Es ist bereits tiefste Nacht, als ich die Augen aufschlage. In meinem Zimmer ist es eisig kalt und ich will mich fast weigern aus dem samtig warmen Bett zu steigen, aber es ist nötig. Leise murrend schiebe ich die Decke zur Seite und setze mich auf. Wenn ich mich beeile, kann ich sicher schnell wieder hierher zurück. Ich nehme meine Socken vom Nachttisch, wo ich sie zuvor postiert habe, und ziehe sie an. Sie sind aus grauer Wolle und ziemlich kratzig, aber das ist nicht so wichtig. Auf Zehenspitzen schleiche ich über den Boden zum Schreibtisch, um dort einen Gegenstand hinunterzunehmen, den ich zuvor präpariert habe. Es ist ein weißer Briefumschlag, den ich mit einem unbeschriebenen Blatt, gefüllt habe. Darauf habe ich die gleiche Briefmarke geklebt, wie die auf Sarahs Umschlag. Hoffentlich bemerkt niemand den Unterschied. Dann müsste ich mir nämlich eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen und die habe ich momentan noch nicht. Schnell greife ich nach einer Strickjacke und setze die Kapuze auf. Wenn mich jemand erwischt, habe ich so wenigstens mehr Zeit mir eine Lüge zu überlegen.
Leise schleiche ich die Treppe hinunter und bleibe im Flur stehen. Langsam laufe ich zum Türrahmen des Wohnzimmers weiter und schaue um die Ecke. Leer! Perfekt, schnell husche ich still und heimlich in den großen Raum. Drinnen angekommen schließe ich die Augen und horche. Mein eigener Atem ist das einzige Geräusch hier und zerschneidet die Luft wie eine Klinge aus Metall. Doch das ist nicht das Einzige, was ich wahrnehme. Meine Muskeln sind genauso angespannt wie mein Geist. Ich weiß, dass es falsch ist, was ich tue, doch es ist nicht zu ändern. Ich muss wissen an wen der Brief adressiert ist und was darin steht. Der Inhalt kann uns Aufschluss über die Identität des Mädchens und ihre Absichten geben. Verdacht darf sie aber trotzdem nicht schöpfen, da sie dann die Flucht ergreifen könnte und das wäre verheerend. Trotzdem hat sich in meinem Bauch ein ungutes Kribbeln eingenistet, das sich anfühlt, als würden eine Million Insekten in meinem Magen herumkrabbeln. Als ich meine zitternden Finger nach dem Umschlag ausstrecke, spüre ich fast, wie die Luft erwartungsvoll knistert. Als ich das dünne Papier berührte, halte ich aus einem Instinkt heraus den Atem an. Dann stecke ich das Papier blitzschnell in die Tasche meiner Jacke. Mein Blick wandert erneut aufmerksam durch den Raum. Gleich habe ich es geschafft. Nun nur noch die Fälschung hinlegen und dann habe ich geschafft. Mit zittrigen Fingern platziere ich die Attrappe genau an der Stelle, an der zuvor auch das Original gelegen hat. Plötzlich erklingt ein lauter Knall und ich zucke zusammen. Instinktiv ducke ich mich hinter den Tisch, obwohl das wohl wenig bringt, wenn man das Licht anmachen würde. Schwer atmend warte darauf, dass jemand die Treppe hinuntergestürzt kommt und mich einer Tat bezichtigt, doch das geschieht nicht. Stattdessen lassen meine Ohren mir die Information zukommen, dass jemand im Zimmer über mir wohl den, gerade umgeworfenen, Gegenstand wieder aufhebt und dann zum Bett zurücktapst. Kurz überlege ich wem das Zimmer gehört und komme dann zu einem Ergebnis: “Oh man Miles.“ Meine leise Stimme zittert genauso sehr wie der Rest meines Körpers. Langsam normalisiert sich mein Atem wieder und ich beginne mich an den Plan, den ich eigentlich hatte, zu erinnern. Ich glaube, dass ich, nachdem ich die Briefe vertauscht hatte, in Arias Zimmer gehen wollte. Jedenfalls hatte sie mich darum gebeten. Vielleicht will sie mir ja etwas zeigen.
Das Zimmer verlasse ich schnell, aber mit Bedacht darauf niemanden zu wecken und möglichst wenige Geräusche zu erzeugen. Die Treppenstufen knarren unter meinen Füßen, weshalb ich bald nur noch jede Zweite kurz betrete. Wieder oben angekommen, schleiche ich weiter zu Arias Zimmer, in dem sie um diese Zeit wahrscheinlich schlafen müsste. Schließlich steht nicht jeder mehr oder weniger freiwillig nachts auf, um Sachen anderer Leute zu stehlen. Vor der Tür bleibe ich stehen und lege mein Ohr kurz an das Holz. Durch die Tür ist nichts zu hören, obwohl ich eigentlich ein sehr gutes Gehör habe. Ein letztes Mal sehe ich mich verstohlen um, bevor ich die Klinke hinunterdrücke und eintrete.
Zu meinem Erstaunen ist das Zimmer leer. Das Bett ist vollkommen zerwühlt und ein kalter Wind weht durch den kleinen Raum. Erstaunlicherweise ist das Zimmer genauso aufgebaut wie meines. Der einzige auffällige Unterschied ist die Farbe des Holzes, aus dem so gut wie alle Möbel hier bestehen. Der Wind wirbelt mein Haar durcheinander und lässt mich erzittert. Schnell husche ich zum Fenster, welches weit offen steht. Der Rahmen schwingt im Wind hin und her. Ist Aria etwa abgehauen? Ein kurzer Moment des Schocks ergreift mich. Was wenn sie das wirklich getan haben sollte? Würde sie mir das antun? Bei dem Gedanken entsteht ein Kloß in meinem Hals, den ich nicht herunterschlucken kann. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen und ich muss mich auf die Fensterbank stützen. Sie war meinen vertrauteste und wichtigste Person hier. Wenn sie mich nun verlassen hat, habe ich mein Vertrauen in die Seraphinen und die Leute, die sich meine Freunde nennen, wirklich für immer verloren. “Aria? Wo bist du?“, meine Stimme zittert unsicher und heiser. “Ich bin hier“, flüstert plötzlich jemand von draußen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Diese wunderschöne Stimme ist nur mir allzu bekannt. “Wo ist hier?“, flüstere ich ebenfalls.
Da erscheint Arias Kopf plötzlich am Fenster und mir wird bewusst, dass sich auf dem Dach befindet. Sie reicht mir ihre Hand, die ich ergreife und auf die Fensterbank steige: “Wieso sitzt du auf dem Dach?“ Sie antwortet mit einer geschickten Gegenfrage: “Warum nicht? Jetzt komm schnell neben mich.“ Ziemlich ungelenkig klettere ich auf das Dach neben ihr, woraufhin sie noch ein Stück von Fenster abrückt, um mir mehr Raum zu lassen. Sie sieht so sicher aus. Fast so als würde sie öfters auf Dächern verweilen. “Was tust du hier draußen?“, frage ich erneut. “Ich beobachte den Nachthimmel“, erwidert sie und deutet auf einen der Himmelskörper, der wunderschön erstrahlt: “Sieh mal dort.“ “Was ist das?“, frage ich interessiert und rücke ein Stück weiter an das Mädchen neben mir heran, um es aus ihrem Winkel sehen zu können. “Die Erde“, erklärt sie. Wow, schon oft habe ich davon gehört, aber den Planeten noch nie gesehen. Ich habe gehört, dass der Planet nur wegen der vielen Lichter der Menschen leuchten kann. Aus einem Grund, den ich nicht ganz benennen kann, blicke ich in den Himmel ohne meinen Blick abwenden zu können, bis Aria meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zieht: “Hast du es geschafft die Liste zu stehlen?“ Ich beiße mir auf die Lippe: “Sag nicht stehlen. Ich bringe sie ja wieder zurück.“ “Was soll ich dann sagen?“ “Einstecken. Ich habe sie nur kurz eingesteckt, um einen Blick darauf zu werfen und mehr nicht“, versuche ich zu erklären. Ich hatte schließlich nie vor die Liste zu behalten. Jedenfalls glaube ich das. Mit flinken Fingern greife ich in die Tasche, in der sich auch der Brief befindet, und reiche ihr die Liste: “Hier! Danke übrigens, dass du mich vorhin gerettet hast.“ “Gerettet? Ich habe einfach nur gelogen mehr nicht“, erwidert sie: “Außerdem machen Freunde das eben so.“ Freunde! Das Wort klingt aus ihrem Mund wie ein Gebet, doch trotzdem verleitet es mich nicht dazu ihr den Brief, dessen Verfasser meine Schwester ist, zu zeigen. Erst muss ich selbst einen Blick hineinwerfen, bevor sie ihn sehen darf. Nicht dass es nur ein Liebesbrief oder so ist. Das wäre höchst peinlich für mich und auch für sie. Ich reiche ihr das gefaltete Papier, welches sie interessiert entgegennimmt. Bevor sie es jedoch auseinander faltet, stellt sie mir eine Frage, die ich gar nicht erwartet hatte: “Erinnerst du dich an deine Familie?“ Mir ist der Schock ins Gesicht geschrieben, doch ihr zu liebe antworte ich, egal wie sehr es weh tut: “Äh …nicht mehr so richtig. Ich habe ja nur drei Jahre lang mit meinen Eltern erlebt und an eine Schwester kann ich mich ganz und gar nicht erinnern. Und du? Erinnerst du dich an deine?“ Sie nickt nachdenklich: “Ja, ich erinnere mich an jede Einzelheit. Besonders an meinen Bruder.“ Sie wirkt verträumt und komplett in ihre Erinnerungen versunken. “Du hattest einen Bruder?“, frage ich überrascht. Davon hat sie nie etwas erzählt. “Habe“, berichtigt sie: “Er ist nicht tot.“ Ich runzele die Stirn: “Wieso bist du denn dann nicht zu deiner Familie zurückgekehrt?“ Sie blickt niedergeschlagen auf den Boden hinunter: “Ich wurde verraten!“ Am liebsten hätte ich weiter gefragt, doch ihr abschweifender Blick verdeutlicht mir, dass sie keine Fragen mehr hören und beantworten möchte. Sanft hebe ich ihr Kinn mit der rechten Hand an, sodass sie mich ansehen muss. Ihre Augen sind dunkel und voller Trauer. “Ich werde dich nie verraten“, verspreche ich aufrichtig. Sie blickt mir tief in die Augen und streicht dann mit ihren Fingern über meinen Arm. Ihre Berührung hinterlässt einen prickelnd warme Spur auf meiner Haut: “Und ich verspreche das Gleiche!“ Sie wird mich also nicht verlassen. Mich nie enttäuschen. Jedenfalls würde sie es mit Sicherheit nie absichtlich tun. Unterbewusst nehme ich wahr, wie sie näher an mich heranrückt und spiegle ihre Bewegung. Plötzlich treffen sich unsere Lippen und alles um mich verschwimmt. In meinem Bauch fliegen eintausend Schmetterlinge und richten ein Chaos der Emotionen an. Ich lege meine Hand an ihre Wange, um den Kuss zu vertiefen und Aria lässt es zu, doch wenige Sekunden später lösen wir uns wieder voneinander. Aria starrt mich mit großen Augen an. Sie wirkt überrascht und stammelt: “Tut …tut …mir leid. Ich wollte …“ “Schon gut!“, erwidere ich nur und sie senkt den Blick. Diese peinliche Stimmung zwischen uns wieder loszuwerden, nehme ich ihr die Liste aus der Hand und falte sie auseinander. Darin stehen mehrere Namen untereinander aufgelistet. Als ich bemerke, dass Aria mir nicht ihre volle Aufmerksamkeit schenkt, stoße ich sie sanft an: “Konzentrier dich bitte. Das ist wichtig.“ “Ich weiß“, ihre Stimme klingt glasig, wovon ich mich aber nicht ablenken lasse. Wir sollten später darüber reden, was gerade passiert ist und uns jetzt lieber konzentrieren. Egal wie schwer es mir fällt. Mit dem Finger fahre ich über das Papier und bleibe an einigen der Namen stehen. Stella Valerios! Aria Martin! Ruby Smith! An einem bestimmten Namen bleibt mein Finger dann stehen und ich tippe darauf: “Hier! Ich habe den Namen gefunden.“ Dort steht es schwarz auf weiß in Hilley über ordentlicher Handschrift. Nun scheint sich Aria auch wieder besonnen zu haben und blickt auf den Zettel hinab: “Sarah Montgomery!“ “Das heißt, dass sie die Erdkräfte hat, wenn Wasser, Luft und Feuer schon vergeben sind, oder?“, frage ich nachdenklich: “Jetzt müssen wir ihr nur noch die Kette umlegen und können dann ein letztes Mal testen, ob sie die Kräfte hat.“ Ich nicke und blicke dann zum Fenster: “Ich sollte jetzt in mein Zimmer zurückgehen. Schon die halbe Nacht ist vorbei und ich brauche genügen schlaf, um unsere Pläne durchziehen zu können.“ Niedergeschlagen nickt sie. Es tut mir weh sie so zu sehen, weshalb ich nochmal ihre Hand nehme und sage: “Wir sehen uns morgen wieder, okay?“ Sie hebt den Kopf und schenkt mir ein kurzes Lächeln: “Natürlich!“ Bevor ich meine Meinung ändere und doch hier bleibe, klettere ich über das Dach zurück auf die Fensterbank und verlasse, dann klang heimlich das Zimmer.