Auf Nuri ist immer Verlass. Der hat doch tatsächlich die Mannschaft zusammengetrommelt und kam her, noch bevor Marco eingetroffen war. Verdattert ging ich auf die Mannschaft meines Bruders zu und umarmte einige davon.
„Was macht ihr denn hier?", wollte ich wissen.
„Nun wir warten zusammen mit dir auf Marco. Denn ich habe doch geschrieben: You'll never walk alone. Ich halte nur Wort, denn er soll merken, dass er niemals allein ist", erklärte Nuri mir sanft lächelnd und ich dankte ihm dafür.
Dann brach plötzlich Hektik los.
„Jungs, raus aus der Notaufnahme. Ich lass euch wissen, wenn ihr zu ihm könnt. Informiert irgendwie die Eltern."
Marcel schaltete schnell und schmiss seine Kollegen aus der Notaufnahme.
Marco war blass, bewusstlos und wurde beatmet. Ich war schockiert und schnauzte den Notarzt an, weshalb er nicht mit einem Helikopter gebracht wurde. Die schlichte Antwort war das Marco nicht fliegen wollte. Er sei auch erst zwei Minuten bewusstlos. Mir wurden sämtliche mitgebrachten Daten überreicht und ich war verblüfft. Die Diagnose war lediglich ein Innenband sowie Außenbandriss gewesen. Aber da war noch viel mehr kaputt. Das sah ich sofort. Ich nahm Marco Blut ab und fuhr Nora an, dies ins Labor zu bringen, mit einem großen und vollständigen Blutbild. Ich gab ihr die Unterlagen und diese hastete davon. Draußen hatte Marcel die Lage unter Kontrolle. Plötzlich klopfte es.
„Herein", blaffte ich los und Marcel steckte den Kopf vorsichtig in den Raum.
„Die Eltern sind informiert. Wir sind über den Verein gegangen."
„Danke Bruderherz und jetzt nimm die Eltern in Empfang, sobald sie hier ankommen. Hab dich lieb."
Er lächelte, erwiderte nur das er mich auch lieb hätte und verschwand.
„Das war Ihr Bruder?"
„Ja. Ich heiße Schmelzer mit Nachnamen."
Alles nickte. Ich schaffte es Marco zu stabilisieren und er öffnete endlich die Augen.
„Hallo, Marco. Willkommen zurück. Man hast du mir einen Schrecken eingejagt."
Sein Blick war warm, weich und entschuldigend. Er versuchte zu sprechen.
„Sht, Großer. Alles gut. Da ist ein Tubus, der hilft deinem Kreislauf stabil zu bleiben. Nicht anfassen. Ich weiß, das fühlt sich komisch an und macht Angst."
Er zeichnete mit seinem Finger ein R in meine Handfläche.
„Ich habe deine Eltern informieren lassen. Marcel, mein Bruder, ist über deinen Verein gegangen und hat ihnen mitgeteilt, in welcher Klinik du bist. Sie kommen her. Marcel wartet mit der Mannschaft draußen im Flur auf deine Eltern. Romans Akku scheint leer zu sein. Ich habe es ein paar Mal über dein Handy versucht. Wir haben den gleichen Entsperrcode. Nichts. Deshalb habe ich Marcel hinzugezogen. Bist du sauer?"
Ein N folgte, das er erneut in ihre Handfläche malte. Das bedeutete Nein. Dann kamen die Laborergebnisse.
„Na mal sehen was die Laborbefunde so aussagen, okay?"
Ein J für Ja folgte in meiner Handfläche. Ich lächelte stolz und glücklich und küsste vorsichtig seine Stirn.
„Sieh mal hier. Die Eisenwerte sind okay. Deine Zuckerwerte sind auch gut. Die Befunde sind soweit in Ordnung. Aber wir werden sie regelmäßig prüfen müssen. Nur ein Wert macht mir Sorgen."
Marco sah mich aufmerksam an. Sein Blick war neugierig.
„Der hier! Der besagt, das du erhöhte Entzündungswerte hast. Das könnte durch eine Erkältung sein oder einfach nur durch die Verletzung. Aber wir können dich erst Morgen in den OP bringen. Schau mal."
Ich zeigte ihm ganz genau, was er alles mitgebracht hatte.
„Hier siehst du das Außenband. Es ist gerissen. Das hier ist das Innenband. Auch das ist durch. Aber Sorgen macht mir, das die Kapsel und der Meniskus ebenfalls verletzt sind. Das bedeutet das Saisonaus für dich. Es tut mir so leid, Großer. Aber eines kann ich dir versprechen. Du wirst wieder spielen können. Doch du brauchst viel Zeit und Geduld. Glaub mir. Nuri hatte ja geschrieben: You'll never walk alone. Und er ist mit Marcel im Flur. Er war hergekommen und hat auf dich gewartet. Er will das du weißt, das du niemals allein bist. Alle wollen dir helfen."
Marcos Blick war gerührt. Eine Träne lief ihm über die Wange. Der Chefarzt kam herein.
„Ah Herr Bürki. Willkommen in unserer Klinik."
Marco mochte ihn überhaupt nicht.
„Professor, lassen Sie ihn doch erst mal zur Ruhe kommen. Soll er bleiben, Marco?", fragte ich und er malte ein N auf meine Handfläche.
„Was bedeutet dieses N?"
„Sie haben meine Frage doch mit bekommen, Professor Nastasic."
Dieser nickte.
„Das war die Antwort auf die Frage. Er möchte das Sie gehen. Ich werde heute Abend noch mit Marcos Familie sprechen können."
Seufzend ging der Professor und ich war zufrieden.
Als ich die Kochsalzlösung erneuerte, entfernte ich den Tubus, über den Marco beatmet wurde.
„Marco, sieh mich mal bitte an", bat ich ihn.
Zum Glück reagierte er sofort.
„Ich entferne jetzt den Tubus, der dich beatmet, okay? Halt bitte ganz still. Es ist unangenehm, tut aber nicht weh."
Zaghaft nickte er und pures Vertrauen lag in seinen Augen.
Dies ehrte mich sehr und ich wusste genau, wie viel Verantwortung ich gerade trug.
„Okay, bereit?"
Zaghaft zeichnete er ein J in meine Handfläche.
„Super. Es geht los."
Dann entfernte ich alles, was den Tubus an Ort und Stelle hielt. Behutsam zog ich den Tubus hervor und Marco war wirklich tapfer. Kaum war der Tubus weg, holte Marco erleichtert mehrfach tief Luft und ihm wurde nicht schlecht. Was ein sehr gutes Zeichen war. Draußen brach ein kleiner Tumult aus.
„Ich schaue mal nach dem Rechten, ja?"
„Ja", krächzte Marco und er räusperte sich verlegen.
„Alles gut."
Ich ging nach dem Rechten schauen und sah Marcos Eltern.
„Herr und Frau Bürki!", rief ich und sofort eilten mich zu.
„Frau Doktor. Wie geht es Marco?"
„Den Umständen entsprechend. Mein Name ist Julia Schmelzer und ich bin die jüngere Schwester von Marcel Schmelzer, einem Mannschaftskollegen ihres Sohnes Roman. Kommen Sie bitte mit. Jungs, ihr haltet hier die Stellung? Wahrscheinlich brauchen die Bürkis nachher euren Trost."
„Geh", sagte Marcel und lächelte sie liebevoll an.
„Danke, Bruderherz."
Er nickte und Marcos Eltern sahen uns abwechselnd an.
„Ja, die Ähnlichkeit ist heftig. Das war Ihr Bruder, Frau Doktor?"
„Ja und ich liebe ihn aus tiefstem Herzen. Er ist mein ein und alles."
Als Marco seine Eltern sah, weinte er und sofort hasteten sie an sein Bett.
„Was ist passiert, Schatz?"
„Wir haben in Luzern gespielt und der Rasen war nass. Ich meine richtig nass. Der Gegenspieler ist weggerutscht und hatte nur den Ball im Blick. Mich sah er nicht. Ich wollte gerade dem Ball hinterher, als ich einen Schlag gegen das Knie bekam und mich im Fallen, gelinde gesagt, beschissen gedreht habe. Das Knie drehte sich aber nicht mit. Es knirschte fürchterlich im Knie und die Stabilität war weg. Ich wusste sofort, das da was größeres passiert war und wollte sofort hierher gebracht werden. Kurz vor der Klinik wurde ich bewusstlos und wachte erst wieder auf, als Julie schon bei mir war."
Seine Eltern waren kreidebleich geworden.
„Ach du Schande. Wann kann er wieder spielen?"
„Diese Saison gar nicht mehr. Seine Verletzungen sind komplex und bedürfen einer OP. Die führe ich morgen durch, da er bewusstlos war, darf ich ihn jetzt noch nicht operieren. Das ist zu gefährlich. Wenn er mir auf dem OP-Tisch erneut bewusstlos wird, besteht Lebensgefahr. Deshalb muss er mindestens 24 Stunden vor einer OP einen stabilen Kreislauf haben. Nur dann kann ich sicher stellen, das er die OP gut übersteht."
Die Eltern nickten.
„Was genau ist denn im Knie kaputt?"
Ich zeigte es an den mitgebrachten Unterlagen und ordnete noch ein MRT und ein CT an.
„Dazu muss er geröntgt werden, um Verletzungen am Knochen auszuschließen. Marco bleibt in der Nacht auf der Intensivstation, wo er gut überwacht werden kann. Es dient nur zu seiner Sicherheit, aber sie als Eltern haben das letzte Wort. Ich mache erst einmal einen Ultraschall vom Knie und den Inneren Organen, da werde ich von Kollegen unterstützt, die den entsprechenden Fachbereichen angehören. Alles nur damit Marco bald wieder auf dem Rasen stehen kann."
„Okay, tun Sie alles, was sie für notwendig erachten, um Marco gesund auf den Rasen zu bekommen."
„Alles klar. Können Sie mir den Ausschnitt vom Spiel organisieren? Ich muss genau sehen, was passiert ist und wie es dazu kam. Dann kann ich Marco perfekt helfen."
Rasch hatte ich, was ich benötigte und sah mir das Bildmaterial an. Marco erklärte alles dazu und sah sogar, das der Gegner mit Rot vom Platz flog.
Begründung:
Unnötige Härte.
Die Untersuchungen waren alle recht schnell durch und so konnte ich endlich die Ultraschalluntersuchungen machen. Die inneren Organe waren alle intakt und arbeiteten gut. Am Knie sah es dann schon anders aus. Ich zeigte erst das intakte Knie und dann das kaputte.
„Man sieht den Unterschied sofort!", rief Marcos Vater aus.
„Ja, stimmt. Umso wichtiger ist es jetzt, das wir das Knie ruhig stellen und Marco morgen Vormittag in den OP kommt. Die Kollegen aus der Anästhesie wollen vorher noch mit Marco und Ihnen, als Angehörige, sprechen. Die OP kann dauern. Weil ich mich vom Meniskus aus nach oben vorarbeiten muss. Zum Schluss sind die Kapsel und die Bänder dran. Das bedeutet im Anschluss mindestens sechs Wochen Gips und noch mal sechs Wochen einen Spezialschuh, der das Bein vom Oberschenkel bis zu den Zehen ruhig hält. Erst nach einer Kontrolle hier bei mir, wird entschieden, ob und wie weit er in die Reha gehen darf. Danach wird es einen strengen Rehaplan geben, jede Abweichung davon kann die Verletzung aufbrechen lassen. Normalerweise bedeutet eine so komplexe Verletzung das Karriereende, welches ich aber verhindern möchte. Marco ist jung und kann noch so viel erreichen. Dies wird nur mit jeder Menge Konsequenz und Disziplin möglich sein. Hast du das verstanden, Marco?"
„Ja und ich danke dir schon jetzt für alles."
Ich umarmte ihn einfach so und drückte ihn behutsam an mich.
„Sie mögen unseren Sohn, stimmt’s, Frau Doktor?", fragte Marcos Mutter.
„Ja, er ist mein allerbester Freund und unglaublich wichtig für mich."
Zufrieden lächelten die Eltern sich an und verabschiedeten sich von Marco.
Ich begleitete sie noch zur Mannschaft, von denen noch ein paar da waren.
„Die anderen wurden von ihren Kindern nach Hause gerufen. Sie sind morgen im Laufe des Tages wieder da, um Marco nicht zu überfordern", erklärte Marcel.
„Gut, Marci. Können Marcos Eltern bei dir und Jenny nächtigen?", fragte ich meinen großen Bruder.
„Selbstverständlich. Ich kläre das schnell ab und dann fahren wir. Jenny wartet mit dem Essen auf mich. Sie bringt dir nachher noch was vorbei."
Ich lächelte.
„Danke. Du weißt ja, ich habe Doppelschicht, was nur zwei Mal im Jahr vorkommt. Aber dieses Mal passt es mir ganz gut, so kann ich mich um Marco kümmern."
Einige Minuten später war Marci wieder da und nickte.
„Jenny freut sich und bereitet das Gästezimmer vor."
Nach und nach verschwanden alle und Marci nahm die Bürkis mit. Ich ging wieder zu Marco, der mich aufmerksam ansah.
„Deine Eltern schlafen bei meinem Bruder. Meine Schwägerin Jenny hat es ebenfalls erlaubt, da ich Marci danach gefragt habe. Sie wohnen nicht all zu weit von der Klinik entfernt und können es sogar mit dem Fahrrad erreichen."
„Danke", murmelte Marco, ehe er einschlief.
Ich legte mich in das Bett neben ihm und schlief recht schnell ein. Zwei Mal wurde ich von Kollegen herausgerufen und musste mich um die Opfer eines Autounfalls kümmern. Ich übernahm die Kinder der Familie, versorgte die Knochenbrüche und ließ sie dann auf Station bringen. Jedes Mal kehrte ich zu Marco zurück und sah bei ihm nach dem Rechten, ehe ich mich wieder schlafen legte.
Stunden später war ich längst wieder auf den Beinen und wartete auf Roman. Marco wollte nicht in den OP, ohne ihn gesehen zu haben.
Marcos Eltern waren inzwischen auch mit einigen Spielern zurück in die Klinik gekehrt. Da klopfte es und Rabea betrat das Zimmer. Ich drehte mich zu meiner Freundin um, als diese den Raum betrat. Ich umarmte sie kurz und wollte ihr Marco vorstellen. Aber sie kannten sich schon eine Weile. Wenn auch nur über Instagram. An Marcos Bett standen André, Mario, Nuri, Marco Reus und Marc.
„Ich weiß es von Roman, ähm... er war bei mir", antwortete Rabea auf die unausgesprochene Frage.
„Hey Marco, du siehst gar nicht gut aus. Wie geht es dir denn?"
In Rabeas Blick lag Besorgnis. Marco versuchte mit aller Macht zu lächeln, aber es gelang ihm nur mäßig.
„Wird schon. Roman war bei dir? Du bist gar nicht so sein Beuteschema. Wo ist er denn jetzt?"
Als Rabea ihn etwas erstaunt ansah, tat es Marco schon wieder etwas leid.
„Ist doch nur die Wahrheit und wir wollen ja auch nichts von einander. Roman ist draußen, er wartet noch. Weil ich vorgegangen bin, um Julies Eifer etwas zu bremsen", erklärte Rabea sich.
Sie kicherte vor sich hin.
„Seit wann willst du Idioten, wie ihn, schützen?", rutschte es mir heraus und ich sah Marco sofort entschuldigend an.
Rabea starrte mich an und ihre Augen sprachen eine stumme Warnung aus.
„Ist ja gut, ich bin ja brav."
Die Jungs gingen mit Rabea raus und ließen dadurch Roman herein.
Roman eilte mit Tränen in den Augen an Marcos Krankenbett. Als er hörte, das sein Bruder für mehrere Monate ausfallen würde, versuchte er ihn zu trösten. Doch mehr als ihn in den Arm zu nehmen und ihm Kraft zu geben, konnte er auch nicht tun. Aber Marcos Gesicht hatte sich sofort aufgehellt, als er sein Zimmer betreten hatte. Ich sah Roman aber immer noch böse an. Ich stellte mich erst einmal vor und erzählte Roman ohne Umschweife, was passiert war und das ich manchmal das Gefühl hatte, nur von Idioten umgeben zu sein.
„Jetzt kommt es darauf an, dass die OP an seinem Knie gut verläuft. Alles andere findet sich dann schon. So, jetzt müssen wir ihn aber vorbereiten. Aber eines möchte ich dir noch mit auf den Weg geben. Egal was bei dir und Rabea läuft, aber tust du ihr weh, muss ich dich leider töten."
Das sagte ich so ernst, ich nur konnte. Roman nickte bloß und das reichte mir völlig.
Die OP verlief wirklich ohne Probleme und dauerte vier Stunden. Ich arbeitete sehr sorgfältig und blaffte so manche Kollegin an, sie solle sich konzentrieren. Eine Studentin war auch dabei und ich wollte wissen, was sie an Verletzungen sehe. Sie beantwortete meine Fragen korrekt und ausführlich. Zufrieden verschloss ich schließlich das Knie und bat einen Kollegen eine Gipsschiene anzulegen, damit ich die Narbe entsprechend versorgen konnte.
Sechs Stunden später fuhr ich total erschöpft nach Hause und schlief mich erst einmal aus. Nur eines irritierte mich ein wenig. Wieso kribbelte mein Bauch, wenn ich nur Marcos Augen sah und seine Stimme hörte? Wieso bekam ich bei seinem Lächeln feuchte Hände und weiche Knie?