Jedes Mal überkam Alexey tiefe Frustration, sobald er ungesehen und mühelos die Villa verließ. Es wäre für ihn ein Leichtes, in der Nacht zu verschwinden, ohne je zurückzukehren – wäre er nicht an diesen Ort gekettet, so wie er an Hedera gebunden war.
Wie genau das alles zusammenhing verstand Alexey bis heute nicht. War sie hier, schien sie das Zentrum seines unsichtbaren Gefängnisses zu sein. War sie jedoch fort, hielt der Ort selbst ihn gefangen. Egal, an welchem Ort sie sich längerfristig niederließen. Hedera sorgte stets zuerst dafür, dass er ihr nicht auf die eine oder andere Art entfliehen konnte.
Wäre es nicht so praktisch, die vielen Leichen, die Hedera im Laufe der Jahre verursachte, außerhalb der Villa loszuwerden, wahrscheinlich dürfte Alexey nicht einmal das Gebäude verlassen. So jedoch musste sie seine unsichtbare Leine weit genug lockern, um ihn ein paar Meilen weit in alle Richtungen kommen zu lassen.
Aus diesem Grund überkam Alexey auch noch keine Freude, als er in der Nähe der Höhlen langsamer wurde. So weit war er stets gekommen. Die letzten Jahre schon, weshalb er seinen bevorzugten Eingang zu den Höhlen auch ignorierte und stattdessen daran vorbei ging.
Immer noch konnte Alexey nicht so recht fassen, was ihm mit seinen Haaren gelungen war. Wie oft hatte er versucht, sie sich mit bloßen Händen auszureißen? Wie oft war er gescheitert?
Valeria mochte noch ihre Zweifel haben, doch er war sich absolut sicher. Sie hatte ihn befreit. Vielleicht nicht vollständig, doch sie hatte die Auswirkungen einiger grausamer Blutrituale rückgängig gemacht. Zumindest fühlte es sich so an.
Alexey verlangsamte seine Schritte noch weiter, als er zielstrebig auf einen Baum von vielen zuging, der ihm jedoch sehr viel vertrauter als all die anderen Bäume darum herum war. Die vergangenen Jahre hatten ihn wachsen lassen, doch Alexeys Markierung in der Rinde war immer noch deutlich zu erkennen.
Hier war die Grenze. Weiter als bis hierher war er die letzten Jahre nicht mehr gekommen, nachdem sein Bewegungsradius mit jedem Blutritual immer weiter geschrumpft und schließlich an dieser Stelle zum Stillstand gekommen war.
Sie lebten etwa seit zwanzig Jahren in dieser Villa. Das entsprach sieben Blutritualen – das letzte miteingeschlossen. Seit drei Blutritualen war der Radius nicht mehr kleiner geworden, auch wenn Alexey es nach dem letzten Ritual nicht direkt ausgetestet hatte. Es musste dennoch nichts zu bedeuten haben, dass er im Moment bis zu seiner letzten Markierung gehen konnte.
Entscheidend war viel mehr, was geschah, wenn er an dem Baum vorbei ging, um zur nächsten Markierung zu gelangen.
Obwohl er sich fast sicher war, was seine Annahme anging, zögerte Alexey einen Moment, ehe er schließlich den entscheidenden Schritt tat und … nichts geschah. Der erste Schritt war ebenso unspektakulär wie der zweite und dritte.
Alexey fühlte nichts. Absolut gar nichts, als hätte es ihn beim letzten Mal nicht bis an den Rand des Wahnsinns getrieben, als er gewaltsam versucht hatte, sich auf allen Vieren vorwärts zu schleppen, ohne je die nächste Markierung erreicht zu haben.
Was zuvor die reine mentale und körperliche Folter gewesen war, fühlte sich nun wie ein angenehmer Spaziergang durch den Wald an.
Alexey konnte das Zittern seiner auflodernden Freude kaum bändigen, als er sein Tempo wieder beschleunigte. Er musste sehen, was bei der nächsten Markierung geschah. Ob er dort aufgehalten wurde, oder sein Vertrauen in seine kleine Kriegerin absolut begründet war und sie ihm am Ende wahrhaftig die Freiheit geschenkt hatte.
Der Gedanke daran, dass sie vielleicht doch schon sehr bald fliehen und er sie und ihr Kind endlich in Sicherheit bringen konnte, beflügelte seine Schritte noch mehr.
Die nächste Markierung befand sich einige Meilen weiter an einem unauffälligen Stein. Alexey zögerte nur noch einen kurzen Moment, ehe er daran vorbei ging. Auch dieses Mal geschah nichts. Er fühlte absolut gar nichts. Es war, als hätten ihn niemals unsichtbare Ketten zurückgehalten.
Alexey begann schließlich zu laufen. Die Zeit drängte. Der Morgengrauen war nah, doch noch sehr viel drängender war der Wunsch nach Klarheit, also blieb er bei den nächsten Markierungen nicht einmal mehr stehen, sondern beschleunigte seine Schritte noch weiter, bis er etliche Meilen später die allererste Markierung sah, die er vor zwanzig Jahren an diesem Ort angebracht hatte.
Auch jetzt drosselte er sein Tempo nicht, obwohl ihn sogleich unglaubliche Qualen ereilen könnten, doch Alexey musste einfach absolut sicher sein, seine Ketten gesprengt zu haben, bevor er sich dieser Hoffnung endgültig hingeben konnte. Darum lief er weiter. Immer weiter, bis er schließlich aus ganz anderen Gründen als Hederas Zwang ins Straucheln geriet und schließlich auf die Knie sank.
Mit einem Mal überwältigten ihn die Emotionen. Dieses Gefühl, nicht mehr in einem Käfig zu sitzen, sondern Laufen zu können, ohne irgendwann gegen eine unsichtbare Mauer zu stoßen … Nur jemand, der selbst jahrelang eingesperrt gewesen war und schließlich in die Freiheit entlassen wurde, konnte das nachempfinden.
Es war ebenso beängstigend wie befreiend, keine Ketten mehr zu spüren.
Alexey lachte. Er lachte und fluchte und begann wie ein kleines Kind zu weinen.
So unendlich lange schon war er ein Gefangener. Ein Sklave. Er war völlig allein und dadurch unendlich verzweifelt gewesen. Niemand hatte ihm helfen können oder es überhaupt gewollt. Tag für Tag, Jahr um Jahr war er dafür bestraft worden, einer jungen Frau in Not geholfen zu haben. Aus seiner Sorglosigkeit und seinem Mitgefühl war ihm ein Strick gedreht worden, der sich in Ketten verwandelt hatte, die ihn bis heute unten hielten. Besser gesagt, unten gehalten hatten.
In Hederas Augen war er keine Person mehr gewesen, sondern ein Gebrauchsgegenstand, mit dem sie nach Lust und Laune spielte, selbst wenn er ab und an kaputt ging.
Doch dann trat vollkommen unverhofft diese kleine Kriegerin in sein Leben und änderte einfach alles. Nicht nur, dass sie Alexey gezeigt hatte, wie es sich anfühlte, wieder als richtige Person wahrgenommen zu werden, sie war mit ihrer Besonderheit am Ende sogar der Schlüssel zu seiner Freiheit. Obwohl oder gerade weil Valeria eigentlich zu Jenen gehörte, die er so sehr zu hassen gelernt hatte. Doch nicht sie. Ihr allein galt seine ganze Liebe.
Allzu lange konnte Alexey sich seinen Emotionen nicht hingeben, denn schon bald brannte das erste Morgenlicht in seinen Augen und zwang ihn damit vorübergehend zurück in sein Gefängnis.
Auch, wenn er vorerst den Rückzug antreten musste, so war Alexey nun entschlossener denn je, seine kleine Kriegerin von diesem verfluchten Ort fortzubringen. Je eher, desto besser. Denn der Zeitpunkt könnte nicht günstiger sein, nun, da Hedera fort und somit nicht dazu im Stande war, ihn mit ihren Worten zu bezwingen. Zwar könnte sich seit letzter Nacht auch in dieser Sache etwas geändert haben, doch Alexey wollte es gar nicht erst herausfinden.
***
Valeria stellte die kleine Öllampe, die sie sich von Alexey geborgt hatte, leise auf die schlichte Holzkiste in der Mitte des Raumes. Ceara schlief noch tief und fest. Kein Wunder. Sie sah ziemlich fertig aus. Ob ihr jemand etwas getan hatte und sie deshalb geweint hatte? Der Perverse konnte es schon mal nicht gewesen sein, der würde wohl so schnell keine Frau mehr anfassen, aber hier liefen auch andere Scheißkerle rum, die für das Nein einer Frau überhaupt nichts übrig hatten.
Leise zog Val sich ihr Nachthemd an und Alexeys Decke darüber, ehe sie zu ihrer Freundin ging und sich vor dem Strohsack, der ihr als Bett diente, niederließ.
„Hey, Kleine …“ Val strich ihrer Freundin eine der wilden roten Locken aus dem Gesicht. Sie als klein zu bezeichnen, war eigentlich nicht passend, da Val in ihrem aktuellen Körper fast noch einen Kopf kleiner als Ceara war. Doch im Grunde genommen könnte sie sogar die Großmutter dieses kleinen Rotschopfs sein, auch, wenn es sich absolut nicht so anfühlte. Ceara war noch sehr jung, aber kein kleines Mädchen mehr. In dieser Zeit wäre sie unter anderen Umständen wahrscheinlich schon längst verheiratet und hätte ein paar eigene Kinder am Rockzipfel hängen. Allerdings hatte das Schicksal andere Pläne für sie vorgesehen, die sich nun wieder ändern könnten. Val hoffte es, doch glauben konnte sie es immer noch nicht.
„Ceara, wach auf. Wir reden müssen“, versuchte es Val schon ein wenig nachdrücklicher, nachdem ihre Freundin zuvor nicht im Geringsten reagiert hatte.
Ceara verzog daraufhin das Gesicht, blinzelte kurz und zog sich dann mit einem nicht sehr freundlichen Brummen vor Val zurück.
„Was willst du?“ Der Rotschopf setzte sich auf und rieb sich verschlafen die Augen, allerdings sah Ceara nicht sehr begeistert aus, was ihr brummiger Tonfall zuvor schon hatte vermuten lassen.
Es ging also offenbar um Val oder um etwas das sie getan oder nicht getan hatte.
Val ließ sich auf ihre Fersen zurücksinken und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie verstand das Latinum zwar nun schon sehr viel besser, aber sprechen war eine andere Herausforderung. Es wäre wirklich leichter, wenn sie nicht auch noch um jedes Wort kämpfen müsste.
„Alles in Ordnung … mit uns?“ Val deutete zwischen Ceara und sich hin und her, woraufhin ihre Freundin noch düsterer dreinschaute.
„Wieso bist du überhaupt hier?“
Die Gegenfrage überraschte Val. Hatte sie etwas nicht mitbekommen? Ceara war eindeutig sauer auf sie. Nur wusste sie nicht, was sie ihrer Freundin getan hatte. Wann hätte sie auch die Zeit dazu haben sollen?
„Was … geschehen? Warum du … wütend?“ Gott, wie sie es hasste, nicht die richtigen Worte zu finden!
„Geh!“, fuhr Ceara sie plötzlich an und zeigte zur Tür. „Geh zu diesem … diesem Mann und lass mich in Ruhe!“
Darum ging es also. Wahrscheinlich hätte Val gestern wirklich noch bei Ceara vorbeischauen sollen, doch so wie sie ausgesehen hatte … Nein, unmöglich. Wie hätte sie ihrer Freundin die Wunden erklären sollen, die heute nicht mehr zu sehen waren? Selbst den beiden Wachen musste das seltsam vorkommen, von dem Perversen ganz zu schweigen! Auch da würde Val wahrscheinlich noch gewaltig in Erklärungsnot kommen, obwohl sie sich jetzt darüber nicht unnötig den Kopf zerbrechen konnte.
„Ceara …“, versuchte Val es in ruhigem Tonfall, da es nichts brachte, ihre eigenen Sorgen und Ängste hier auch noch reinzubringen. „Es tut mir leid wegen … gestern. Der …“ Sie schluckte die übliche Bezeichnung für den Perversen runter. „Der Dominus hat mir … Schmerz geben… Ich haben bluten. Kein schöne Sache. Ich wollte nicht, dass du … das sehen.“
Sofort wurden Cearas Gesichtszüge weicher, als sie trotz Vals Gestammel zu verstehen schien. Doch schon eine Sekunde später änderte sich der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin erneut und dieses Mal war er ganz und gar nicht mehr schön anzusehen. Ceara verschloss sich nicht nur vor ihr, sondern sie wirkte sogar richtiggehend … angepisst. Das war das passende Wort.
„Der Dominus hat dir also Schmerzen zugefügt? Hat dich bluten lassen? Ich glaube, du lügst! Sieh dich an, keine Wunden!“ Cearas stechender Blick wanderte mehrmals an Val auf und ab, bis er schließlich für einen kurzen Moment bei einer Region hängen blieb, wo man natürlich nicht sehen konnte, ob Val verletzt war oder nicht, obwohl der Perverse diese Stelle nur allzu gerne so stark in Anspruch nahm, dass es tatsächlich schmerzte und bisweilen blutete.
„Du hast bei ihm gelegen! Bei diesem … Monster. Ich habe euch gehört! Wie kannst du das, nachdem der Dominus …? Ich glaube dir nicht!“
Val zog sich die Decke bis über ihre Schultern. Das Gespräch wurde von Augenblick zu Augenblick unangenehmer. Vor allem das Wissen, dass Ceara offenbar gehört hatte, wie sie letzte Nacht im Lustrausch über Alexey hergefallen war. Natürlich fiel es ihrer Freundin da schwer, ihr zu glauben. Welche Frau wollte schon Sex haben, nachdem sie von einem Mann geschlagen und vergewaltigt worden war? Zumindest war es das, was Ceara annahm.
„Ceara, der … Dominus hat nicht …“ Sie schüttelte den Kopf. „Er hat mich nur … schlagen. Meine Nase bluten. Überall Blut und … ich war nackt. Schrecklicher Anblick.“
Ceara schnaubte, allerdings war ihr Tonfall nicht mehr gar so aggressiv. „Was denkst du von mir? Ich habe mich um dich gekümmert, als du nicht einmal stehen konntest. Als ich nicht wusste, ob du die Nacht überlebst. Wie schlimm kann es gestern gewesen sein, wenn du bei diesem … Mann liegen kannst? Wie kannst du das … überhaupt wollen?“
Val sackte das wild klopfende Herz in die Magengrube. Diese wenigen Sätze bedeuteten so viel mehr als sich Ceara vielleicht bewusst war und zugleich verstand Val sie nun sehr viel besser. Vor allem auch, worum es hier wirklich ging.
„Ceara, letzte Nacht … Mir gehen sehr schlecht. Deine Schultern so schmal und du noch so jung und meine Sorgen so schwer … Ich wollte nicht auf dich laden.“ Selbst jetzt konnte sie ihrer Freundin nicht einmal annähernd alles anvertrauen, was es zu wissen gab. Es wäre wahrscheinlich zu viel für den kleinen Rotschopf.
„Du bis jünger als ich!“, widersprach sie und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sehr sie damit daneben lag. Allerdings konnte ihr Val in dem Punkt nicht wirklich widersprechen, da die Wahrheit nur schwer zu erklären wäre.
„Und bisher haben wir aufeinander aufgepasst“, führte Ceara weiter an. „Aber nun gehst du lieber zu ihm! Diesem Verrückten. Fürchtest du nicht, er könnte dich verletzten? Dich ebenfalls schlagen oder töten?“
„Nein.“ Val schüttelte heftig den Kopf. „Alexey ist … nicht so. Er ist guter Mann.“
„Ich konnte in gestern schreien hören. Er hat irgendwas kaputt gemacht und wie verrückt gebrüllt. Das ist nicht normal!“
„Ich weiß.“ Val seufzte. Sie wünschte so sehr, sie könnte Ceara alles erzählen, damit sie es verstehen konnte und sich nicht den Kopf über Dinge zerbrach, die so aus dem Zusammenhang gerissen keinen Sinn ergaben.
„Hör zu, Ceara“, versuchte es Val schließlich anders. „Alexey ist gefangen wie wir. Ein Sklave. Die … Domina zwingt ihn … schreckliche Dinge tun. Das ist nicht einfach. Du kennst diese Gefühl … Hilflos. Einsam. Zweifel. Wütend. Das alles für sehr, sehr lange Zeit. Es … ändern Menschen, nicht wahr?“
Ceara nickte widerstrebend, nachdem sie einen Moment schweigend über Vals Worte nachgedacht hatte. Vielleicht half diese Erklärung tatsächlich etwas, damit sie Alexey zumindest ansatzweise verstehen konnte und warum auch er manchmal die Kontrolle verlor. Es war nur allzu menschlich, selbst für einen Bluttrinker wie ihn.
Da ihre Freundin nicht mehr den Eindruck machte, als wollte sie Val jeden Moment ins Gesicht springen, wagte sie es nach kurzem Zögern zu Ceara auf den Strohsack zu kommen und sich neben den Rotschopf zu setzen. Einen Moment wartete Val, ob das ihrer Freundin überhaupt recht war, ehe sie auch noch die Decke ausbreitete und sie um Cearas Schultern legte.
Kurz fühlte sich ihre Freundin wie ein steifes Brett an, doch dann bröckelte der Widerstand völlig und Ceara schlang die Arme um sie, während sie sich an sie kuschelte. Das viel zu zarte Mädchen zitterte dabei wie verrückt, sodass Val sie noch inniger in die Arme schloss.
Auch wenn Val es nicht mit Absicht getan hatte, tat es ihr leid, dass sie Ceara solche Sorgen bereitete und ihr immer wieder zumutete, mit all dieser Scheiße hier alleine klar zu kommen. Denn Vals Worte über Alexey hatten ihr auch selbst etwas klar gemacht: Ceara ging es wie ihm. Wie ihnen allen, die hier gefangen waren. Nur im Gegensatz zu Val hatte sie keinen Mann an der Seite, der sie wieder aufrichtete, wenn sie am Boden war. Sie hatte die meiste Zeit nicht mal ihre Freundin, um sich mit Gesprächen von der allgegenwärtigen Scheiße an diesem Ort abzulenken. Ganz zu schweigen davon, dass sie nicht ihre Sorgen teilen konnte. Was Ceara auch selten genug tat. Sie war nicht der Typ Mensch, der großartig darüber sprach, was sie im Inneren wirklich bewegte. Als hätte sie gelernt, dass es ohnehin keinen Sinn hatte, mit etwas zu hadern, das sie nicht ändern konnte. Vielleicht war es auch einfach nur eine Taktik, um mit so einem Leben irgendwie klar zu kommen.
„Es tut mir leid, Ceara. Dass wir so wenig Zeit zu reden, obwohl so viel zu reden es gibt. Ich wünsche, es wäre anders. Ich wünsche … dass wir frei. Dass wir reden können ganze Nacht. Dass wir gemeinsam lachen und weinen. Dass wir diesen Ort vergessen irgendwann…“
Je mehr zusammengewürfelte Worte Val sagte, umso inniger schien Ceara sich an sie zu drängen, sodass Val ihr schließlich einen liebevollen Kuss auf die Stirn hauchte und ihr zärtlich durch die weichen Locken fuhr. „Wenn wir hier fliehen, ich will, dass du kommst mit uns. Mit Alexey und mir.“
Ceara erstarrte völlig für einen Moment, ehe sie sich ein wenig von Val löste, um sie anzustarren. „Fliehen? Wie? Das ist verrückt! Wenn wir gefasst werden, ist das unser Tod. Verstehst du das? Sie werden uns als Strafe foltern und töten!“
Val lächelte freudlos und strich Ceara auch weiterhin beruhigend über die Wange. „Früher oder später, sie töten uns hier, oder nicht? Kore und Vanadis … Ich habe nicht vergessen. Dieser Ort bedeuten Tod und jeder Tag ist Folter. Wir müssen es wenigstens versuchen … Was wir verlieren?“
Val hatte sogar eine ganze Menge zu verlieren, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie alles verlor, das ihr etwas bedeutete, stieg an diesem Ort gewaltig. Wenn sie von hier flohen, hatten sie wenigstens die Chance auf ein besseres Leben. Ganz anders sah es aus, wenn sie hier blieben. Nach allem was Alexey und sie in nur einer Nacht angerichtet hatten. All das würde bei der Eiskönigin Fragen aufwerfen, die keiner von ihnen beiden wirklich beantworten wollte.
„Ich habe Angst …“, gestand Ceara schließlich und kuschelte sich wieder an Val. „Die vielen Wachen … und die Domina … sie wird uns jagen! Sie verzeiht nicht und sie vergisst nicht.“
Val war sich dessen nur allzu bewusst. Die Schlampe würde Ceara und sie vermutlich noch eher ziehen lassen, weil sie den Aufwand nicht wirklich wert waren, doch Alexey würde sie niemals freiwillig gehen lassen. Er war einfach viel zu wertvoll für sie und gerade deshalb würden sie selbst nach einer gelungenen Flucht wohl kaum ihren Frieden finden. Nicht, solange dieses verdammte Miststück noch lebte.
„Ich habe auch Angst“, gab Val offen zu. „Aber noch mehr Angst, hierbleiben. Denn da … ist noch mehr …“
Sie war gerade dabei, Luft zu holen, um Ceara von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, als die Tür zu ihrer Kammer aufflog und sie beide wie aufgeschreckte Mäuse auseinander huschten.
Die boshafte Schnepfe von einer Sklaventreiberin schien zufrieden mit ihrer morgendlichen Überraschungsaktion zu sein. Kurz dachte Val bei dem gemeinen Lächeln, das die Furie auf den Lippen hatte, hätte sie etwas über die ausgesprochenen Fluchtgedanken gehört, obwohl das doch sehr unwahrscheinlich war.
Nein, die Frau ergötzte sich einfach daran, sie wie ängstliche Hühner aufgescheucht zu haben, was Val zumindest in diesem Punkt ein wenig beruhigte. Allerdings wollte sich ihr wild klopfendes Herz gar nicht mehr beruhigen bei dem Gedanken, dass sie schon bald herausfinden würde, in wieweit sie dem Perversen wirklich geschadet hatte und ob sie dafür zur Rechenschaft gezogen wurde oder er auch weiterhin keinen Zusammenhang herstellen konnte. Val hoffte natürlich auf Letzteres, gab sich aber nicht der Illusion hin, dass sie ewig damit davonkommen würde.
***
Sich an diesem Morgen für den Perversen herrichten zu lassen, obwohl es kaum nötig sein würde, extra hübsch für ihn auszusehen, war eine unglaubliche Belastungsprobe für Vals Nervenkostüm. Sie konnte kaum stillhalten und erwartete jeden Moment, dass Wachen den Raum stürmten, um sie abzuholen, weil sie ihr auf die Schliche gekommen waren. Dabei hatte der Perverse letzte Nacht am Ende gar nicht so übel ausgesehen. Vielleicht war es ja nicht so schlimm, wie sie befürchtete?
Je mehr Zeit verging, in der nichts geschah, umso mehr beruhigte Val sich tatsächlich. Es hatte auch keinen Sinn, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, das vielleicht gar nicht eintrat.
Das sagte Val sich zumindest immer wieder in Gedanken und sie war auch schon fast dabei, es selbst zu glauben, während sie sich mit der Sklaventreiberin auf den Weg zu den Räumen des Perversen befand, als sich ihnen schwere Schritte schnell näherten und Val jegliche Illusion raubten.
Eine der Wachen von gestern kam ihnen im Laufschritt entgegen und ließ sogar die Sklaventreiberin verblüfft zur Seite ausweichen. Sie rief dem Kerl hinterher, was denn los sei, doch wirklich eine Antwort bekam sie keine. Es war offenbar keine Zeit für Erklärungen.
Obwohl Val einen Anflug der Erleichterung verspürte, da die Wache an ihnen vorbei gelaufen war, anstatt sie festzunehmen, hatte sie ein richtig beschissenes Gefühl bei der Sache. Umso mehr weigerten sich ihre Beine wieder in Bewegung zu kommen.
Da es die Sklaventreiberin offenbar nun auch sehr eilig hatte, in die andere Richtung zu laufen, um zu sehen, was da los war, packte das Weib sie schließlich am Handgelenk und zerrte Val grob mit sich.
Vor der geschlossenen Tür zu den Räumen des Perversen wurden sie von der anderen Wache aufgehalten. Val war so nervös, dass sie dem raschen Wortwechsel zwischen der Sklaventreiberin und der Wache nicht folgen konnte. Allerdings hörte sie deutlich, wie Rashads Name fiel. Val steckte also tatsächlich tiefer in der Scheiße, als angenommen, wenn der Medikus gerufen werden musste. Und tatsächlich konnte Val gedämpft von der Tür jemanden dahinter husten hören. Es klang auf keinen Fall sehr gesund.
Ein weiterer kurzer Wortwechsel folgte, ehe die Wache zur Seite trat und die Sklaventreiberin einließ, die Val immer noch so fest gepackt hielt, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als mitzukommen.
Während sie an der Wache vorbei gezerrt wurde, entging Val der fragende Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes nicht. Er war nicht direkt überrascht oder verwirrt, wirkte aber, als würde er sich ein wenig über Vals Erscheinungsbild wundern. Zu ihrem Glück hatte der Kerl aber gerade andere Probleme, weshalb er wohl nicht näher darüber nachdachte, dass sie gestern eigentlich ziemlich übel zugerichtet worden war.
Auch Val konnte nicht näher darüber nachdenken, ob sie aufgeflogen war, denn kaum, dass sie in den Raum gezerrt wurde, schlug ihr der Gestank von Krankheit und Tod mit solch einer überwältigenden Intensität entgegen, dass sie sich die freie Hand vor den Mund schlagen musste, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben.
Auf dem Weg zum Bett des Perversen ließ die Sklaventreiberin sie endlich los, um zu Tiberius zu eilen, der sich gerade wie eine aufgebrachte Glucke über seinen Schützling beugte.
Val blieb wie angewurzelt stehen, als der Leibsklave den Blick auf seinen Herrn freigab, um sich der Sklaventreiberin zuzuwenden und einige Worte mit ihr zu wechseln.
Sie bekam absolut nichts von dem Gespräch mit. In Vals Ohren rauschte das Blut so laut, dass sie nicht einmal den Hustenanfall hören konnte, mit dem der Perverse kurz darauf zu kämpfen hatte. Sein Anblick schockierte sie zutiefst.
Wenn Val nicht ganz genau wüsste, dass der Todkranke dort im Bett der Bastard war, der sie gestern mit seinem Gürtel geschlagen hatte und auch noch vergewaltigen wollte – sie hätte ihn auf keinen Fall wiedererkannt.
Sein Gesicht war so stark aufgeschwemmt, dass er aussah, als hätte er über Nacht das doppelte seines Körpergewichts zugelegt. Dazu zahlreiche dunkle Einblutungen unter der Haut. Das Weiß seiner Augen war inzwischen vollkommen gelb und was er da hustete war eindeutig Blut.
Val war also nicht bloß ein wandelnder Pesthauch, sie war ein verdammtes Krebsgeschwür auf zwei Beinen!
Hinzu kam dann wohl auch noch, dass sie wunderbar Schlaganfälle auslösen konnte, denn bei genauerem Hinsehen fiel Val auf, dass die linke Gesichtshälfte des Perversen völlig ausdruckslos blieb und er sich auch nur träge mit den Gliedmaßen seiner rechten Seite bewegte. Er wand sich, wie Val erkannte. Nicht nur unter dem Hustenanfall, sondern offenbar auch unter Schmerzen. So wie der Kerl aussah, wunderte sie das kein Stück. Sie gab dem Bastard vielleicht noch ein paar Stunden, höchstens einen Tag.
Doch obwohl sie das freuen sollte, war das Gegenteil der Fall. Val fühlte sich absolut schrecklich. Das Wissen, dass sie das angerichtet hatte, erschreckte sie fast zu Tode.
Völlig unvermittelt gaben Vals wackeligen Beine unter ihr nach und sie fiel auf die Knie, bevor sie sich tatsächlich übergeben musste. Zum Glück aller war ihr Magen jedoch leer, also war es mehr ein trockenes Würgen, doch es reichte, um alle Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen.
„Du nutzlose Göre!“, fluchte die Sklaventreiberin auch schon los, während sie zu ihr eilte und Val kurz darauf eine schallende Ohrfeige verpasste, ehe sie sie wieder auf die Beine zerrte. „Ab in die Küche mit dir, du bist hier zu nichts nütze!“
„Wartet!“
Die Sklaventreiberin war gerade dabei, Val aus dem Raum zu schieben, als sie überrascht stehen blieb und sich zu Tiberius umdrehte. Val tat es ihr gleich und sah, wie der Leibsklave sich zu seinem Herrn beugte, der sie mit stechendem Blick fixierte, während er sich mit Worten abmühte, die sie nicht verstehen konnte.
„Azuro!“ Tiberius‘ Miene hatte sich, wenn überhaupt möglich, noch weiter verfinstert, während er sich wieder aufrichtete.
„Ja?“ Die Wache betrat hinter Val den Raum.
Dann kam der Moment, der Vals Schicksal endgültig besiegelte. Tiberius streckte den Arm aus und deutete anklagend auf sie. „Nimm diese verfluchte Sklavin in Gewahrsam und bring sie ins Peristyl*! Dort soll sie verbleiben, bis unsere Domina eintrifft, um darüber zu urteilen, was mit ihr geschehen soll, nachdem sie den Dominus vergiftet hat!“
Für einen Moment herrschte fassungsloses Schweigen im Raum, dann wurde es richtig hektisch.
Azuro nahm sie am Oberarm und war gerade dabei, sie mit sich zu ziehen, da ging völlig überraschend die Sklaventreiberin auf Val los, um ihr noch ein paar zu knallen und dabei Gift und Galle zu spucken.
Val war zu benommen von allem, um großartig mitzubekommen, was das Weib ihr an den Kopf warf. Sie ließ sich auch widerstandslos abführen, als die Wache sie endlich von den Anfeindungen der Sklaventreiberin befreien konnte. Jetzt zu kämpfen hätte ohnehin nichts gebracht, zumal ihr im Augenblick auch absolut nicht danach war.
Sie war der wandelnde Tod auf zwei Beinen …
Der Gedanke zog immer wieder seine Kreise in Vals Kopf. Mit bloßen Händen konnte sie jemanden so krank machen, dass er innerhalb kürzester Zeit an multiplem Organversagen starb.
Was war sie nur für ein Monster und in welche Scheiße hatte sie sich dadurch geritten?
* Ein rechteckiger Hof, der von allen Seiten von durchgehenden Säulenhallen umgeben ist.