, um sie wirklich fassen zu können.
Ihr Kopf dröhnte und ihr Unterkiefer schmerzte.
Gebrochen schien jedoch nichts zu sein. Auch wenn Val nicht die Kraft dazu hatte, es nachzuprüfen, denn ihr Körper fühlte sich unnatürlich schwer und wie betäubt an.
Sie zitterte vor Kälte, die inzwischen nicht nur in ihrem Inneren vorherrschte, sondern auch von außen beständig auf sie einwirkte, da die Nacht kühl und sie vollkommen nackt und schutzlos den Einflüssen ihrer Umgebung ausgeliefert war.
War das der Plan? Wollte man Val unter freiem Himmel erfrieren lassen?
Dieser eher absurde Gedanke erinnerte sie wieder an die Geschehnisse der vorangegangenen Stunden – wie sie gründlich gebadet und anschließend mit roter Farbe beschmiert worden war.
Auch jetzt noch weigerte sich Vals Verstand, die Flüssigkeit als Blut anzusehen, das zweifellos immer noch den Großteil ihres Körpers überzog. Doch zu welchem Zweck?
Mühsam versuchte sie nun doch ihren Kopf ein Stück weit zu drehen, um mehr von ihrer Umgebung erkennen zu können, was Val tatsächlich erst nach mehreren Anläufen gelang.
Ein paar Meter von ihr entfernt stand eine verhüllte Gestalt reglos wie eine Statue da und schien sie anzustarren. Eine Frau, der zierlichen Statur nach zu urteilen, doch sicher war Val sich nicht, da sie kaum etwas erkennen konnte.
Vor der Fremden brannte eine einzelne Ölschale, die kaum Licht in die vorherrschende Dunkelheit brachte, dafür aber umso längere Schatten warf. Dabei lag der intensive Gestank nach Räucherwerk in der Luft, wie Val ihn zuvor schon in der Kammer der Eiskönigin hatte riechen können.
Eigentlich fehlten nur noch die gemurmelten Gebete in dieser fremdartigen Sprache, und der Eindruck einer düsteren Zeremonie wäre perfekt, so absurd das auch war.
Val schloss einen Moment lang die Augen, versuchte ihre wirren Gedanken wieder zu sammeln und die Eindrücke ihrer Umgebung zu einem genaueren Bild zusammenzusetzen, um ihre Lage besser einschätzen zu können, was ihr anhand der Umstände wirklich nicht leichtfiel.
Sie lag auf etwas Weichem. Fell vielleicht – dem Gefühl unter ihren Fingern nach zu urteilen. Zugleich befand sie sich jedoch nicht direkt am Boden, sondern auf einem erhöhten Untergrund.
In Anbetracht der Härte und der Kälte nach zu urteilen, die selbst durch die Schichten aus Fell von unten in ihren Körper drang, befand Val sich wohl auf einem steinernen Untergrund.
Es musste ein ziemlich großer Felsblock sein, denn selbst nachdem sie versucht hatte, mit ihrer Hand den Rand zu ertasten, konnte sie diesen nicht erreichen. Dafür zeigte sich umso deutlicher, wie schwach sie in Wirklichkeit war.
Val glaubte nicht, dass das von Ciceros Schlag oder dem Alkohol herrührte, den man ihr zu trinken gegeben hatte. Viel mehr war die Ursache bei etwas zu suchen, das man ihr in den Wein gemischt hatte. Vielleicht eine Droge?
Zumindest würde das erklären, warum sie solche Mühe hatte, sich zu konzentrieren, und warum sich ihr Körper so schwer und seltsam anfühlte. Immerhin war da auch wieder dieses Summen in ihr, das sie schon einmal gespürt hatte, nachdem sie angeblich Alexeys Blut hatte trinken müssen.
Am Ende war es wohl Vals Glück, dass sie das meiste von dem Zeug wieder hervorgewürgt hatte, ehe es seine volle Wirkung hatte entfalten können, und sie womöglich auch noch alle möglichen Farben zu sehen begann. So war sie wenigstens nicht vollends wehrlos, oder zumindest bekam sie bewusst mit, was mit ihr geschah, und das war ihr noch bei weitem lieber, als aufzuwachen und nicht zu wissen, was man ihr angetan hatte. Bei der Eiskönigin konnte man das schließlich nie so genau wissen.
Was Val wieder auf die Frage zurückbrachte, was das Ganze überhaupt sollte.
Wenn das alles hier nicht so vollkommen gegen ihr Vorstellungsvermögen gehen würde, könnte sie dieses ganze Prozedere, ihre Aufmachung und die Gestaltung ihrer Umgebung fast für eine Art gottloses Ritual halten, bei dem sie offenbar den Mittelpunkt darstellen sollte.
Allerdings bezweifelte Val stark, dass die Eiskönigin den Teufel oder dergleichen anbetete, obwohl dieser Frau selbst das durchaus zuzutrauen wäre.
Demzufolge war die Rolle, die ihr dabei zugedacht war, bestimmt keine, die man anstreben sollte.
Bevor Val jedoch irgendetwas gegen ihre heikle Lage unternehmen konnte, wurde die Situation sogar noch bizarrer, als tatsächlich ein Gesang aus mehreren Frauenkehlen angestimmt wurde, während die Gestalt vor ihren Augen einen Dolch zückte und ihn mit beiden Armen über sich ausgestreckt mit der Spitze voran gen Himmel gerichtet hielt.
Val lief es eiskalt den Rücken runter, woran nicht etwa die kalte Umgebungstemperatur schuld war, sondern vielmehr eine unangenehme Vorahnung, und natürlich auch die bedrohlichwirkende Klinge in diesen zarten Frauenhänden, die sonst was damit vorhatten.
Sie selbst war alles andere als ein gläubiger Mensch, aber selbst Val konnte nicht leugnen, dass die Stimmung um sie herum mit einem Schlag verdammt unangenehm wurde und sie sich, ob der Bedrohlichkeit ihrer Lage immer unwohler zu fühlen begann.
Was auch immer hier genau vor sich ging, es verhieß nichts Gutes für sie.
Die Stellen, an denen Val mit Symbolen beschmiert worden war, begannen unangenehm zu prickeln, während sich sämtliche der feinen Härchen auf ihrer Haut wie elektrisiert aufrichteten und das Summen noch an Stärke zunahm.
Vals Puls schnellte hoch, während Adrenalin in rauen Mengen durch ihren Körper gepumpt wurde, das ihr zumindest etwas den Kopf freimachte.
Dadurch schaffte sie es sogar, sich ein Stück weit auf ihren Ellenbogen hochzukämpfen, um ihre Lage besser einschätzen zu können. Auf diese Weise konnte Val vier Gestalten ausmachen, die sie in einigem Abstand eingekreist hatten und deren Erscheinung und Haltung beinahe vollkommen identisch war. Ebenso die Dolche in ihren Händen.
Das war ohne Zweifel die Eiskönigin und ihr Gefolge. Val war sich dessen nun vollkommen sicher.
Auch dass sie hier ein heidnisches Ritual vollzogen, ließ sich nicht länger leugnen.
Die Ölschalen zu den Füßen der vier Frauen ließen zwar hauptsächlich nur den trockenen Boden in der direkten Umgebung deutlich erkennen, doch da war eindeutig feuchte, rote Farbe oder vielleicht sogar Blut zu erkennen, das da in verschlungenen Linien durch den Staub gezogen worden war.
Das üppigwuchernde Gras hinter ihnen grenzte sich so deutlich vom Sand unter ihnen ab, als würde es sich davor fürchten, auch nur die kleinste Wurzel in den unheilbringenden Kreis hineinwachsen zu lassen, den es dadurch bildete.
So abgelenkt von den blutigen Linien am Boden und den bedrohlich erhobenen Dolchen, bemerkte Val die riesige Gestalt am Rande des Lichtscheins erst, als diese den Sand und somit das Innere des rituellen Kreises betrat.
Selbst wenn das Summen unter und das Knistern auf ihrer Haut nicht mit einem Schlag zugenommen hätte, so wäre Val doch niemals die herannahende, beinahe körperlich spürbare Gefahr der Erscheinung entgangen.
Sie verstand zwar immer noch nicht, was das ganze Theater hier sollte, doch ihre instinktive Furcht war mehr als echt, zumal es an dem Ganzen hier nichts gab, das auch nur irgendwie lächerlich auf sie wirkte.
Ganz im Gegenteil.
Ein nur allzu vertrautes Grauen begann Val zu erfassen, als der riesige Schatten sich am Ende als nackter Mann entpuppte, der direkt und ohne zu zögern auf sie zukam, und sie dabei überdeutlich an ihre eigene Nacktheit erinnerte.
***
Vom Schrei einer Eule begleitet, stieg Alexey langsam aus den eiskalten Wassern einer verborgenen Quelle, die von dichtem Wald umschlossen war.
Von dem Moment an, da die Sonne endgültig über den Wipfeln der Bäume untergegangen war bis zu diesem Augenblick, hatte er bis zum Hals in dem reinigenden Nass verbracht und fast schon gewaltsam versucht, den Schmutz und die Sünden seines langen Lebens von sich abzuwaschen. Doch mit dem Beginn der Nacht wurde immer mehr offenbar, dass es ein vergeblicher Versuch bleiben würde, egal wie unbarmherzig er seine Haut auch malträtierte.
Anfangs kaum sichtbar waren die magischen Bannsprüche und Symbole der Unterwerfung, die er zu jederzeit überall am Körper trug und die ihn zu einem Leben als Hederas Sklaven verdammten, inzwischen deutlich im Dunkeln der Nacht zu erkennen.
Es war der schwarze Mond der den Fluch, der auf ihm lag, als schwaches Glühen auf seiner Haut offenbarte und je mehr Macht Hedera über ihn gewann, umso heller würde es noch werden.
Es war ein unheilvoller Blutzauber, den sie schon viele Male über ihn verhängt hatte, und der mit jeder weiteren Jungfrau, die er für sie opfern musste, nur noch stärker wurde.
In dieser Nacht war Valeria dazu verdammt, dieses Opfer zu sein.
Alexey schloss bei diesem Gedanken wutentbrannt die Augen und ballte seine zittrigen Hände zu Fäusten.
Obwohl es ihm niemals und bei keiner Einzigen von Hederas auserwählten Jungfrauen leichtgefallen war, so lastete das Wissen, dass er heute Nacht der kleinen Kriegerin würde Gewalt antun müssen, doch noch um ein Vielfaches schwerer auf ihm.
Und er hatte Angst.
Denn im Vergleich zu ihm war sie trotz ihres starken Willens so unglaublich verletzlich und schwach, wie ein neugeborenes Kätzchen in den Fängen eines ausgewachsenen Wolfes.
Wie nur, bei den verfluchten Göttern, sollte er es schaffen, sie nicht zu zerbrechen?
Es war äußerst grausam von Hedera, ihn überhaupt dazu zu zwingen. Doch Grausamkeit hatte sie noch nie davon abgehalten, ihm ihren Willen aufzudrängen. Manchmal schien es gar, als würde sein Leid oder das anderer, sie eher noch dazu anstacheln.
Einen sehr gefährlichen Augenblick lang war Alexey sogar versucht, sich gegen sie aufzulehnen. Sich zu weigern, das Ritual zu vollziehen und Valeria stattdessen zur Flucht zu verhelfen. Doch es genügte nur ein winziger Gedanke an eine längst vergangene Erinnerung, um dieses Vorhaben sofort im Keim zu ersticken.
Niemals wieder würde er zulassen, dass sich das bestialische Blutbad des allerersten Opferrituals wiederholte. Damals, als Alexey sich geweigert hatte, Hederas Befehl nachzukommen und sie vollkommen die Kontrolle über ihn und seinen Körper übernommen hatte, um ihn zu der grausamen Tat zu zwingen.
In jener Nacht hatte es sie fast ihr eigenes Leben gekostet, ihn sich untertan zu machen, während er mit aller Macht gegen ihren Einfluss aufbegehrt hatte. Doch heute, nach so vielen Jahren, von seinem Blut gestärkt und mit der Unterstützung ihrer drei Freundinnen, würde es sie kaum ein müdes Lächeln kosten, ihn dazu zu zwingen, Valeria auf grausame Weise zu Tode zu foltern.
Es war besser, ein weiteres Mal diese Schuld auf sich zu laden, um das Leben der kleinen Kriegerin in seine eigenen Hände zu nehmen, anstatt es Hedera vor die Füße zu werfen und sie somit dem sicheren Tod auszuliefern. Selbst wenn es bedeutete, dass sie ihn dafür auf ewig hassen und niemals die Gefühle, die sie so überraschend intensiv in ihm auslöste, erwidern würde.
Alexeys Kiefer mahlten brutal aufeinander, während er seine aufgestaute Wut unter Kontrolle zu halten versuchte. Wieder einmal verfluchte er sein unvermeidliches Schicksal und die vergangenen Fehler, die ihn erst in diese Lage gebracht hatten, aber allem voran die Tatsache, dass er selbst jetzt noch zu schwach war, um sich dagegen aufzulehnen.
Alexey wollte schreien, und wie ein Wilder um sich schlagen, doch ein Zwang, der ihm nur allzu vertraut und verhasst war, hielt ihn davon ab. Stattdessen setzte er sich gezwungenermaßen in Bewegung, ignorierte dabei das Wasser, das ihm aus seinen nassen Haaren den erhitzten Körper entlanglief und sich mit den frischen Schweißtropfen auf seiner nackten Haut vermischte.
Die Nacht war ungewöhnlich kühl, vermochte es jedoch nicht, das tobende Feuer in seinem Inneren zu löschen.
Allein der Gedanke an Valerias Sicherheit gab Alexey schließlich die benötigte Kraft, um sich zumindest etwas zu beruhigen, die hungrige Bestie in seinem Inneren für den Moment zu bändigen und sich stattdessen dem Grauen dieser Nacht zu stellen.
Er würde sein Bestes tun, um die kleine Kriegerin zu beschützen. Vor allem vor sich selbst. Dennoch wog die Last der bevorstehenden Schuld schon jetzt so schwer auf seinen Schultern, dass es einem Wunder gleichkam, dass seine Füße von dem gewaltigen Gewicht, das ihn niederrang, noch nicht im Erdreich unter ihm versunken waren.
Stattdessen marschierte Alexey lautlos wie ein Blatt im Wind über den weichen Waldboden einen verhöhnenden Schritt nach dem anderen auf das blutigste aller Schlachtfelder zu, das er je betreten hatte und jemals in seinem Leben betreten würde.
Er konnte die in der Luft liegende Magie wie kleine bissige Insekten auf seiner nackten Haut spüren, und wie sie sich immer weiter um ihn herum verdichtete, je näher er der Quelle dieser Kraft kam, zu der es ihn unausweichlich hinzog.
Das Blutritual begann einige Minuten später, als die vier verhüllten Frauengestalten, die sich in einem magischen Kreis aufgestellt hatten, seine Ankunft am Rande der unheilvollen Lichtung bemerkten und einen Gesang in dieser verfluchten Sprache anstimmten, die er selbst nach so vielen Jahren noch immer nicht verstehen konnte.
Alexey trat mit wildklopfendem Herzen zwischen Hedera und Octavia hindurch über den Ring aus Blut im Sand und erzitterte unter der gewaltigen Macht, die sich sogleich um ihn herum schloss – ihn gefangen nahm – kaum dass er sich der magischen Kraft im Inneren des Kreises ausgeliefert hatte.
Seine Fänge wuchsen in seinem Mund zu heftig pochenden Waffen heran, während jeder seiner schweren Schritte ihn näher an den Opferstein brachte, der genau das Zentrum dieses finsteren Rituals darstellte.
Es war nicht sein bestialischer Durst, der ihn dazu veranlasste, die Zähne zu blecken, sondern viel mehr der dunkle Fleck an Valerias zartem Kiefer, den er selbst bei den vorherrschenden Lichtverhältnissen klar und deutlich erkennen konnte.
Das Untier in ihm wollte denjenigen auf der Stelle in Stücke reißen, der es gewagt hatte, sie zu schlagen, doch nur allzu schnell wurde ihm wieder bewusst, dass er der kleinen Kriegerin gleich weitaus Schlimmeres würde antun müssen.
Der Gedanke war erschütternd, vor allem als er das Entsetzen in Valerias weit aufgerissenen Augen sah, als sie schließlich erkannte, wer da nun kaum einen Meter von ihr entfernt stehenblieb. Was eigentlich nicht hätte möglich sein dürfen.
Hedera betäubte die Frauen für gewöhnlich, die Alexey für sie opfern sollte, um einen ungestörten Ablauf des Rituals zu garantieren, da es sowohl sie als auch ihre Freundinnen enorm viel Kraft kostete, die dabei heraufbeschworenen Mächte zu zügeln und in die richtigen Bahnen zu lenken.
Zudem ließ auch er sich leichter bändigen, nachdem er von dem Blut der betäubten Frauen getrunken hatte. Doch Valeria war nicht betäubt. Zumindest nicht so, wie es bei ihren Vorgängerinnen der Fall gewesen war.
Diese waren fast vollkommen weggetreten gewesen, und hatten dadurch kaum etwas von den Dingen mitbekommen, die er gezwungen worden war, mit ihnen zu tun.
Zwar war das grausam und ungerecht und das würde es auch immer bleiben, doch zumindest musste Alexey dabei nicht auch noch gegen seine Opfer ankämpfen. Der Kampf in seinem Inneren tobte dabei schon heftig genug, da die Bestie in ihm sich niemals freiwillig Hederas Fluch ergeben würde und stets dagegen aufbegehrte, noch weiter versklavt zu werden. Zugleich auch noch vorsichtig und sanft zu sein, um den Frauen nicht noch mehr unnötiges Leid zuzufügen, war dabei keinesfalls leicht für ihn. Dennoch zügelte er sich so gut er konnte.
Alexey war sich Valerias Aversion ihm gegenüber nie bewusster als in diesem Augenblick.
Er hatte sich auch noch nie so nackt und angreifbar gefühlt wie in jener Sekunde, als Hedera ihren Zauber auf ihn wirken ließ, um das Folterinstrument zu wecken, das schon für so viel Blut und Schmerz an diesem Ort gesorgt hatte.
Seine Hände ballten sich erneut zu Fäusten und seine Kiefer krachten voller Wut und Ungemach aufeinander, während er sich gegen das Unvermeidliche zu wehren versuchte.
Wie glühendes Eisen brannten sich Valerias Blicke in sein anschwellendes Fleisch.
War sie vorhin noch bei seinem nackten Anblick lediglich entsetzt gewesen, so stand ihr nun das blanke Grauen regelrecht ins Gesicht geschrieben.
Diese Nacht würde für sie beide alles andere als einfach werden.
***
Mit jedem Schritt, den Alexey näherkam, konnte Val ihn besser erkennen, während die gewaltige Präsenz seiner monströsen Erscheinung ihr mehr und mehr die Luft zum Atmen abschnürte.
Als wäre es beabsichtigt, blieb auch jetzt sein Gesicht durch das viel zu schwache Licht vor ihr verborgen, doch dafür kannte sie die Konturen seines nackten Körpers nur allzu genau, nachdem sie ihm schon unzählige Male beim Sex mit seiner Herrin zugeschaut hatte.
Auch er war von Kopf bis Fuß mit Symbolen überzogen, nur mit dem Unterschied, dass bei ihm weiße statt roter Farbe und ganz bestimmt keine Finger zum Malen verwendet worden waren. Dafür waren die Linien viel zu fein, während die Zeichen im Dunkeln der Nacht beinahe unheimlich zu lumineszieren schienen.
Doch das alles spielte im nächsten Augenblick überhaupt keine Rolle mehr.
Kaum einen Schritt von ihr entfernt ragte Alexey wie ein gigantisches Gebirgsmassiv aus stahlharten Muskeln und Sehnen unverrückbar über ihr auf und schien Val schon allein mit seiner bloßen Anwesenheit auf die weichen Felle niederzudrücken.
Dass seine riesigen Hände sich drohend zu Fäusten ballten, während nun auch noch ein ganz anderer Teil von ihm bei dieser Horrorshow mitmachen wollte, war absolut nicht beruhigend.
Während Vals Augen vor Entsetzen immer größer wurden, waren die Hände des Hünen schon bald vergessen. Ihr Blick war ausnahmslos auf seine Körpermitte geheftet, wo sie hautnah Zeugin eines in ihrer Situation absolut beängstigenden Schauspiels wurde, bei dem sie nur zu gerne weggesehen hätte, es aber einfach nicht konnte.
Trotz der schmerzhaften Erfahrung, dass jede Auflehnung ihrerseits bisher immer auf die eine oder andere Art blutig geendet hatte, kam Val nicht gegen ihre ureigensten Instinkte an. Zwar war es in ihrem Zustand völlig aussichtslos, dennoch versuchte sie kaum einen Herzschlag später, vor ihrem schlimmsten Albtraum zu fliehen.
Val kam nicht einmal bis zur Felskante in ihrem Rücken, bevor riesige Hände ihre Fußgelenke umschlossen und sie daran mühelos zurück in die Mitte des Steinblocks zogen, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen zu wehren versuchte. Was in Anbetracht ihres betäubten Zustands nicht besonders viel war.
Kurz darauf wurde der Sternenhimmel über ihr zur Gänze von einem riesigen Schatten verschluckt, der sich so tief auf sie herabsenkte, dass seine Hitze auf ihrer kalten Haut regelrecht brannte, obwohl Alexey sie noch nicht einmal berührte.
Als dann doch seine Hand zwischen ihre Beine fuhr und diese auseinanderdrängte, um Platz für sich zu schaffen, begann die Welt vor ihren Augen zu verschwimmen.
Vals Herz hämmerte wie wild gegen ihre Brust, während sie verzweifelt nach Atem rang und doch nicht genug Luft in ihre Lungen saugen konnte.
Obwohl es mindestens ein Dutzend Schwachpunkte an dem massiven Körper über ihr gab, der sie mit seiner schieren Masse unter sich gefangenhielt, war sie dennoch nicht dazu im Stande, auch nur einen davon anzugreifen.
Val erstarrte vollends im Angesicht ihres schlimmsten Albtraums, unfähig vor Angst auch nur noch einen einzigen Muskel zu bewegen.
Es würde wieder geschehen ...
Als Kind hatte sie noch nicht einmal geahnt, welche Schrecken in der Nacht auf sie lauerten und von demjenigen ausgingen, der sie eigentlich vor ihnen hätte beschützen sollen. Aber hier und heute war Val eine erwachsene Frau. Vielleicht nicht der Körper, in dem sie gerade steckte, aber definitiv ihr Geist, und sie wusste sehr genau, was auf sie zukam. Auch, wenn sie einen Schlag von einer dieser monströsen Fäuste fürchtete, so war es doch nicht diese Art von Angst, die sie lähmte und somit vollkommen hilflos machte.
Es war ihr eigener Verstand, der die Schatten ihrer düsteren Vergangenheit erneut heraufbeschwor, sie darin einhüllte und dadurch gefangennahm. Der ihre Realität verzerrte und sie in die Anfänge ihrer kranken Kindheit zurückkatapultierte. – Sie wieder zu dem kleinen, verängstigten Mädchen machte und dem Mann über ihr, die Gestalt ihres übermächtigen Stiefvaters verlieh.
Mein hübsches, kleines Mädchen ...
Beim Klang der verhassten Stimme gefror Val vor Grauen das Blut in den Adern.
Sie begann am ganzen Leib zu zittern und kniff so fest die Augenlider zusammen, dass sie Sterne sah, während sie das Gesicht so weit von ihrem Stiefvater wegzudrehen versuchte, bis ihre Nase gegen weiches Fell stieß.
Sie wollte ihn nicht ansehen. Wollte ES nicht sehen. – Das, was er mit ihr anstellte, während ihre Mutter nebenan ihren Rausch ausschlief.
Die unaussprechlichen Dinge, mit denen er sie folterte und beschmutzte. Mit denen er ihr Schmerz und Scham in einem Ausmaß zeigte, wie sie es sich niemals hätte vorstellen können.
Val zuckte wimmernd zusammen, als plötzlich etwas Warmes und Festes sachte ihren schmerzenden Kiefer entlangstreifte.
Panik schlug wie ein wildes Tier ihre Klauen in sie, als sie befürchtete, gleich den widerlichen Schwanz ihres Stiefvaters an ihren Lippen zu spüren, um gewaltsam dazu gezwungen zu werden, ihn in den Mund zu nehmen. Tiefer und tiefer, bis sie glaubte, an dem vielen Fleisch und dem ekelhaften Zeug in ihrer Kehle ersticken zu müssen.
Val versuchte sich instinktiv dagegen aufzulehnen, indem sie ihre Zähne fest aufeinander biss und sich so weit davon abwandte, wie sie konnte.
Ihr angespannter Nacken begann schrecklich zu schmerzen, doch selbst das nahm sie dankbar in Kauf, solange die Berührung kurz darauf wieder verschwand.
„Valeria ...“
Val zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen.
Trotz des wilden Rauschens in ihren Ohren konnte sie das geflüsterte Wort doch sehr genau verstehen. Zugleich spürte sie, wie die eisernen Fesseln ihres Traumas sich ein kleines Stück weit lockerten und sie für einen flüchtigen Moment in die Gegenwart zurückkehren ließen.
Ihr Stiefvater hatte sie nie so genannt.
Auch die Stimme war eine ganz andere.
Tiefer ... sanfter und mit einem merkwürdigen Akzent.
Doch wessen Stimme war es dann?
Bevor Val eine Antwort auf ihre Frage bekommen konnte, geriet diese auch schon völlig in Vergessenheit.
Zwar schien es kaum möglich zu sein, doch ihr Körper verkrampfte sich noch mehr, als plötzlich etwas Warmes und Feuchtes ihre Mitte berührte, dabei zwischen den zarten Falten ihrer Weiblichkeit entlangfuhr und die dort vorherrschende Dürre ein wenig entschärfte.
Vals Atem, der mittlerweile nur noch stoßweise ihre Kehle verließ, kam abermals ins Stocken, als ein ziemlich feuchter, aber auch sehr großer Finger ein Stück weit in sie eindrang, um auch dort die Trockenheit notdürftig zu vertreiben und schließlich auf den zu erwartenden Widerstand in ihrem Inneren stieß.
Der vage Schmerz ließ Val unvermittelt zusammenzucken und nach Luft schnappen, bevor ... eine riesige Hand sich auf ihren Mund legte, um ihre Protestlaute zu dämpfen, die sich kurz darauf in Schmerzensschreie verwandelten, als ihr schließlich ein Messer brutal in den Unterleib gerammt wurde.
Zunächst noch langsam, als würde die Klinge mit vollem Genuss in ihr herumgedreht werden, doch schon bald sehr viel schneller. Härter. Quälender.
Es tat so weh ... so unglaublich weh!
Der schwere Körper auf ihr erdrückte sie. Zerriss sie!
Ihre Lungen füllten sich bei jedem ihrer gequälten Schluchzer mit dem Gestank von schalem Bier und altem Schweiß. Verursachte ihr Übelkeit, obwohl sie kaum atmen konnte.
Haut, die auf Haut klatschte.
Das Gefühl von tausenden kleiner Insekten auf ihrem Körper, während Haare sie überall unangenehm kitzelten.
Stöhnen und Grunzen – Laute wie von einem Tier.
Rhythmisches Hämmern, das ihr immer wieder die Luft aus den Lungen trieb und sie bis ins Mark erschütterte.
Schneller. Immer schneller. Bis sie glaubte, jeden Moment sterben zu müssen.
Ein letztes Aufbäumen begleitet von einem Schwall üblen Gestanks, der über ihr Gesicht strich.
Mein hübsches, kleines ...
„Valeria!“
Val fuhr schlagartig hoch. Ihr Kopf knallte gegen etwas Hartes. Doch der aufflammende Schmerz in ihrer Stirn war nichts im Vergleich zu demjenigen, der sie gerade noch brutal gefoltert hatte.
Jemand über ihr gab ein leises Knurren von sich.
Für einen Moment hielt sie verwirrt den ohnehin knapp bemessenen Atem an ... realisierte ihre angespannten Muskeln, die sich mit aller Kraft gegen den Körper, der auf ihr lag, stemmten. Wurde sich bewusst, dass sie nicht länger in einer Erinnerung gefangen sein konnte, obwohl sich diese kaum von der Realität zu unterscheiden schien.
Immer noch lag sie nackt unter einem Mann, dessen Absichten nicht eindeutiger hätten sein können.
Es war nicht ihr Stiefvater, zumindest so viel verrieten ihr die haarlose Haut und die festen Muskeln, die über die Innenseiten ihrer Schenkel glitten, als der Körper auf ihr sich ein kleines Stück bewegte.
Vals Herz donnerte noch heftiger gegen ihre Brust bei dem Gedanken, dass sie jede Sekunde wieder das Messer spüren könnte.
Dass sie erneut vergewaltigt werden würde, nur dieses Mal nicht von ihrem Stiefvater, sondern von ...
Val stieß den angehaltenen Atem aus und sog stattdessen so viel Luft in ihre Lungen, wie sie nur konnte, um ihren Muskeln neue Kraft zu geben, während sie sich mit zusammengebissenen Zähnen noch stärker gegen den Mann stemmte, der sie niederzwang.
Als das keine Wirkung zeigte, versuchte sie irgendwie von ihm wegzukommen. Sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren, doch ihre Hände waren neben ihrem Kopf in die weichen Felle gedrückt worden, während das Gewicht auf ihrem Unterleib sie an Ort und Stelle hielt.
Verzweifelt mit ihren Beinen zu treten zeigte wenig bis gar keine Wirkung, während der Kopf ihres Gegenübers sich inzwischen außerhalb ihrer Reichweite befand, nachdem er bereits mit ihrer Stirn Bekanntschaft gemacht hatte.
Val hatte keine Chance. Egal, wie sehr sie sich unter dem riesigen Körper auch wand, er wich keinen Millimeter von der Stelle. Unverrückbar wie eine Statue aus Fleisch und Blut.
Sie war gefangen.
„Ruhig, Valeria ...“
Die zugleich ungewohnte und doch sehr einprägsame Stimme ließ sie für einen Moment innehalten.
Bisher hatte sie es nicht wahrhaben wollen. Es einfach nicht glauben können. Er war so vieles. Krieger. Wächter. Diener ... Vanadis Mörder ... All das und doch hätte sie ihn nie für einen Vergewaltiger gehalten.
Alexey war vieles zuzutrauen, doch das nicht, und obwohl sie den Mann kaum kannte, ihn anfangs sogar gefürchtet und gehasst hatte, wie war es nur möglich, dass die Enttäuschung darüber, sich so gewaltig in ihm geirrt zu haben, sie so sehr traf?
Verwirrt wandte Val sich ihm zu. Ihr Atem ging immer noch hektisch, während sich ihre Gedanken nur so überschlugen.
Sie zwang sich, langsamer zu atmen, während sie Alexeys Blick suchte, um ... was auch immer zu finden. Eine Erklärung vielleicht, so lächerlich das auch war.
Doch sie sah nur leuchtend weiße Symbole auf schwarzem Untergrund.
Val konnte wie immer nichts erkennen. Weder seine Augen noch irgendwelche Gesichtszüge, die ihr vielleicht seine Gefühle verraten hätten. Aber sie spürte ganz deutlich seinen Blick auf sich ruhen.
Es war beinahe ein körperliches Gefühl, das ...
Ihre Stirn legte sich in Falten. Ihre Nasenflügel blähten sich, als sie tiefer einatmete.
Ihr Verstand war immer noch von der Erinnerung an den Gestank von schalem Bier und altem Schweiß geprägt, sodass sie erst nach und nach den vollkommen anderen Geruch realisierte, der da ihre Lungen zu füllen begann.
Instinktiv atmete sie tiefer ein. Versuchte mehr von dem Geruch aufzufangen, um ihn besser analysieren zu können und ... erstarrte.
Ihre Augen wurden groß, während sie beinahe schockiert zu dem Schatten über sich hochsah.
Vals Atem beschleunigte sich ganz ohne ihr Zutun von Neuem. Ihr Herz trommelte ihr dabei noch heftiger gegen die Brust, als es das ohnehin schon tat.
Hitze kroch auf ihre Wangen ... in ihren Körper.
Dieser Duft ...
Das Summen war mit einem Mal wieder da. Heftiger als zuvor nahm es mit jedem ihrer Atemzüge sogar noch an Stärke zu.
Val hielt die Luft an. Spürte, wie ihr der Kopf zu schwirren und ihr Körper zu kribbeln begann. Da war ein nur allzu vertrautes Ziehen zwischen ihren Beinen.
Erneut übermannte Panik sie. Dieses Mal aus einem gänzlich anderen Grund.
Mit all ihrer verbliebenen Kraft versuchte Val sich erneut von Alexey zu befreien. Ihre Hände frei zu bekommen, seinen Körper irgendwie von sich runter zu drücken, um diesem teuflischen Duft zu entkommen.
Er kam ihr nur noch näher.
Sein fester Bauch drängte sich viel zu warm gegen ihre Mitte. Seine harte Brust berührte bei jedem seiner Atemzüge die ihre.
Haare, die ihre Wange kitzelten. Lippen dicht an ihrem Ohr. Warmer Atem, der über ihren Hals streichelte.
„... hab keine Angst ...“
Da waren noch mehr Worte, doch das war alles, was Val an dem Rauschen ihres Blutes und dem Hämmern ihres Herzens vorbei verstehen konnte.
Von wegen! Val schnappte nach Luft, hielt erneut den Atem an und kämpfte weiter.
Sie riss den Kopf herum, wollte ihm wehtun, doch Alexey wich ihr aus.
Feuchte Haarspitzen strichen über ihr Gesicht – ihr Duft noch um einiges stärker.
Wieder wandte sie den Kopf, drückte ihre Nase stattdessen tief in weiches Fell, doch auch dort gab es kein Entkommen. Alexeys Geruch war einfach überall.
Ein Duft, so außerordentlich köstlich wie gefährlich.
Val hatte keine Ahnung, wie das möglich war, nur, dass alles in ihr auf diesen Geruch so heftig reagierte, als hätte sie massenhaft irgendwelche drogenähnliche Substanzen inhaliert. Ihr Körper reagierte auf eine Art und Weise darauf, wie sie es nicht wollte. Erst recht nicht bei Alexey, der nackt und mehr als bereit auf ihr lag. Der seine Finger mit den ihren verschlang und sie immer noch mit Worten zu beruhigen versuchte, während sein teuflischer Duft ihr immer weiter zusetzte.
Schon bald begannen ihre Muskeln, ganz ohne ihr Zutun, sich zu entspannen. Ihr Widerstand erlahmte, obwohl sich ihr Verstand immer noch aufs Heftigste dagegen auflehnte.
Warum Alexey sich überhaupt noch zurückhielt, obwohl er ganz eindeutig als Sieger aus diesem Kampf hervorging, wusste Val nicht.
Aber es war klar, dass er sie nicht einfach gehen lassen würde. Schon gar nicht, als der Singsang um sie herum – den sie bis dahin völlig ausgeblendet hatte – plötzlich verstummte.
Die eintretende Stille wog unglaublich schwer zwischen ihnen und wurde schließlich erschlagend laut.
Alexeys Körper spannte sich merklich an. Seine Atmung veränderte sich. Wurde schwerer, schneller.
Abermals versuchte er ihr etwas zu sagen, doch Val hörte es nicht. Zu sehr war sie von seinen plötzlichen Bewegungen abgelenkt. Wie er sich ein Stück weit über ihr aufrichtete, das Atmen dadurch wieder etwas leichter wurde, bevor er seine Position veränderte.
Val erstarrte, als sie ihn über ihren Unterbauch streichen spürte. Alexeys Schwanz – hart, bereit und von erschreckenden Ausmaßen.
Angst krallte sich mit spitzen Klauen in ihren Nacken. Nicht unweigerlich vor Alexey. Sondern vor dem, was er gleich tun würde. Den Schmerz, den er ihr dabei zufügen würde und der mit Sicherheit noch um ein Vielfaches schlimmer sein würde, als sie ihn in Erinnerung hatte.
Er war so viel größer ... so viel stärker, als ihr Stiefvater es gewesen war, und schon damals hatte sie geglaubt, dabei sterben zu müssen.
Sie würde ...
Alexey ließ ihre Hand los, fasste stattdessen zwischen ihre Körper. Wollte sich in Position bringen.
Ohne nachzudenken schoss Vals freie Hand nach oben, ihre Finger gruben sich direkt in das weiche Gewebe unterhalb von Alexeys Kieferknöchel und packte fest zu, als er ihr instinktiv zu entkommen versuchte.
Anhand seines plötzlichen Verharrens und der Art, wie ihm für einen Moment die Luft wegblieb, wusste sie, dass sie ihn am richtigen Punkt erwischt hatte.
Mit ihrer Kraft war sie der seinen zwar unterlegen, aber diesen Schmerz konnte er nicht so einfach ignorieren, und sollte ihm das immer noch nicht genügen, würde ihn ein gezielter Schlag auf seinen ungeschützten Kehlkopf mit Sicherheit von ihr runterbringen. Wobei Val das bestimmt nicht gerne tat, könnte es ihn immerhin töten.
Soweit waren sie dann doch noch nicht.
Ob nun beabsichtigt oder nicht, als Alexey ihre andere Hand unvermittelt freigab, nutzte Val diese unerwartete Chance, um nach seinen offenen Haaren zu greifen und ihn daran weiter zu sich herunterzuziehen, während sie zugleich den Druck ihrer Finger an seiner Kehle noch weiter erhöhte.
Seine Kiefer mahlten daraufhin deutlich spürbar aufeinander, während er nun tatsächlich nur noch stoßweise atmete.
Val zog ihn so nah an sich heran, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten und sie sich einbildete, fast die Konturen seines Gesichts erkennen zu können, würden die weißen Linien auf seiner Haut ihre Augen nicht ständig davon ablenken.
„Nein!“, knurrte sie ihm mit kaum merklichem Zittern in der Stimme hoffentlich verständlich genug entgegen, um ihren Standpunkt noch ein letztes Mal klarzumachen, während sie versuchte, den Geruch seiner Haut nicht zu tief einzuatmen.
„Valeria ...“ Alexeys Stimme war kaum ein Flüstern.
Wieder versuchte er ihr etwas zu sagen, doch leider erschloss sich ihr die Bedeutung seiner Worte auch jetzt nicht, zumal sie ziemlich gepresst klangen.
Während Val versuchte, das Gesagte in Gedanken zu übersetzen, entging ihr nicht das heftiger werdende Zittern von Alexeys Körper und wie dieser sich immer weiter verkrampfte.
Seine Hände ballten sich fest um die Felle neben ihr, auf denen sie lag, und seine Zähne knirschten hörbar aufeinander, je stärker er sie zusammenbiss.
Val war bewusst, dass Alexey ihr jederzeit entkommen könnte, wenn er es wirklich darauf anlegen würde. Er war bei weitem stärker als sie und Schmerz war ihm keinesfalls fremd.
Weshalb ihr Angriff eigentlich darauf ausgelegt war, ihren sehr viel stärkeren Gegner abzuwehren, doch der ließ es zu, dass sie ihm wehtat, und versuchte erst gar nicht, der bestimmt äußerst schmerzhaften Situation zu entkommen.
Hatte der Kerl überhaupt keinen Selbsterhaltungstrieb?
Alexey zuckte unerwartet heftig zusammen, als plötzlich die verhasste Stimme der Eiskönigin die Stille zwischen ihnen beiden durchschnitt.
„Tu es!“
Val hatte sie und die anderen drei Gestalten beinahe schon völlig vergessen, doch bei den Worten der Queen wurde sie mit einem Mal hellhörig und zugleich kam ihr eine erschreckende Erkenntnis, die das Grauen in ihrem Magen noch um ein Vielfaches verstärkte.
Befolgte Alexey etwa gerade nur einen Befehl?
Wobei dieses 'nur' in Anbetracht der Situation geradezu lächerlich war. Immerhin sollte er sie vor aller Augen vergewaltigen!
Dieses Wissen machte Alexeys Vorhaben um keinen Deut besser. Erst recht nicht, als Val das volle Ausmaß ihrer ziemlich unglücklichen Lage zu realisieren begann, während sie eins und eins zusammenzählte.
Ihr unerwartetes Privileg zu baden. Die seltsamen Symbole sowohl auf ihrem wie auch auf Alexeys Körper. Der unheilvolle Gesang. Die blutroten Zeichen auf dem Boden. Das Räucherwerk und die Dolche. Und nicht zu vergessen, die unverkennbar bedrückende Atmosphäre eines ganz und gar unheiligen Rituals.
Val riss bei dieser Erkenntnis noch weiter die Augen auf.
War sie hier etwa die verdammte Jungfrau, die geopfert werden sollte?
Noch einmal warf sie einen flüchtigen Blick zu der Frau hinüber, welche als Einzige in ihrem Blickfeld war und die ihren Dolch inzwischen in den gefalteten Händen vor sich hielt, bevor Val sich wieder auf Alexey konzentrierte, der immer noch reglos über ihr verharrte, den sie aber auch auf sehr unangenehme Weise und viel zu deutlich zwischen ihren Schenkeln spüren konnte.
Wäre es 'nur' darum gegangen, einen aufgegeilten Typen abzuwehren, der aus einer Laune heraus agierte, so stünden Vals Aussichten auf Erfolg gar nicht so schlecht, nachdem sie endlich ihre Hände frei hatte und solange sie nicht von ihren Erinnerungen überrumpelt wurde. Selbst wenn es sich dabei um Alexey handelte, der im Vergleich zu ihr ein wahrer Riese war, hätte sie mit einigem Glück wohl dennoch eine Chance gehabt. Sie war zwar klein und immer noch nicht im Besitz ihrer vollen Kräfte, aber dennoch auch ohne großen Kraftaufwand äußerst wehrhaft, sofern man ihre Bewegungen nicht so massiv einschränkte, wie es vorhin der Fall gewesen war.
Aber es ging hier nicht um irgendeine Laune. Zumindest nicht um die von Alexey.
Stattdessen war das alles hier auf dem Mist der Eiskönigin gewachsen, und die wusste sehr genau, wie sie ihren Willen durchsetzen konnte. Selbst wenn es bedeutete, jemandem dafür den Kopf abhacken zu lassen.
Der letzte Gedanke erwischte Val eiskalt, sodass sie sogar ihren Griff etwas lockerte, während erneut Panik in ihr aufstieg.
Ohne mit der Wimper zu zucken hätte sie sich mit Freuden noch ein drittes Mal auspeitschen lassen, solange es bedeutete, dass sie ihrer momentanen Lage entkam. Doch, was sie niemals gegen ihr eigenes Wohl eintauschen würde, war Cearas Leben.
Val könnte wirklich jeden Scheiß ertragen, aber das nicht. Den letzten Menschen zu verlieren, der ihr noch etwas bedeutete und ihrem zweiten Leben zumindest so etwas wie einen Sinn gab, das würde sie nicht verkraften. Niemals. Das wäre zu viel.
Doch, was würde passieren, wenn sie sich weiterhin weigerte, bei diesem Theater mitzumachen und sich dadurch erneut offen gegen die Eiskönigin auflehnte?
Die Strafe dafür würde Val nicht direkt treffen. Zumindest so viel war sicher, und selbst wenn nicht, konnte sie doch nicht riskieren, dass Ceara wegen ihrer Weigerung auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Immerhin konnte die junge Frau nichts für Vals Verfehlungen.
Wieder fuhr Alexey unter der schneidenden Stimme seiner Herrin zusammen, heftiger noch als zuvor. Beinahe schien es, als hätte sie ihn auch körperlich geschlagen.
Inzwischen zitterte er so stark, dass man meinen könnte, er würde an Vals Stelle frieren, dabei begann er aber noch mehr zu schwitzen und auch dieser verdammte Duft, der ihm aus jeder Pore entströmte, nahm noch weiter an Intensität zu.
Val hielt den Atem an, während sie fieberhaft überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie Alexey noch in Schach halten konnte, zumal sie nicht einmal glaubte, dass er sich wegen ihres schmerzhaften Griffs so zurückhielt.
Er zögerte aus einem anderen Grund.
Einer, der immer noch mit ihr zu tun hatte, da war sie sich mit einem Mal sicher. Sonst wäre er dem Befehl seiner Herrin mit Sicherheit schon längst ohne Zögern nachgekommen.
Dennoch spielte es schon bald keine Rolle mehr, als die Eiskönigin schließlich ein drittes Mal und noch sehr viel ungehaltener ihre Stimme erhob.
Es war, als würde sie Alexey höchstpersönlich auf Val nieder und noch mehr gegen ihre Hand drücken, obwohl sie sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt hatte.
Inzwischen schnürten Vals Finger ihm beinahe den Atem ab, und dennoch bewegte Alexey sich kein Stück von ihr weg.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was die Eiskönigin gegen ihn in der Hand hatte, um ihn zu solchen extremen Taten zwingen zu können. Doch, was auch immer es war, es ließ ihm ganz offensichtlich keine andere Wahl. Ebenso wenig wie ihr, wenn sie nicht auch noch Cearas Leben gefährden wollte.
Was also sollte sie tun?
Die Antwort darauf lag klar vor Vals Augen, als sie erneut an Vanadis' tränenüberströmtes Gesicht erinnert wurde, kurz bevor Alexey ihr auf den Befehl der Eiskönigin hin den Kopf abgeschlagen hatte, um Val für ihre Verfehlungen zu bestrafen.
Die blonde Frau war in Vals Beisein vergewaltigt worden. Bestimmt nicht zum ersten Mal, so wie sie sich stumm in ihr Schicksal gefügt hatte. Vermutlich mit dem Wissen, dass ihre Weigerung sie sehr viel kosten könnte. Vielleicht das Leben einer Freundin oder sogar ihr eigenes. Was auch immer es gewesen war. Das hatte sie nicht riskieren wollen. Ganz egal, wie es ihr selbst dabei ging.
Trotz ihrer jungen Jahre war Vanadis unglaublich stark gewesen. Selbstlos, mitfühlend und ...
Val ließ Alexey los.
Zwar wusste sie nicht, wie stark sie selbst sein konnte, nach allem, was ihr Stiefvater ihr angetan hatte. Nach all den Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte und vor denen sie sich auch jetzt noch fürchtete. Doch für sie stand fest, dass sie ihr eigenes Leben niemals über das von Ceara stellen würde und mehr musste sie letztendlich auch nicht wissen, um ihre Entscheidung zu treffen.
Wie schlimm es auch werden würde, Val hatte nicht vor, sich davon unterkriegen zu lassen. Sie musste einfach durchhalten. Egal wie. Hauptsache sie konnte zumindest für diese Nacht Cearas Leben beschützen. Alles andere war im Moment nicht von Bedeutung.
Das Gesicht von Alexey abgewandt und mit einem unterdrückten Zittern in der Stimme, besiegelte Val am Ende leise ihren Entschluss.
„Also gut. Tu es ...“