Der Atem bleibt mir weg und meine Kehle zieht sich zusammen. Vor mir erhebt sich eine große Wand aus mehreren aneinander gereihten Steinplatten. Auf jeder von ihnen steht ein tief eingeritzter Name, den ich jedoch nicht entziffern kann. Nur einer von ihnen ist komplett reingewaschen. Als ich weiter herantrete, schlage ich die Hand vor den Mund. Dort steht in Druckbuchstaben 'Sarah Valerios'.
Valerios? Wieso steht dort auf dem Stein mein Nachname? Mein Mund wird ganz trocken und ich greife nach Arias Hand. "Ist das nicht dein Nachname?", fragt Aria vorsichtig. Langsam nicke ich und trete dann näher an den Stein heran. Die Hand, mit der ich nicht Aria berühre, lege ich auf die Platte und streiche sanft darüber. Wieso ist das der einzige saubere Stein? Hat jemand ihn geputzt? "Was sind das für Leute, die hier begraben wurden?", frage ich wissbegierig. Es fällt mir schwer zu schlucken oder gar zu atmen. Aria legt ihre Hände auf meine Schultern: "Diese Gräber sind für Kinder, die sehr jung gestorben sind." Sehr jung gestorben? Also ist sie nicht alt geworden. Mein Blick wandert weiter zum Datum, welches unter dem Namen steht. Das Geburtsdatum ist mit meinem Deckungsgleich. Auch dieses Mädchen wurde am 12. Dezember 2018 geboren. Ein Todesdatum wurde ebenfalls eingetragen. Es ist der 22. Januar 2021. In diesem Moment brauche ich zu lange zum Rechnen. Fast fühlt es sich so an, als wäre mein Gehirn gelähmt. So als könnte ich nicht mehr klar denken. Dieses Mädchen, meine Schwester, ist mit drei Jahren gestorben. Wenn das nicht geschehen wäre, wäre sie jetzt 16 Jahre alt. Sie wäre jetzt im gleichen Alter wie ich. So etwas wie mein Zwilling. Wir waren Zwillinge! Bei dem Gedanken laufen mir wieder die Tränen runter. Wie kann es möglich sein, dass ich eine Schwester habe, mich aber nicht an sie erinnere. Man kann einen anderen Menschen, besonders keine Schwester, einfach so vergessen. "Was ist los?", fragt mich Aria und versucht mich umzudrehen. "Sie hat am gleichen Tag wie ich Geburtstag", erwidere ich: "Sie ist ..." Die Stimme bleibt mir weg und ich kann meinen Satz nicht beenden. "Sie ist dein Zwilling", sagt sie für mich: "Also ist die Sarah bei uns zu Hause nicht deine Schwester?!" Ich will antworten, doch ich bin nicht fähig eine vernünftige Antwort zu finden: "Ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Das ist alles so ...verworren!" Sie legt ihre Hände an meine nassen Wangen: "Willst du denn die Wahrheit herausfinden?" "Ja, natürlich will ich das", erwidere ich und spüre, dass meine Wangenknochen vom Weinen schon schmerzen. "Dann entwirren wir das ganze", schlägt sie vor: "Ich verspreche dir, dass wir die Wahrheit finden." Ich will ihr wirklich mit aller Kraft Glauben schenken, aber sie sieht genauso durcheinander aus wie ich: "Wo steht immer die Todesursache?" Nun tritt Aria auch vor und schaut auf den Stein: "Eigentlich direkt unter dem Datum, aber ich irgendwie gibt es hier keines." Schnell versuche ich mich zusammen zu reißen und schaffe es sogar für einen kurzen Moment: "Dann sollten wir die Ursache herausfinden!" Langsam dreht sich Aria wieder zu mir um und umfasst meine Schultern fest: "Stella? Du musst aber trotzdem damit rechnen, dass sie möglicherweise doch nicht tot ist. Sie könnte es überlebt haben, schließlich ist, seit wir alle auf Hilley getroffen sind, alles nicht mehr so wie es auf den ersten Blick scheint. Wir sollten immer damit rechnen, dass sich die Dinge wieder ändern und damit rechnen, dass das Mädchen bei Hilley vielleicht trotzdem deine Schwester ist." Ich nicke nachdenklich. Sie hat Recht! Alles hat sich seit Hilley verändert und nichts ist, wie es scheint. Trotzdem trete ich an den Stein heran und knie mich hin, um nach jeglichen Hinweisen zu suchen, doch mehr ist nicht zu finden. Keine weiteren Fakten oder Zahlen. Plötzlich weht ein starker Wind und eine Zeitung wird zu uns herübergeweht. Mit, vor Kälte, zitternden Händen hebe ich das leicht aufgeweichte Papier auf und werfe einen Blick auf die Titelseite. Sie scheint vom 22.01.2021 zu sein. Als ist sie schon 13 Jahre alt. Wie kann sie dann noch hier einfach so durch die Luft schweben? Nachdem dem Datum fällt mein Blick auf das große Bild auf der Seite. Darauf sind drei Menschen zu sehen. Ihre Gesichter sind weiß und um sie herum liegen mehrere kleine Erdkrümel. Diese Details schaue ich mir ganz genau an, um nicht in die Gesichter der Personen sehen zu müssen. "Sind die Leute auf dem Bild?", fragt Aria misstrauisch. Als ich die Worte, die ich eigentlich nicht aussprechen wollte, sage, klingt meine Stimme rau und gebrochen: "Meine Familie, an dem Tag, an dem sie gestorben sind."
Zu meinem Leidwesen ist das einer der Tage, an die ich mich noch erinnere. Schließlich hat er mein Leben für immer geprägt und verändert. Das war der Tag, an dem ich ein Waisenkind wurde und zwei, oder nun wohl eher drei, geliebte Menschen verlor. Meine Verwandten hatten mir immer gesagt, dass sie von einem Mann mit einer Waffe erschossen wurden, doch mittlerweile glaube ich das nicht mehr. Sie haben mir schließlich auch nie erzählt, dass ich in Wirklichkeit eine Schwester habe. Langsam weiß ich echt nicht mehr, was ich glauben soll! Wurde ich etwa mein ganzes Leben lang nur angelogen? Wie kann ich jetzt noch jemandem glauben, wenn er mir von der Vergangenheit erzählt? Vielleicht war dort ja nicht mal ein Kerl mit einer Waffe. Wieso sollte er mich denn schon am Leben gelassen haben? Das tut doch kein Mörder! Ein Mörder erschießt doch sonst alle Zeugen, um nicht erkannt zu werden.
Mit meinem Zeigefinger beginne ich den Artikel darunter zu lesen. Dort wird vom rätselhaften Tod dreier Mitglieder der "Valerios" – Familie geschrieben. Es scheint nirgends irgendeinen Tatwaffe oder einen Verdächtigen zu geben. An diesem Tag gab es eine Parade in der Stadt, die so gut wie jeder besucht hat und es konnte nachgewiesen werden, dass dort nur vier Menschen waren. Meine Eltern und ihre beiden Kinder. Sarah und Stella Valerios!
Langsam hebe ich den Blick zu Aria und schiebe meine dunkelbraunen Haare zur Seite: "Ich will es wissen! Hilf mir herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Nur so können wir herausfinden, ob unsere Sarah Montgomery meine Zwillingsschwester Sarah Valerios ist." Ich tippe immer wieder unterbewusst auf das Papier in meiner Hand, wenn ich mich drauf beziehe. "Natürlich, aber wie willst du es herausfinden?", fragt sie ratlos. Bevor ich antworte, suche ich nach einem guten Weg es zu sagen. Als ich keinen finde, sage ich es einfach gerade heraus: "Ich will die Unterlagen der Autopsie haben!"