Der Regen plätschert auf die Erde einige Meter unter mir hinab und der Wind zehrt an den Blättern der Bäume um mich herum. Die Blätter lösen sich von den Bäumen und tänzeln durch die Luft, bis sie dann auf der Erde landen und vom Regenwasser weggespült werden. Der Stein der Fensterbank unter meiner Haut fühlt sich angenehm kalt an. Dieser Anblick beruhigt mich wie immer von innen heraus. Den Geruch des Regens kann ich auch durch das geschlossene Fenster riechen, da er mir so vertraut ist. Mein Kopf ruht gegen die helle Tapete gelehnt. Meine Gedanken ruhen auf dem neuen Mädchen, was nur vor wenigen Stunden hier angekommen ist. Auf dem Mädchen, dass sich als meine Schwester vorgestellt hat. Ich würde es gerne glauben, aber es wirkt so abwegig. Meine Familie wollte mich nicht, meine Eltern sind tot und eine Schwester habe ich nicht. Jedenfalls habe ich keine an die ich mich erinnern kann. Mein dunkelbraunes Haar fällt locker über meine Schultern und meine Haut wird von einem weißen Nachthemd, welches Hilley gehört hat, als sie noch klein war, bedeckt. Meine Füße liegen nackt gegen den Fensterrahmen gelegt. Der Mond scheint durch das Fenster und auch die Sterne erleuchten in dieser Nacht mein Zimmer. Kein Geräusch ist im ganzen Haus zu vernehmen. Es wirkt, als würde alles um mich herum schlafen, nur ich nicht.
Plötzlich ist doch ein Geräusch zu hören. Es klingt wie Schritte auf dem knarrenden Holz im Flur. Dann sehe ich plötzlich, wie die Türklinke hinuntergedrückt wird. Ich halte instinktiv die Luft an. Wer kann das sein? Irgendwie fühle ich mich nicht mehr sicher, seit dieses fremde Mädchen bei uns eingezogen ist. Hilley hat sie natürlich sofort aufgenommen und ihr ein Zimmer gegeben. Das hat mir eher weniger gefallen. Schließlich wissen wir nicht, ob sie es wirklich ist. Dieses Mädchen könnte auch einfach irgendwer sein, der sich als Sarah Montgomery ausgibt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie unmöglich meine Schwester sein kann, aber in meinem Kopf ist dieser kleine Gedanke, dass es vielleicht doch sein könnte. Vielleicht haben meine Eltern sie ja abgegeben als sie noch klein war, aber das passt auch nicht wirklich zu meinen Eltern. Sie haben mich geliebt und hatten meine Schwester sicher nie abgegeben, wenn ich eine gehabt hätte. Außerdem hätte ich dann doch sicher gewusst, dass ich eine Schwester habe, oder? Schließlich scheint Sarah in dem gleichen Alter zu sein wie ich. Wenn es um das Alter geht, könnten wir sogar Zwillinge sein.
Meine Zimmertür öffnet sich langsam und ich erkenne, wer da gerade hereingekommen ist. Es ist Aria. Das Mädchen, dem ich hier am meisten Vertraue. Ihre hellbraunen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und trägt ebenfalls ein Nachthemd. Es ist jedoch ihr eigenes und keines von Hilleys Alten. "Hey", grüßt sie leise. Das Mondlicht beleuchtet ihr Gesicht und ihr Schatten landet auf dem hölzernen Boden des Flures hinter ihr. Mein Lächeln huscht über meine Lippen: "Hey." "Kann ich hereinkommen?", flüstert sie leise. Ich nicke, woraufhin sie eintritt und die Tür leise hinter sich schließt. Dann kommt sie langsam zu mir herüber und setzt sie gegenüber von mir auf die Fensterbank. Schnell nehme ich meine Beine weg und setze mich im Schneidersitz hin, damit sie sich richtig hinsetzen kann. Auch Aria verschränkt ihre Beine, sodass sie im Schneidersitz sitzt und mich aus ihren hellgrauen Augen ansieht. "Du bist noch wach?", fragt sie leise. Wieso flüstert sie? Hier kann uns doch niemand hören und selbst wenn, würde es keinen stören. Es ist ja nicht verboten nachts wach zu sein. Ich nicke, kann meinen Blick aber nicht von ihren wunderschönen Augen abwenden. "Du anscheinend auch nicht", stelle ich fest: "Sag mal, was hältst du von der Neuen?" Sie atmet tief: "Sei nicht böse, ja? Ich vertraue ihr nicht, Stella!" Es beruhigt mich, dass ich nicht die Einzige bin, die so empfindet. "Ich bin nicht böse", erwidere ich und blicke nach draußen: "Ich denke auch, dass sie nicht die ist, die sie vorgibt zu sein." "Echt?", fragt sie verwundert: "Wieso denkst du das?" "Hätte ich je eine Schwester gehabt, wüsste ich das doch, oder?", ich lehne mich ein Stück nach vorne. Sie zuckt mit den Schultern und beugt sich, genau wie ich, vor: "Vermutlich, aber vielleicht erinnerst du dich auch einfach nicht mehr daran." Ich lasse meinen Kopf wieder gegen die Wand hinter mir sinken und atme tief durch: "Kann sein." Da zuckt plötzlich ein Gedanke durch mich hindurch: "Ich hätte da aber eine Idee." "Echt? Welche?", fragt Aria nun ziemlich interessiert und blickt nach draußen. Langsam lasse ich meine Hand in die Tasche meines Nachthemds geleiten und greife nach der Kette, die ich schon seit längerem bei mir trage: "Hilley hat mir heute gesagt, dass Sarah möglicherweise Erdkräfte hat." Aria sieht mich weiterhin interessiert an, weshalb ich die Kette nun aus meiner Tasche ziehe und weiterspreche: "Und auf der Liste mit möglichen Erben, die Hilley mir einmal gezeigt hat, stehen die Namen der Seraphinen, die als Erben infrage kommen." "Ja, diese Liste habe ich auch gesehen", erwidert sie nachdenklich. Ich lege ihr die Kette mit dem braunen Kristall daran in die Hand und beginne weiter zu erklären: "Wie du ja weißt leuchten diese Ketten, wenn sie vom Erben getragen werden, also könnten wir sie ihr umlegen, um zu testen, ob sie vielleicht wirklich die Erdkräfte geerbt hat. Wenn die Erd- und Wasserkräfte in der Familie liegen und die Kette bei ihr dann leuchtet, ist sie meine Schwester. Wenn nicht, dann nicht." Aria spielt mit der Kette, während sie ruhig darauf blickt: "Das klingt, mehr oder weniger, logisch."
"Also müssen wir ihr die Kette einfach nur umlegen?", fragt sie.
"Ja, aber vielleicht sollten wir sicher gehen, dass es wirklich in der Familie liegt!"
"Und wie?"
"Wir könnten Hilley fragen", schlage ich vor: "Oder wir könnten nochmal auf die Liste blicken."
"Wann sollen wir das denn machen?"
"Keine Ahnung. Einfach dann, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt", ich nehme die Kette wieder in meine Hände und steckt sie in meine Tasche zurück.
Für wenige Sekunden blicken wir uns einfach nur kurz an. Dann wende ich meinen Blick wieder aus dem Fenster: "Wirst du mir helfen?" "Natürlich", erwidert sie und nimmt meine Hand. Diese legt sie dann in ihre eigene. Allein diese Berührung gibt mir den Mut, den ich brauche.