Es war ein Albtraum. Ein absoluter Albtraum!
Alexey bekam keine Luft. Egal, wie heftig er auch atmete, er bekam überhaupt keine Luft! Was vielleicht an dem riesigen Felsen liegen könnte, der auf seiner Brust lag und ihm das Atmen so schwer machte. Oder an dem unsichtbaren Ding, das sich offenbar um seinen Hals geschlungen hatte, um ihn zu erwürgen.
Das war jedoch noch nicht das Schlimmste. Alexey könnte damit leben, zu ersticken, aber nicht damit, was er … Wie er Valeria … Er hatte sie … Er …
Sein Kopf krachte mit voller Wucht gegen den Stein hinter ihm, was ein unschönes Geräusch ergab, als er vor Valerias unerwarteter Berührung zurückschreckte. Mit einem Mal war sie da und berührte mit ihren Händen sein Gesicht. Sah ihn besorgt an. Sprach mit ihm, doch er verstand nicht, was sie sagte. Er sah nur flüchtig, wie sich ihre Lippen bewegten, doch er konnte nichts hören. Oder klar denken. Oder irgendwie auf sie reagieren. Dafür starrte er sie an.
Sie blutete. An der Schulter. Nicht allzu schlimm. Er hatte nur ihren Muskel erwischt. Hatte sofort aufgehört, als er aufgewacht war und begriffen hatte, was er gerade …
Dabei hatte der Traum so schön begonnen. Doch genau das war es gewesen. Nur ein Traum. Einer, der in der wirklichen Welt keinen Bestand hatte.
Valerias Hände wanderten weiter. Sie war so nah. Ihr Gesicht nahm fast sein gesamtes Sichtfeld ein und doch starrte er immer noch auf die Stelle, an der er sie gebissen hatte.
Entfernt fühlte er ein Brennen am Hinterkopf, als eine ihrer Hände ihn dort berührte. Sie fluchte, das sah er ihrem Gesicht an, doch auch jetzt konnte er es nicht hören. Es war, als wäre sein Kopf unter Wasser. Nichts kam zu ihm durch, doch seine Augen funktionierten.
Als sie ihre Hand zurückzog, war da Blut an ihren Fingern. Nicht ihres. Seines.
Sie glitt von seiner Bettstatt, drehte ihm den Rücken zu. Jetzt konnte er die Zwillingswunden an ihrer Schulter besser sehen. Sie bluteten immer noch. Valeria schien es gar nicht zu bemerken. Dachte er zumindest. Bis sie zusammenzuckte, als sie die Schüssel von gestern vom Boden aufhob und auf den Tisch stellte. Instinktiv berührte sie die Stelle und versuchte etwas zu sehen. Bemerkte dabei zu spät, dass sie ihre blutbesudelten Finger benutzt hatte. Gut. Das war … gut.
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie wirkte irritiert, ließ sich davon aber nicht von ihrem Tun abbringen. Sie nahm ein frisches Tuch und goss Wasser in die Schüssel. Danach wischte sie sich kurz über die Stelle an der Schulter. Es war nichts mehr zu sehen, was sie kurz innehalten ließ. Dann schüttelte sie den Kopf. Versuchte offenbar, sich wieder zu konzentrieren.
Plötzlich ließ das Gewicht auf seiner Brust ein wenig nach. Alexey bekam wieder etwas mehr Luft, kämpfte jedoch immer noch darum.
Ihm war schwindlig. Sein Schädel dröhnte. Ihm war kalt. Heiß. Alles zugleich.
Er blinzelte. Die Sicht verschwamm ihm immer wieder. Also blinzelte er erneut.
Auf einmal war Valeria wieder da. Er spürte etwas Kühlendes auf seinem Hinterkopf. Sie hielt es fest, während sie ihm mit der anderen Hand irgendeinen Stoff über die Schultern und den Schoß zog. Danach sah sie ihn an. Wischte ihm immer wieder übers Gesicht. Zunächst über den Mund und das Kinn. Dann die Wangen.
Sie sprach auf ihn ein. Ihre Lippen bewegten sich. Seine Ohren weigerten sich. Alexey hörte nichts. Er bemerkte nur, wie der Druck auf seine Brust langsam nachließ. Die Schlingen um seinen Hals sich lockerten und dafür einem stacheligen Knoten darin Platz machten. Wie er ruhiger atmete. Nein. Nicht ruhiger. Leichter, dafür ruckartig. Als hätte er eine Art Schluckauf oder … Schluchzen. Er … schluchzte.
Mit einem Schlag waren die Geräusche wieder da. Ihr Herzschlag. Sein Herzschlag. Sein Schluchzen.
Alexey begann heftig zu zittern, als Valeria die Arme um seinen Nacken schlang, dabei immer noch das Tuch an seinem Hinterkopf festhaltend, und sich an ihn drückte.
„Ist schon gut. Sch-sch. Es ist alles gut, Alexey. Mir geht es gut. Beruhige dich. Alles ist in Ordnung.“
Ihr Duft. Ihre Gefühle. Alexey blinzelte noch heftiger. Er wollte irgendwas tun. Sich bewegen. Etwas sagen. Nichts ging.
„Es tut mir leid. So wahnsinnig leid.“ Valerias Küsse schienen auf seinem Hals zu brennen. Kleine, feurige Berührungen. „Ich habe mich nur erschrocken. In einem Moment war ich bei dir, im nächsten … Du hast mir nicht wehgetan. Alles ist gut.“
Doch, das hatte er. In seinem Wahn hatte er ihr wie ein wildes Tier die Kehle aufgerissen. Sie erinnerte sich. Genau wie er. Allerdings wog sein wahres Vergehen noch viel schwerer.
Er hätte sie beinahe getötet. Nicht in seinem Wahn, weil der Blutdurst ihn kontrolliert hatte, sondern weil Hedera ihn dazu gezwungen hatte und er nicht stark genug gewesen war, dagegen anzukämpfen.
Er hatte es versucht. Bei den verfluchten Göttern, und wie er es versucht hatte! Ihm wäre vor Anstrengung beinahe der Schädel geplatzt, doch seine Hand hatte kein Zaudern oder Zögern gekannt. Sie hatte ihm nicht gehorcht. Als wäre sie gar kein Teil mehr von ihm gewesen.
Valeria könnte tot sein. Wäre tot, wenn Hedera ihren Befehl am Ende nicht zurückgenommen hätte …
Die Erkenntnis brach erneut über Alexey herein. Mit der Macht eines ausbrechenden Vulkans. Er konnte sich nicht bremsen. Packte Valeria, zog sie auf seinen Schoß und schlang die Arme um sie. Er hielt sie fest. Versuchte sie vor der Welt mit seinem Körper abzuschirmen. Dabei zitterte er wie ein neugeborenes Fohlen und wiegte sie wie ein Verrückter. Vor und zurück. Vor und zurück. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Wollte nicht wahrhaben, wie schnell man sie ihm wieder wegnehmen konnte. Er wollte sie überhaupt nicht mehr hergeben. Sie ganz für sich alleine haben, als wäre sie ein Gegenstand, der nur ihm gehörte. Ein über die Maßen kostbarer Gegenstand. Ein seltenes Juwel. Unbezahlbar und zugleich alles, was seinem Leben noch einen Sinn gab.
Wieder versuchte Valeria ihn zu beruhigen. Sprach zu ihm, doch er verstand die Worte nicht. Nicht, weil er sie nicht hören oder verstehen könnte, sondern sie drangen einfach nicht zu ihm durch.
Alexey wiegte sie stärker. Vergrub sich noch mehr in ihrem Haar und hielt sie fest. Wahrscheinlich viel zu fest, doch sie beschwerte sich nicht. Valeria ertrug es, wie sie so vieles an ihm ertragen musste, weil er so schwach war. Unfähig sie zu beschützen. Sie könnte tot sein. Er hätte sie beinahe getötet. Er …
Vor und zurück.
Vor und zurück …
***
Val hatte absolut keine Ahnung, was sie tun sollte. Alexey war … völlig verstört. Das traf es wohl noch am ehesten.
Er hielt sie so fest, dass sie gerade noch genügend Luft bekam und sein Zittern machte sie völlig fertig. Genauso wie seine Tränen zuvor. Dass er sie dabei geradezu zwanghaft in seinen Armen wiegte, machte es nicht gerade besser, sondern verstärkte eher noch den Eindruck, dass er gerade nicht alle beisammen hatte. Verständlich. Er schien schwer traumatisiert zu sein und das konnte Val ihm noch nicht einmal verdenken. Dabei war sie vor ein paar Minuten noch erleichtert gewesen, als die Stimmung so schön aufgeheizt gewesen war. Sinnlich und fern jeder Bedenken oder Sorgen. Fast hätte sie glauben können, er hätte sich tatsächlich wieder gefangen, doch das war eindeutig nicht der Fall. In seinem schlaftrunkenen Zustand hatte Alexey vermutlich alles vergessen, was ihn momentan so fertig machte. Vielleicht war das auch irgendein Verdrängungsmechanismus gewesen, der sich jedoch letzten Endes nicht durchgesetzt hatte. Womöglich gerade wegen ihres heftigen Verhaltens, das die Stimmung so abrupt verändert hatte. Am Ende war es wirklich noch ihre Schuld, weil sie ihn getriggert hatte, weshalb es Val noch mehr leidtat, dass sie so reagiert hatte.
Doch auch sie war aus letzter Nacht nicht ohne Schaden hervorgegangen. Das Ganze nahm sie ebenfalls mit, jedoch weit nicht so sehr, wie es offensichtlich bei Alexey der Fall war. Kein Wunder. Sie war das Opfer, er der Täter. Seine Schuldgefühle mussten gewaltig sein, und es zeigte sich auch ganz klar, dass er Angst hatte, sie zu verlieren. Sonst würde er sie nicht so fest halten und sich trotz seiner Größe in sie hineinzugraben versuchen. Als wollte er versuchen, auf nicht sexuelle Art und Weise mit ihr zu verschmelzen.
Val konnte in dieser Situation nichts anderes tun, als zu versuchen, ihm Halt zu geben. Sie sprach unablässig auf ihn ein. Streichelte ihn. Küsste das Fleckchen Haut, das sie erreichen konnte, und während alledem versuchte sie immer noch das feuchte Tuch auf die Wunde an seinem Hinterkopf zu drücken. Alexey schien noch nicht einmal registriert zu haben, dass er sich den Kopf aufgeschlagen hatte. Was ebenfalls ihr Verschulden war. Sie hatte ihn offensichtlich ziemlich heftig erschreckt. Was natürlich keine Absicht gewesen war. Dennoch tat es ihr wahnsinnig leid. Wie so vieles.
Wie viel Zeit verging, während sie auf Alexey einredete, ihn zu beruhigen versuchte und er sich mit ihr zusammen wiegte, wusste sie nicht. Val verlor jegliches Zeitgefühl. Es könnten ein paar Minuten vergangen sein, oder auch ein paar Stunden. Es war auch nicht weiter wichtig, solange Alexey sich endlich beruhigte. Was irgendwann tatsächlich der Fall war.
Alexey hörte allmählich auf, sie zu wiegen. Auch das Zittern ließ zumindest etwas nach und er versuchte sie nicht länger mit seiner Umarmung zu zerquetschen. Stattdessen hielt er sie einfach, oder ließ den Halt zu, den sie ihm schon die ganze Zeit über zu geben versuchte.
Immer noch spürte Val heiß seinen Atem in ihrem Haar und an ihrem Hals. Zuvor war er noch regelmäßig gewesen, nachdem Alexey sich von seinem Weinanfall beruhigt hatte, doch nun geriet er wieder außer Kontrolle. Erneut fühlte sie mehr sein Schluchzen, als dass sie es hörte, doch dieses Mal schien es sich verändert zu haben. Es war … gefasster, wenn man es angesichts der Situation denn überhaupt so bezeichnen konnte. Aber auf jeden Fall war es nun irgendwie anders.
„…s tu… le…id…“
Val hielt den Atem an, als sie glaubte, etwas gehört zu haben. Doch nein, sie hatte sich wirklich nicht verhört. Alexey sagte endlich etwas!
„Es … tut mir … leid. Es tut … mir leid.“
Er wiederholte diese Worte immer wieder. In ihrer Sprache! Val wertete das als gutes Zeichen. Das musste sie einfach. Etwas anderes Positives konnte sie dieser Situation ansonsten nicht unbedingt abgewinnen, doch zumindest hatte sie jetzt etwas, das sie fassen konnte.
„Was tut dir leid, Alexey?“, fragte Val also leise während einer Pause zwischen den einzelnen Sätzen. Alexey musste es aussprechen, sich den Tatsachen stellen. Verdammt noch mal darüber reden! So machten das doch die Seelenklempner, oder? Ihre Patienten darüber reden lassen. Irgendeinen Grund würde das schon haben. Aber auch aus eigener Erfahrung wusste Val, dass es nicht gut war, alles in sich hineinzufressen. Sie selbst könnte zwar nie so einfach über all die Scheiße reden, die ihr widerfahren war, aber wenn sie es dann doch einmal tat, war es irgendwie befreiend.
Leider war die einzige Person, der sie einmal so weit vertraut hatte, dass Val sich ihr vollkommen offenbart hatte, ein beschissener Ehebrecher gewesen, für dessen Mord man sie auch noch zu Unrecht hingerichtet hatte.
Val hatte also nicht unbedingt eine glückliche Wahl für diese Art von Gespräch getroffen, doch sie war nicht Daniel. Alexey konnte ihr vertrauen. Sie würde ihn niemals verraten. Hoffentlich wusste er das. Val wüsste nicht, wie sie es ihm sonst noch verständlich machen könnte. Sie gab ihm bereits alles, was sie ihm geben konnte.
„Ich hätte dich … beinahe …“, durchbrach Alexey schließlich die eingetretene Stille. Es fiel ihm offensichtlich schwer, auszusprechen, was ihm so wahnsinnig leidtat, doch Val wusste, was er ihr sagen wollte. Wie könnte sie es nicht wissen, wo sie es doch am eigenen Leib erfahren hatte?
„Du hast mich aber nicht getötet. Du hast aufgehört. Trotz allem … hast du aufgehört, Alexey.“ Es war die Wahrheit. Obwohl er vor Blutdurst völlig wahnsinnig gewesen war, lebte sie noch und irgendwas sagte Val, dass sie das ausschließlich Alexey zu verdanken hatte. Er hätte sie auch leertrinken können, doch er hatte es nicht getan. Er hatte sie am Leben gelassen und ihr dazu noch sein Blut gegeben, damit sie sich von dem Blutverlust wieder erholen konnte. Im Grunde genommen waren sie beide aus einer mehr als beschissenen Situation relativ glimpflich rausgekommen. Eigentlich war das Einzige, was Val wirklich Sorgen deswegen machte, Alexeys psychischer Zustand. Sie selbst … kam damit klar.
Wahrscheinlich würde sie noch eine Weile Albträume davon haben, wie Alexey ihr den Hals aufriss, und bestimmt kamen sie eine Weile immer wieder in Situationen, wo er sie mit irgendetwas triggerte. Doch damit kam Val klar. Da war sie sich sicher. Sie hatte weitaus schlimmeren Scheiß erlebt und überstanden, und zu wissen, dass Alexey ihr das nicht mit Absicht angetan hatte, half zusätzlich. Nein, um sich selbst machte Val sich keine Sorgen. Ihr ging es ausschließlich um Alexey.
Er schwieg wieder, nachdem sie ihre Sicht der Dinge dargestellt hatte, wie sie das alles sah und dass es da nichts gab, das ihm leidtun musste oder das sie hätte vergeben müssen. In Vals Augen war Alexey ebenfalls ein unschuldiges Opfer der grausamen Psychospielchen der Eiskönigin.
Völlig unvermittelt ließ Alexey sie schließlich los und wich wieder an die Wand zurück, bis ihm einfiel, dass sie immer noch ihre Hand an seinem Hinterkopf hatte, also drehte er den Kopf zur Seite – das Gesicht von ihr weg. Sein Blick war voller Schuld, Entsetzen und Angst, bis er dem offenbar einen Riegel vorschob, denn plötzlich wurde Alexeys Gesicht zu einer emotionslosen Maske. Sein Blick völlig ausdruckslos.
„Nein. Ich hätte nicht aufgehört.“
Alexeys Stimme war mit einem Mal so kalt, dass es Val fröstelte.
„Hätte sie ihren Befehl nicht zurückgenommen … Nur ein wenig tiefer hätte genügt und …“ Plötzlich wandte er sich ihr wieder zu, den Blick auf ihren Brustkorb gerichtet. Alexey hob die Hand, berührte Val jedoch nicht, sondern ließ seine Fingerspitzen über der Stelle schweben, wo ihr Herz darunter lag.
Als sein Blick auf seine Finger fiel, ballte er sie zu einer Faust und nahm die Hand wieder runter, während er die Zähne zusammenbiss und erneut wegsah.
Val verstand nicht. Was hatte ihr Herz mit dieser Sache zu tun? Hier ging es doch darum, dass er ihr den Hals aufgerissen und ihr Blut getrunken hatte, oder etwa nicht?
„Ich konnte nichts tun, obwohl ich mich … gewehrt habe. So sehr, wie noch nie …“ Seine kühle Stimme wurde leiser und brach am Ende. Hinter der emotionslosen Maske flackerte es.
Val nahm die Hand mit dem Tuch runter. Inzwischen dürfte die Blutung an seinem Hinterkopf aufgehört haben, also warf sie das Tuch auf die Truhe neben dem Bett und nahm dann Alexeys Hand in ihre beiden Hände. Diejenige, die er gerade noch von ihr weggenommen hatte, als sei sie das pure Böse.
„Alexey, wovon sprichst du? Dass du vor Blutdurst wahnsinnig gewesen bist und dich nicht mehr im Griff hattest, war nicht deine Schuld. Ich bin dir deshalb auch nicht böse. Du konntest absolut nichts dafür. Es ist alles die Schuld dieser elendigen Schlampe!“
Alexey wollte ihr seine Hand entziehen, doch Val schlang ihre Finger fester um seine und zog sie an ihr pochendes Herz, während sie irgendwie seinen Blick einzufangen versuchte. Er gab nach und ließ ihr zumindest seine Hand. Ihrem Blick wich er jedoch auch weiterhin aus und er schwieg verbissen.
„Alexey, bitte. Sprich mit mir.“ Val rutschte näher. So nahe, dass sie wieder ganz auf seinem Schoß saß, und berührte zärtlich sein Gesicht mit der einen Hand, während sie die seine mit der anderen immer noch fest umklammert hielt. Sie wollte ihn auf keinen Fall loslassen.
Er schloss gequält die Augen. Sie konnte spüren, wie er erneut zu zittern begann und sein Atem wieder schwerer ging.
„Sie hat mich … gezwungen …“ Er kämpfte ebenso sehr mit seinen Worten, wie er um Atem rang. „… mit einem Dolch … dein Herz zu durch…“ Ein heftiger Ruck ging durch Alexeys Körper und ehe Val überhaupt mitbekam, was passierte, lag sie auch schon mit dem Rücken voran auf dem Bett. Alexeys verflüchtigende Wärme war alles, was sie dabei noch an ihren Händen fühlte, denn er war nicht mehr bei ihr, sondern taumelte wie ein verwundetes Tier nackt und gehetzt durch seine Kammer. Eine wilde Raubkatze, verletzt und gefangen in einem Käfig, den sie nicht verlassen konnte, obwohl die Gefangenschaft sie allmählich wahnsinnig machte.
Es schmerzte Val, ihn so zu sehen. Noch mehr, als er sich die Haare zu raufen und mit den Zähnen zu knirschen begann. Ein tiefes Grollen drängte sich aus seiner Brust, bis er sich nicht länger zurückhalten konnte und die Emotionen nur so aus ihm herausbrachen. Alexey begann so laut zu brüllen, dass Val Sorge hatte, er würde damit jeden einzelnen Bewohner der Villa herbeirufen, wobei sie diese Reaktion in den letzten Tagen nicht zum ersten Mal erlebte. Allerdings fehlte nun die Tür zwischen ihnen, die alles deutlich gedämpft hatte.
Noch bevor Val es irgendwie auf die Füße schaffte, brach die nächste Welle aus Wut und Verzweiflung aus Alexey hervor. Doch anstatt wie wahnsinnig gegen die ohnehin nicht mehr verriegelte Tür anzurennen, richtete sich Alexeys Aggression gegen die Wand daneben. Genauer gesagt benutzte er diese wie einen Boxsack, obwohl seine Fäuste auf harten Stein und nicht auf mit Sand gefülltes Leder trafen. Alexey hielt sich dabei nicht im Geringsten zurück. Er war wie von Sinnen.
Val wusste nicht, ob die Knochen von Bluttrinkern stabiler waren als die eines Menschen, es spielte aber auch keine Rolle, denn Alexey drosch mit übermenschlicher Kraft auf die Steinwand ein, dass es nur so knirschte und knackte, ehe sie ihn überhaupt erreichen konnte.
Ohne zu wissen, was sie ob dieser entfesselten Wut überhaupt tun oder wie sie ihn aufhalten sollte, reagierte Val einfach, indem sie sich mit ihrem ganzen Gewicht an Alexeys Arm hängte und gegen sein Brüllen anschrie. „Hör auf!“
Genauso gut hätte ein Floh versuchen können, den Hund zu bändigen, auf dem er lebte. Val wurde wie ein lästiges Insekt abgeschüttelt, verlor den Halt an Alexeys Arm und landete verdammt unsanft auf ihrem Hintern, während sie von etwas angefaucht wurde, das ganz und gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mann hatte, den sie kannte. Sein Gesicht war zu einer albtraumhaften Fratze verzerrt und seine gebleckten Fänge schienen inzwischen die Ausmaße von Dolchen angenommen zu haben. Er war wie ein tollwütiges Tier kurz vor dem Sprung, doch wenigstens hatte er aufgehört, wie ein Berserker seine Fingerknöchel zu Staub zermahlen zu wollen.
Val fiel es trotz der spürbaren Gefahr im Raum nicht schwer, ruhig zu bleiben. Egal, was Alexey sagte, egal, was er vielleicht selbst glaubte, sie wusste einfach, dass er ihr nichts tun würde. Es war nichts, das sie mit Worten beschreiben könnte, sondern lediglich ein Gefühl. Eine Gewissheit, die so tief ging, dass Val keine Ahnung hatte, wo sie überhaupt herkam. Doch sie vertraute darauf. Gerade in einem Moment wie diesem zog sie Kraft daraus, um selbst nicht den Halt zu verlieren, denn innerlich wollte sie weinen, den Schmerz über diese schreckliche Situation zulassen und betrauern, das alles nun so viel schrecklicher war, als noch zuvor. Doch sie konnte nicht. Sie durfte einfach nicht. Alexey brauchte sie.
„Hör bitte auf, dir wehzutun“, bat sie leise, während Val sich langsam wieder vom Boden aufrappelte, dabei jede noch so kleine Regung von Alexey im Blick.
Als könnte jede hastige Bewegung ihn zum Angriff animieren, obwohl sie nicht daran glaubte, bewegte sie sich im Schneckentempo auf ihn zu, denn unnötig reizen, wollte sie ihn auf keinen Fall.
Obwohl er ihr immer noch diese mörderischen Fänge zeigte und die Wut sich geradezu in seine Gesichtszüge verewigt zu haben schien, hielt er vollkommen still, als sie ihn schließlich berührte. Er starrte sie einfach nur mit diesen ungewöhnlich intensiven Augen an, dabei am ganzen Leib bebend und schwer atmend.
Erst, als Val sein Gesicht erneut mit beiden Händen berührte, ihm liebevoll über die Wangen strich und seine Gesichtszüge zu glätten versuchte, war es, als hätte man bei ihm plötzlich die Fäden durchtrennt, die ihn aufrecht hielten. Alexey sank vor Val auf die Knie und zum Teil auch gegen sie. Das wilde Tier war verschwunden und dem gebrochenen Mann gewichen, der sein Gesicht an ihrem Bauch verbarg, während er sich mit seinen blutenden Händen am Stoff ihres Nachthemds wie ein Ertrinkender festhielt.
Es tat wahnsinnig weh, diesen kraftvollen Riesen als Häufchen Elend vor sich knien zu haben. Wie er bei ihr Schutz suchte und all seine körperliche Kraft, die ihm innewohnte ihm hierbei nicht helfen konnte. Dass er sie – eine kleine, zierliche Frau – dringend brauchte, um nicht endgültig auseinander zu brechen, war unfassbar traurig, doch zugleich offenbarte sich auch die Natur ihrer Beziehung zueinander.
Val schlang ihre Arme erneut um ihn, beugte sich vor, um ihm noch mehr Schutz zu geben und hielt Alexey einfach fest. Durch welche Scheiße sie sich auch immer gemeinsam wühlen mussten, sie würden das verdammt noch mal überstehen und gestärkt daraus hervorgehen. Val weigerte sich einfach, sich davon fertig machen zu lassen. Selbst wenn sie es fast nicht verhindern konnte, mit diesem Mann zu weinen, der ihr so unerwartet viel bedeutete.
Wieder dauerte es lange, bis Alexeys Atem sich beruhigte. An ihrem Bauch war es inzwischen unglaublich heiß von seinem Atem und der Stoff fühlte sich auch feucht an. Es spielte jedoch keine Rolle. Das Teil würde sie sowieso waschen und aufhängen müssen, bevor jemand mitbekam, was sie damit angestellt hatte und Fragen stellte, die sie nicht beantworten wollte.
Vorsichtig versuchte Val sich ein wenig von Alexey zu lösen und probierte, ob er sie überhaupt losließ, damit sie das konnte. Als er es tat, ging sie vor ihm in die Hocke und berührte sein Gesicht, das so erschöpft aussah, wie sie sich nach all dem hier fühlte. Doch sein Blick wirkte nun irgendwie … ruhiger. Klarer. Vielleicht hatten sie den ersten Sturm fürs Erste überstanden.
Val wollte etwas zu ihm sagen. Sowas wie: „Ich bin hier und nur das zählt im Moment“ oder „Es ist nicht deine Schuld“.
Letztendlich entschied sie sich jedoch dafür, den Mund zu halten und nicht wieder in der offenen Wunde zu bohren. Sie würde schon noch erfahren, was genau passiert war. Aber im Moment interessierte es sie gar nicht so sehr. Hauptsache, sie konnte irgendetwas für Alexey tun, um ihm zu helfen. Also hauchte sie ihm schließlich zärtliche Küsse auf die Stirn, die feuchten Wangen und seine Lippen und war dann sogar positiv überrascht, als er die Berührung zunächst schwach erwiderte und dann schon intensiver, als er die Arme um sie schlang und an sich zog. Jedoch bei weitem nicht mehr so überschwänglich wie noch vorhin.
Als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, lächelte Val ihn schwach an. „Komm. Wir schaffen dich erst Mal wieder aufs Bett, dann sehe ich mir deine Knöchel an und dann isst du erst einmal was.“ Besser gesagt, sie beide, denn Val hatte schon ein richtiges Loch im Magen, was für ihren immer noch schwächelnden Kreislauf nicht gerade hilfreich war.
Alexey nickte nur und schaffte es dann mit ihrer Hilfe auf die Füße und zum Bett hinüber, wo er sich artig an die Kante setzte, sodass sie ihm wieder eine Decke über die Schultern schlingen konnte. Zwar war er abermals unglaublich still, doch die Ruhe in ihm war jetzt anders. Nicht wie das sich aufstauende Brodeln vor einem Sturm, sondern eher wie die Stille, die danach einkehrte, sobald dessen tobende Kraft verraucht war.
Val nahm das Tuch von der Truhe, ging zur Schüssel mit dem Wasser hinüber und wusch es aus, bevor sie sich den Hocker nahm und ihn vor Alexey abstellte, um sich darauf niederzulassen. Danach nahm sie seine linke Hand und tupfte ihm vorsichtig das Blut von den Knöcheln. So, wie es sich anfühlte, war eindeutig etwas gebrochen, oder zumindest ziemlich angeknackst. Hoffentlich wuchs da nichts falsch zusammen, weshalb Val auch überlegte, wie sie das Ganze ein wenig stabilisieren konnte.
Während sie auch die zweite Hand vorsichtig von dem Blut reinigte, hatte sie sich bereits einen Plan zurechtgelegt und dabei so gar nicht damit gerechnet, dass Alexey sein Schweigen brechen könnte. Allerdings tat er genau das.
„Es tut mir leid, dass ich … so schwierig bin.“ Er sagte es so leise, dass Val die Luft anhalten musste, um ihn zu verstehen. Sie machte jedoch nicht den Fehler und sah ihn auf seine Offenbarung hin an, sondern arbeitete in Ruhe weiter, ohne den Blick von seinen Knöcheln zu heben.
„Du wurdest schwer traumatisiert … Ich meine, du hast etwas Schreckliches durchgemacht. Deine Reaktionen auf das Geschehene sind völlig normal. Niemand, der einen klaren Verstand und ein fühlendes Herz hat, übersteht so etwas, ohne davon betroffen zu sein.“
„Du wirkst sehr … ruhig.“
„Weil ich nicht das erlebt habe, was du erlebt hast. Ich habe sicherlich nur einen kleinen Teil davon mitbekommen und auch, wenn ich wahrscheinlich noch eine Weile Albträume davon haben werde, so weiß ich doch ganz genau, dass du mir niemals freiwillig wehtun würdest. Das vorhin, als ich mich so erschrocken habe … Es hat mich nur für einen Moment zurück in die Vergangenheit versetzt, darum habe ich so reagiert. Ich wollte nicht, dass du das Gefühl hast, ich hätte Angst vor dir.“
Val sah nun doch für einen flüchtigen Moment hoch. Alexeys Blick war auf ihre Hände gerichtet. Er wirkte nachdenklich.
„Ich … habe geträumt. Ich hielt es für einen … Traum. Ich wollte … dich nicht beißen und diese anderen Sachen … mit dir machen. Es tut mir leid.“
Vorsichtig drückte Val Alexeys Handgelenke, bevor sie langsam aufstand und zu der Truhe neben dem Bett hinüber ging, wo sie beim letzten Mal die ganzen blutigen Verbände und das restliche Zeug, das sie gebraucht hatte, hineingeworfen hatte. Sie schaute nur auf gut Glück nach, denn so wie die Kammer aussah, würde sie wohl nichts mehr in dieser Art vorfinden.
Was auch tatsächlich der Fall war und wie erhofft, fand sie stattdessen sorgfältig zusammengerollte Stoffstreifen, die sie beim letzten Mal nicht verwendet hatte.
Während Val sich noch ein wenig genauer in der Truhe umsah, ob sie vielleicht sonst noch etwas fand, das sie brauchen könnte, meinte sie immer noch ganz ruhig: „Du musst dich dafür nicht entschuldigen. Abgesehen von der Sache mit dem Biss … war es schön, so mit dir zusammen zu sein. Ich habe mich wohlgefühlt und es hat mir gefallen.“ Obwohl es ihr nicht leicht fiel, das zuzugeben, doch Val wollte Alexeys Schuldgefühle beruhigen und sie nicht noch weiter befeuern. Denn Tatsache war nun einmal, dass es ihr wirklich gefallen hatte und sie sich gegen mehr auch sicher nicht gesträubt hätte. Im Gegenteil. Einmal auf diese Weise den Kopf frei zu bekommen und dabei mit Alexey zusammensein zu können, erschien ihr sogar ziemlich erstrebenswert.
Da sie nichts weiter fand, womit sie Alexeys Knöchel behandeln konnte, nahm Val die zusammengerollten Stoffstreifen an sich und schloss den Deckel der Truhe wieder. Nachdem sie die Mitbringsel neben Alexey aufs Bett gelegt hatte, ließ sie sich wieder auf dem Hocker nieder und legte sich Alexeys rechte Hand in den Schoß, um sie zuerst zu verbinden.
Nachdem Alexey nichts weiter auf ihre Worte erwiderte, versuchte Val sich wieder auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, obwohl ihr dabei wahnsinnig viel im Kopf herumging. Glücklicherweise ging es dabei nicht um Alexeys Ausbruch vorhin, um das, was die Eiskönigin ihm angetan hatte, oder wie das alles noch weitergehen sollte, sondern ihre Gedanken kreisten um das, was Alexey für einen Traum gehalten hatte. Natürlich sollte sie nicht zu viel in die Sache hineininterpretieren, doch es schien schon etwas darüber auszusagen, was in ihm vorging. Weshalb Val schließlich auch das Schweigen zwischen ihnen brach, nachdem sie Alexeys rechte Hand fest einbandagiert hatte und sich gerade an seiner linken zu schaffen machte.
„Darf ich dich etwas fragen? Etwas sehr Persönliches?“ Val hielt kurz in ihrer Arbeit inne und hob den Blick, um Alexeys Reaktion sehen zu können. Gerade noch schien er ebenso sehr auf ihre Arbeit und seine Hand konzentriert gewesen zu sein, doch dieses Mal hob auch er den Blick, um den ihren zu erwidern. Die Ruhe darin hatte zum Glück nichts Trügerisches. „Ich habe keine Geheimnisse mehr vor dir.“
Das beantwortete ihre Frage zwar nicht direkt und Val gestand ihm auf jeden Fall zu, dass er ihr keine Antwort geben musste, wenn er nicht wollte, allerdings würde sie seine momentane Offenheit bei dieser Sache auf jeden Fall schamlos ausnutzen. Denn es interessierte sie wirklich. Allein, um ihn besser verstehen zu können und mehr über ihn zu erfahren.
Val machte mit ihrer Arbeit weiter, weil es so leichter war, ihre Frage in Worte zu fassen und dann tatsächlich auszusprechen. „Wann … hast du dich das letzte Mal … gut gefühlt? Ich meine, du weißt schon, so, wie du mich gut fühlen hast lassen. Körperlich.“
Die Reaktion war zwar nur subtil, doch Val fühlte sofort Alexeys körperliche Anspannung. Scheiße, sie hätte ihn das wohl besser nicht gefragt. Momentan war er viel zu …
„Ich fühle mich … schlecht deswegen.“ Seine Worte waren kaum zu verstehen, weil er sie auch irgendwie undeutlich aussprach. Allerdings war Val so sehr auf ihn konzentriert, dass ihr dennoch kein Wort davon entging.
„Warum?“ Sie konnte nicht anders. Sie musste ihn einfach ansehen.
Alexeys Blick war zur Seite gerichtet. Er konnte ihr dabei eindeutig nicht in die Augen sehen, also legte sie mitfühlend ihre Hand auf seinen Unterarm und hakte ganz sanft nach: „Warum, Alexey?“
Der Ausdruck in seinen Augen, als er ihr dann doch so unvermittelt in die ihren sah, war … Puh, ziemlich heftig. Obwohl Val nicht genau sagen konnte, was er zu bedeuten hatte. Er hatte aber eindeutig mit ihr zu tun, was ihr Herz plötzlich heftiger schlagen ließ.
„Weil es falsch war, mich dabei gut zu fühlen. Du wolltest mich nicht. Ich habe dich dazu gezwungen …“
Scheiße, sprach er etwa von dieser beschissenen, rituellen Vergewaltigung?
Val schüttelte den Kopf. Aus mehreren Gründen.
„Nein. Das kann ich nicht glauben. Ich weiß sehr wohl, wann ein Mann Lust dabei empfindet und wann nicht. Der Umstand, dass du dabei hart warst, hat in dem Fall überhaupt nichts ausgesagt. Für dich war das ebenso schlimm wie für mich. Daran gibt es für mich keinen Zweifel.“
Alexey zog sich sowohl körperlich wie auch psychisch ein wenig vor ihr zurück und starrte seine halb fertig bandagierte Hand an. „Am Ende war es anders. Du konntest dich nicht länger gegen meinen Geruch wehren und … darauf habe ich reagiert.“
Wenn überhaupt möglich schlug Vals Herz mit einem Mal noch wilder in ihrer Brust und sie überliefen heiße und kalte Schauer gleichzeitig. Sie erinnerte sich. Jetzt, wo er es wieder zur Sprache brachte, erinnerte sie sich sogar ziemlich gut daran, wie es sich angefühlt hatte, den Kampf aufzugeben und sich den Gefühlen hinzugeben, die ihr sein Geruch aufgezwungen hatte. Als es sich für sie plötzlich gut angefühlt hatte. So gut, dass sie am Ende sogar …
Val wusste nicht, ob ihr plötzlich alle Farbe aus dem Gesicht wich, oder sie knallrot anlief. Irgendwie fühlte es sich so an, als würde beides passieren.
„Darum war es falsch, mich dabei gut zu fühlen. Aber das habe ich.“ Und er bedauerte es offensichtlich sehr. Zumindest klang es so.
Val schloss für einen Moment die Augen und atmete einmal tief durch. An dieser ganzen Sache war so vieles falsch gewesen, doch letztendlich hatte sie in Erinnerung behalten, wie sehr sich Alexey trotz der widrigen Umstände um sie bemüht hatte, um es angenehmer für sie zu machen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, so wie er die meiste Zeit über keine andere Wahl hatte, wenn es darum ging, den Befehlen der Eiskönigin zu folgen. Wie fertig ihn das immer wieder machte, hatte sie heute schon zu genüge am eigenen Leib erfahren können. Wie könnte sie ihm daher jemals die Schuld für irgendetwas geben, das er gar nicht gewollt hatte?
Val beschloss nicht weiter über dieses beschissene Ritual nachzudenken, sondern stattdessen lieber wieder ihre ursprüngliche Frage aufzunehmen. „Von diesem einen Mal abgesehen: Wann hast du dich sonst das letzte Mal gut gefühlt?“
Eigentlich hatte Val vorgehabt, sich nun wieder Alexeys linker Hand zu widmen, um diese endlich fertig zu bandagieren, doch sein Schweigen brachte sie dann doch dazu, ihn wieder anzusehen. Auch jetzt erwiderte er ihren Blick, doch der Ausdruck darin gefiel Val ganz und gar nicht.
„Wann, Alexey?“, hakte sie noch einmal nach und brachte ihn so dazu, die Augen niederzuschlagen.
„Vor … dieser Sache …“ Alexey machte eine schwache Handbewegung, die ebenso gut sie wie auch den ganzen Raum miteinschließen konnte. Was absolut nichtssagend war. Zumindest für Val, denn er konnte nicht die kürzlich vorgefallenen Ereignisse meinen, wenn er seiner letzten Aussage nach bei dem satanischen Ritual so gefühlt hatte. Es musste davor gewesen sein.
„Du meinst, bevor wir uns begegnet sind?“ Wenn das stimmte, waren das Monate. Eine beschissen lange Zeit, gemessen an all der Scheiße, die hier fast täglich passierte und einen irre machen konnte. Besonders wenn es nichts gab, das einem Hoffnung oder zumindest so etwas wie einen Augenblick des Friedens gab.
„Nein. Vor Hedera. Vor … meiner Versklavung.“
Vals Augen weiteten sich, als die Erkenntnis langsam in ihren Verstand vordrang. Sehr langsam. Der Gedanke war so absolut … unwirklich.
Wieder schüttelte sie schwach den Kopf. Sie kapierte es einfach nicht. „Wie …? Hast du nie …? Ich meine … Dich selbst …?“
Nun war es an Alexey schwach den Kopf zu schütteln. „Davor natürlich ja. Welcher Junge tut das nicht? Doch danach …“ Er schloss die Augen und Val konnte genau erkennen, wie sich sein Kiefer anspannte, als würde er sich an etwas erinnern. Es knackten sogar die Stoffstreifen um seine fest bandagierte Hand, als er sie zur Faust ballte.
Alexey behielt jedoch die Kontrolle. Er tickte nicht wieder aus oder wurde besonders emotional. Nicht so wie Val, die immer zittriger wurde, je mehr sie zu begreifen begann.
„Ich habe zu hassen gelernt.“ Alexey öffnete wieder die Augen. Der Ausdruck darin war hart und abweisend. „Es.“ Er nickte in Richtung seines Schoßes. „Ich weiß das Wort in deiner Sprache nicht.“
Val kam auch nicht dazu, ihm passende Bezeichnungen für den Teil seines Körpers vorzuschlagen, der ihn zum Mann machte. Überhaupt war sie gerade überhaupt nicht dazu im Stande, auch nur ein Wort über ihre bebenden Lippen zu bringen, denn vorher hätten sie an dem fetten, stacheligen Ball in ihrem Hals vorbei müssen.
Plötzlich sprang sie vom Hocker auf, sodass sie ihn beinahe umwarf und drehte Alexey den Rücken zu. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, damit ihr nicht doch versehentlich ein Laut entschlüpfte, denn eigentlich wollte sie nicht so reagieren. Eigentlich wollte sie stark sein und Alexey den so dringend benötigten Halt geben. Doch das hier machte sie gerade auf eine Art und Weise fertig, wie sie es nicht erwartet hatte. Ihr liefen mit einem Mal die Tränen in Strömen über die Wangen und sie schlotterte am ganzen Leib, als bestünde sie nur noch aus losen Teilen, die jeden Moment auseinander fallen könnten.
Schon unter normalen Umständen wäre Alexeys Erzählung schlimm gewesen. Absolut schlimm, denn sie selbst wusste nur zu gut, wie es war, immer wieder missbraucht zu werden und den eigenen Körper dafür zu hassen. Sie selbst war darüber hinweggekommen. Es hatte lange gebraucht, aber sie hatte es geschafft. Bei ihr lagen die Dinge aber auch anders. Sie war zumindest nur wenige Jahre missbraucht worden, die jetzige Scheiße nicht mitgezählt. Aber Alexey … Selbst wenn sie sich immer noch weigern könnte, diese Bluttrinker-Sache zu akzeptieren, er musste diese Scheiße schon fast sein ganzes Leben ertragen. Ein sehr, sehr langes Leben, wenn man seinen Worten glauben konnte, was absolut der Fall war.
Das schreckliche Ausmaß seiner Gefangenschaft bekam immer mehr Facetten, je näher Val Alexey kennenlernte und gerade eben zeigte es ihr eine Seite, die sie selbst nur zu gut kannte. Die sie niemandem, nicht einmal ihrem schlimmsten Feind wünschte und doch passierte es immer wieder.
Als Val sich schließlich auch noch daran erinnerte, wie sie Alexey vor nur wenigen Wochen genau hier an diesem Ort für ihre eigenen Zwecke missbraucht hatte, war es endgültig um ihre Fassung geschehen. Sie begann hemmungslos zu schluchzen und wäre vermutlich auch in die Knie gegangen, wenn nicht plötzlich starke Arme ihren körperlichen wie auch psychischen Absturz aufgefangen und sie letztendlich hochgehoben hätten. Ehe Val es sich versah, lag sie an einer breiten, festen Brust, dabei von beiden Seiten der Decke umhüllt, in die auch Alexey gewickelt war. Er streichelte sie. Hielt sie fest. War nun ihr Fels in der stürmischen Brandung, und glücklicherweise stellte er keine Fragen. Val hätte sowieso nicht antworten können.
Hatte sie vorhin noch geglaubt, selbst gefestigt genug zu sein, um das alles hier zu überstehen, so wurde sie nun eines Besseren belehrt. Es brach alles aus ihr heraus. Ihr Schmerz. Sein Schmerz. Diese absolut beschissene Ungerechtigkeit in ihrer beider Leben.
Der emotionale Gewittersturm war wirklich heftig, doch in seiner Natur lag auch etwas Reinigendes und das konnte letzten Endes auch etwas Gutes bewirken. Vielleicht … war das sogar längst überfällig gewesen.