- Start: 28.09.2020 - 21:27 Uhr
- Ende: 28.09.2020 - 22:01 Uhr
"Heute lernen wir einen der gefährlichsten und gleichzeitig häufig genutzten Stunts kennen." Frau Marsin sicherte sich die Aufmerksamkeit der Klasse, indem sie mit dem Zeigestock auf die Tafel schlug.
Zwölf Kinder in weißen Uniformen sahen auf. Das weiße Neonlicht ließ die Wächternovizen blass und müde aussehen - nun, blasser und müder, als sie sowieso bereits waren. Die Braunhaarige in der ersten Reihe rieb sich angestrengt die Augen.
"Elizabeth!", rief Frau Marsin. "Komm doch bitte einmal an die Tafel."
Leicht panisch sah Lizzy auf. "I-ich?"
"Heißt hier sonst noch jemand Elizabeth?", schimpfte Frau Marsin. "Wird's bald?"
Mit einem leisen Seufzen schob Lizzy ihren Stuhl zurück und trat an die Tafel. Die Lehrerin drückte ihr eine Kreide in die Hand, dann wandte sie sich zur Klasse und erklärte: "Einer der beliebtesten Kunstgriffe der modernen Geschichten ist die 'Rettung in letzter Sekunde'. Ein Werkzeug aus der billigen Trickkiste, um die Spannung bis zum letztmöglichen Moment hochzuhalten, um dann möglichst dramatisch und actiongeladen aufzulösen. Üblicherweise läuft es so ab, dass der Held oder die Helden in eine auswegslose Situation geraten. Dann ..."
Lizzy unterdrückte ein Gähnen. Nicht, dass praktische Geschichtenmagie sie nicht interessieren würde, aber dies war das dritte Mal, dass sie diese Lektion erhielt. Da sie die Abschussprüfung erneut vergeigt hatte, war sie gezwungen, ein komplettes drittes Jahr im Grundkurs auszuharren. Zu allem Überfluss hatte Frau Marsin sie komplett auf dem Kieker. Sie wollte Lizzys Lockenkopf als allererste im Klassenraum sehen und ließ sie als letzte gehen. Lizzy musste in der vordersten Reihe sitzen und natürlich konnte sie Gift darauf nehmen, dass ihre Hausaufgaben dreimal so kritisch beurteilt wurden wie die der Anderen. Natürlich meinte Frau Marsin es nur gut. Sie wollte nur verhindern, dass Lizzy erneut durchfiel, denn dann wären ihre Träume von einer Karriere im Außendienst dahin und sie würde den Rest ihres Lebens Toiletten schrubben oder in der Kantine für die anderen Wächter kochen.
Dabei war sie noch lange nicht sicher, ob sie im Außendienst wirklich überleben würde.
Die meisten Schulstunden durfte sie immerhin in Ruhe sitzenbleiben, aber die heutige Stunde versprach, besonders anstrengend zu werden.
"Wer von euch kann mir Beispiele nennen? Elizabeth, du schreibst mit."
Frau Marsin hatte sich offenbar an Lizzys Anwesenheit in ihrem Rücken erinnert. Folgsam machte Lizzy den ersten Punkt einer Liste.
Jemand in der Klasse meldete sich: "Herr der Ringe, die Schlacht von Helms Klamm. Gandalf taucht auf, als es schon fast keine Hoffnung mehr gibt."
"Sehr gut, ein Klassiker!", lobte Frau Marsin. Lizzy notierte 'Helms Klamm'. "Weitere Ideen?"
"Was ist mit der Endschlacht am Schicksalsberg?", fragte jemand.
"Melden, Samstag!", rief Frau Marsin. "Aber eine gute Frage. Am Schicksalsberg handelt es sich nicht um ein 'Rettung in letzter Sekunde', da spielt mehr mit rein. Ein 'Redemption' in Gollum - sofern man nach dem Buch geht -, ein 'Sacrifice' in den Menschen und natürlich der allseits beliebte blinde Gegenspieler."
Weitere Vorschläge prasselten herein. Lizzy füllte die Tafel in möglichst lesbaren Buchstaben und versuchte, nicht einzuschlafen. Es lag eine lange Nacht hinter ihr. Und vor ihr. Zusätzlich zu den Hausaufgaben türmten sich Strafaufgaben, und nicht zuletzt musste sie sich um ihr Mündel kümmern.
"Was ist mit griechischen Theaterstücken?", fragte die Stimme besagten Mündels soeben. "Der Eingriff der Götter?"
"Das, Elaine, ist ein 'Deus ex Machina', das gehört zur Allgemeinbildung."
Lizzy schloss die Augen. Dass Lay nicht aus dieser Welt stammte, wusste kaum jemand, und dabei sollte es bleiben. Sie hatte ihrer Freundin mehrfach eingeschärft, im Unterricht einfach den Mund zu halten!
"Das ist mir schon klar", fuhr Elaine fort. "Aber es ist ein klassischer Fall, wo der Held im letztmöglichen Moment gerettet wird, noch dazu von einer Kraft von außen. Und das, wie ich bemerken darf, äußerst dramatisch. Dramatischer als Götter im alten Griechenland ist ja schwer möglich."
Ein paar ihrer Mitschüler kicherten. Lizzy schrieb so leise wie möglich 'Zeus!' an die Tafel.
Natürlich hörte Frau Marsin das Kratzen der Kreide dennoch. Sie drehte sich um und funkelte Lizzy an. "Elizabeth, wenn du den Unterricht hier nicht ernst nehmen willst, bist du herzlich eingeladen, zu gehen!"
"Ich finde, Lay hat schon irgendwo recht."
"Natürlich hat sie das!", fauchte Frau Marsin. "Der 'Deus ex Machina' und die 'Rettung in letzter Sekunde' sind eng miteinander verwandt. Aber in der praktischen Anwendung gibt es einen entscheidenden Unterschied: Der 'Deus' kommt aus dem Nichts, ohne vorherige Einführung oder Erklärung. Eine 'Rettung' wurde üblicherweise angekündigt. Und ihr seid, wenn ihr da draußen seid, keine Hauptfiguren. Ihr habt keinen Protagonistenschutz, ihr seid nicht einmal Nebenfiguren. Wenn ihr in Gefahr seid, könnt ihr so viele 'Deus' wirken, wie ihr wollt: Es wird kein Gott auftauchen und euch retten." Frau Marsin atmete durch. "Ja, ihr kennt diese Geschichten, wo es doch einmal klappt. Wisst ihr, was diese Geschichten so bemerkenswert macht? Dass es selten ist, dass ein fiktiver Gott entscheidet, einem eingedrungenen Wächter zu helfen, der nicht in die Geschichte gehört. Es ist unzuverlässig. Ich kann es nicht genug betonen: Ihr seid ein Nichts in Phantasma. Die Welt eurer Bücher und Filme hat harte Gesetze und das dürft ihr keinen Moment vergessen. Viel zu viele gute Novizen und Wächter sind bereits gestorben, weil sie sich trotz allem, trotz aller Warnungen, wie ein Hauptcharakter gefühlt haben: Unsterblich."
Lizzy senkte den Blick.
Etwas sanfter fuhr ihre Lehrerin fort: "Was nicht bedeutet, dass euch niemals ein 'Deus' begegnen wird. In diesen Momenten dürft ihr nicht zögern. Solche Wunder sind flüchtig, und wenn ihr euch nicht spurtet, werden am Ende nur die Figuren gerettet und ihr zurückgelassen."
Lizzy wischte den letzten Punkt von der Tafel und seufzte leise.
Für andere Menschen mochte ihr zukünftiger Job paradiesisch klingen: Durch Fantasywelten jenseits aller Vorstellungskraft reisen, von Bestsellern zu unveröffentlichten Epen. Mit Figuren interagieren, die sich in Phantasma so real anfühlten wie echte Menschen.
Doch die Realität in der Welt der Fantasie war ein ganzes Stück gefährlicher und brutaler, als man sie sich geschützt hinter den Seiten eines Buches ausmalte. Obwohl sie offiziell noch gar nicht nach Phantasma durfte, hatte Lizzy diese Lektion bereits mehr als einmal erfahren müssen. Während Frau Marsin nun zur Praxis überging und der Klasse die Beschwörung für die 'Rettung in letzter Sekunde' beibrachte, konnte Lizzy nur daran denken, dass nicht jeder Held am Ende vor dem Verderben gerettet wurde. Und ein Wächter, der in der Geschichte niemals mehr als ein gesichtsloser Statist sein durfte, erst recht nicht.