Alles in allem war ein polizeiliches Verhör dem Verhör durch die Mafia vorzuziehen. Dennoch tat Pakhet sich schwer, sich zu entspannen. Die Fesseln, die sie an den Tisch banden, halfen nicht. Deswegen hasste sie Einsätze auf amerikanischen Boden.
Sie hätte weniger Probleme damit, wäre dies eine Polizeistation in England oder Frankreich, in Schweden oder Finnland, ja, sie würde Iran, Irak, Afghanistan bevorzugen oder China, selbst wenn dort Folter eine Möglichkeit war. Doch wenigstens waren die Chancen dort geringer, dass jemand Joanne in irgendeinem Computersystem entdeckte.
Hier, in Los Angeles … Hier war sie nur einen glücklichen Zufall aus Perspektive der Polizei davon entfernt, dass jemand Joanne Snyder in einem System fand. Ihre Akten aus der Zeit an der Schule. Ihre Akten von Militär. Einsätze der Marine. Ihre Geschichte. Ihren „Terror“. Ihren Tod. Würde man sie finden, würde man feststellen, dass sie noch lebte … nun, sie wusste nur zu genau, wie Amerika mit Terroristen umging. Und sie war sich tatsächlich nicht sicher, ob sie ein chinesisches Gefängnis nicht doch bevorzugt hätte.
Die Tür wurde geöffnet und ein recht junger Mann kam herein. Beinahe zu jung für die Polizei. Sein Gesicht wirkte Milchbubenhaft. Er hatte Unterlagen dabei, wie im besten Klischee. Wahrscheinlich würde er den „Good Cop“ spielen, denn den „Bad Cop“ würde sie ihm nicht abkaufen.
„Guten Tag“, meinte er, als er sich ihr gegenüber setzte. Er rückte seine Uniform etwas zurecht, wirkte nervös. Vielleicht war es auch nur gespielt.
„Guten Tag“, erwiderte sie und bemühte sich darum, den britischen Akzent zu halten, der ihr eigentlich weniger lag.
„Ich muss ihre Identität bestätigen, wie Sie vielleicht wissen.“ Er räusperte sich. „Sie sind Ms Maria Barkley?“
„Ja“, log Pakhet. Wie auch immer Michael wieder auf diesen Namen gekommen war. Doch sie musste ab und an ihre Identitäten wechseln.
Der Mann räusperte sich wieder. „Gut. Ähm.“ Ein böser Cop war er definitiv nicht. „Ich bin Officer Fredricks.“
„Guten Tag, Officer Fredricks“, erwiderte Pakhet und versuchte nicht zu zynisch zu klingen. Sie wollte aus der Situation heraus. Wie sehr sie doch herauswollte. Aber sie musste warten. Entweder auf den richtigen Moment oder bis Michael etwas in die Wege leitete. Wenn er denn etwas in die Wege leitete.
Natürlich konnte es auch sein, dass er es war, der die Hinweise geliefert hatte. Die Hinweise, die die Polizei zum Hotel geführt hatten.
Der Polizist war unsicher, was er darauf sagen sollte.
Also half Pakhet ihm nach. „Sie könnten mir vielleicht erst einmal verraten, wieso sie mich hierher gebracht haben.“
„Nun, ähm …“ Okay, selbst für einen „Good Cop“ war der Junge zu unsicher. Wer war er? Der Praktikant? „Es gibt Zeugen, die meinen Sie am Tatort des Mordes von Hernandez Rodriguez gesehen zu haben. Und Sie hatten Waffen in Ihrem Besitz.“
Tja, letztere waren in Californien definitiv komplizierter, als in anderen amerikanischen Staaten. „Es gibt Menschen, nehme ich an, die glauben jemanden, der aussah, wie ich, bei dem Mord gesehen zu haben“, meinte sie.
„Ähm, nun, ja, das …“, stammelte der Polizist. Wann ihm wohl jemand zur Hilfe käme?
„Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber ich bin ein Krüppel“, meinte Pakhet und bewegte ihren Armstumpf. „Und ich bin mir übrigens nicht gänzlich sicher, ob es wirklich im amerikanischen Recht ist, dass Sie mir meine Prothese abgenommen haben. Denn soweit ich weiß, gilt so etwas auch in Ihrem Land als entwürdigend und solange keine konkrete Gefahr von mir ausgeht, haben Sie kein Recht so etwas zu tun.“
Der hilflose Blick des Jungen wanderte zum Spiegel in der Wand, hinter dem fraglos zwei bis drei weitere Polizisten saßen.
Hoffentlich spielte sie es nicht zu taff. Es funktionierte, um diesen Jungen zu verunsichern, aber es konnte auch verraten, dass sie über bestimmte Abläufe mehr wusste, als sie sollte. Immerhin war „Anwalt“ nicht Teil ihrer Persona. Maria Barkley war eine Doktorantin der Chemie, die einen Urlaub von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Einmal LA und Hollywood. Ob das taffe Verhalten da passte? Auf der anderen Seite sagte man, dass an der Universität nur die Starken überlebten – nicht, dass Pakhet damit je hatte Erfahrung sammeln können. Nicht, dass sie auch nur ein Interesse daran gehabt hatte.
„Ich möchte meine Prothese wiederhaben“, meinte sie mit Nachdruck. Dann setzte sie ein halbherziges „Bitte“ hinterher.
Schritte von draußen. Dann wurde die Tür zum Verhörraum geöffnet. Ein älterer Polizist mit Bart und – Klischees kamen nicht von irgendwo – einer Tasse Kaffee in der Hand betrat den Raum.
„Fredricks“, meinte er scharf.
Der junge Mann rückte zur Seite, stand auf, verließ den Raum aber nicht, während der ältere sich nun Pakhet gegenüber niederließ.
Da war er. Der „Bad Cop“. Jedenfalls interpretierte sie den Gesichtsausdruck des Mannes so.
„Ms Barkley“, meinte er, „Sie haben sich ganz schön in Probleme gebracht.“
„Ja, ich merke auch, dass es eine schlechte Idee war, die USA zu besuchen“, erwiderte Joanne.
„Können Sie mir sagen, warum Sie eine -“ er zog die Unterlagen, die sein Kollege mitgebracht hatte „- SIG Sauer P250 und eine High Standard .22 auf Ihrem Hotelzimmer hatten?“
Pakhet biss sich auf die Unterlippe. Nicht, weil es ein Tick ihrer selbst war, sondern weil es glaubwürdiger wirkte. „Ich sammele Waffen. Ich habe einen Waffenschein für die UK. Die SIG Sauer habe ich von meinem Vater bekommen. Er ist Waffennarr, wissen Sie? Also wir dürfen auch in den UK Waffen haben, so ist es nicht. Also wenn man einen Schein hat natürlich.“ So klang sie etwas verunsicherter. Das würfe ihm, der er sich nicht einmal vorgestellt hatte, vielleicht das Gefühl geben, dass er sie einschüchterte.
„Und die High Standard?“, fragte er.
„Die habe ich vor drei Tagen gekauft.“ Sie wich seinem Blick gekonnt aus und fixierte den Spiegel. Wie viele Polizisten wohl dahinter saßen? „Auf so einer Ausstellung. Ich war auf so einer Tagesreise landeinwärts dabei und wir sind da vorbei gekommen … Darf ich das etwa nicht?“
„Ich sage Ihnen, was Sie nicht dürfen“, meinte er und genoss ihre gespielte Unsicherheit viel zu sehr. „Sie dürfen nicht mit einer Waffe einreisen, ohne dies vorher zu beantragen. Woher sollen wir bitte wissen, dass sie keine Terroristin sind, die einen Anschlag plant.“ Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnauzer. „Wie haben Sie die Waffe überhaupt reingeschmuggelt bekommen?“
„Ich habe die Waffe nicht geschmuggelt!“, verteidigte sich Pakhet und gab ihrer Stimme jenen verzweifelten Nachdruck, den er hoffentlich hören wollte. „Ich hatte die normal in meinem Koffer. Ist ja nicht meine Schuld, wenn Ihre Flughafensicherheit die nicht sieht.“ Natürlich stimmte dies nicht ganz und sie hatte ihre Möglichkeiten Waffen im Gepäck verschwinden zu lassen. Es stimmte allerdings schon, dass sie die High Standard nicht eingeführt hatte. Sie hatte einem von Rodriguez' Goons gehört und war modifiziert. Pakhet hatte eigentlich vor gehabt, sich den Griff einmal genauer anzusehen.
„Sie haben die Waffe aber nicht bei Ihrer Einreise angegeben“, erwiderte der Mann. „Gerade wenn Sie und Ihr Vater es so mit Waffen haben, sollten Sie eigentlich wissen, dass es dafür formale Abläufe gibt, oder?“
Das war eine valide Antwort.
Pakhet presste ihre Lippen zusammen. Wie redete sie sich als Maria Barkley aus der Sache heraus? „Aber ich habe eigentlich einen Antrag ausgefüllt und eingereicht.“ Die Chancen, dass die Polizei bereits solche Unterlagen bekommen hatte, waren gering. Die Bürokratie arbeitete langsam.
„Dann sind sie also irgendwo unseren Leuten abhanden gekommen?“ Der alte Cop klang sardonisch.
„Ja. Wahrscheinlich. Was weiß ich.“ Ihre Antwort war genervt und verzweifelt. Sie musste sie irgendwie dazu bringen, sie auf Kaution rauszulassen. Dann konnte sie verschwinden. Sie hatten keine konkreten Beweise – jedenfalls, bis sie die High Standard dem Handlanger des Drogenschmugglers zuordneten. Und bis dahin war sie besser draußen.
Einmal draußen kam sie schon aus dem Land heraus. Im Notfall über Mexiko oder Kanada. Von hier aus eher Mexiko.
„Sicher“, murrte der alte Polizist nur und blätterte weiter in den Unterlagen.
„Was meinen Ihre Zeugen eigentlich genau gesehen zu haben?“, fragte Pakhet gereizt.
„Eine Frau mit kurzen roten Haaren, die in der Nähe Ihres Hotels auf ein Motorrad gestiegen ist. Ein Motorrad, dass in der Nähe des Hauses gefunden wurde, in dem Rodriguez ermordet wurde.“ Dabei ließ er die ganze Zeit aus, dass Rodriguez ein gesuchter Drogenschmuggler mit einem Vorstrafenregister, das wahrscheinlich ein halbes Kabinett füllte, war. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass Pakhet sich genau mit so etwas verteidigte. Doch sie tat es nicht. Natürlich nicht. Maria Barkley wusste nicht, wer Rodriguez war.
„Trug die Frau eine Prothese?“, fragte Pakhet daher.
Der Polizist zögerte. Natürlich. Sie hatte einen Glamour und eine modifizierte Prothese getragen. Im Zusammenhang würden es Zeugen, die sie nicht ausführlich betrachtet hatten, diese nicht bemerkt haben.
„Trug die Frau eine Prothese?“, wiederholte sie.
„Darüber können wir zum Jetzigen Zeitpunkt nichts sagen“, meinte der ältere Polizist.
„Das habe ich mir gedacht“, meinte sie. „Soll ich Ihnen was sagen? Es ist praktisch unmöglich mit einer Prothese ein Motorrad zu fahren, dass nicht modifiziert wurde dafür. Bis ich meinen Unfall hatte, bin ich selbst gefahren. Und jetzt …“ Wieder wedelte sie mit ihrem Armstumpf. „Und wenn sie mir sonst nicht glauben: Ich kann nicht Motorrad fahren. Nicht so.“
Dies verunsicherte selbst diesen „Bad Cop“. Er schaute auf die Unterlagen, wo wahrscheinlich auch jemand etwas zu der Prothese geschrieben hatte. Etwas, das Joanne hasste, denn es war eine der stärksten Verbindungen mit Joanne Snyder, die sie hatte.
Sie atmete tief durch. „Ist es nicht normal so, dass man Recht auf irgendeinen Anwalt hat oder einen Anruf oder darauf, auf Kaution rauszudürfen? Ich würde gerne meine Eltern anrufen.“ Michael würde sich köstlich amüsieren, wenn sie ihn „Dad“ nannte.
Die beiden Polizisten tauschten Blicke. Dann seufzte der ältere Mann. „Wir sind noch nicht fertig.“
„Aber der Anruf ist mein Recht, oder?“
Ein weiterer, tiefer Seufzer. Dann: „Ja.“