- Start: 29.09.2020 -14:04 Uhr
- Ende: 29.09.2020 - 14:33 Uhr
"Hey! Aufstehen!"
Jemand hämmerte mit aller Macht gegen Combers Tür. Stöhnend wälzte sich der junge Kobold auf die Seite. "Wie spät ist es?"
"Sonnenaufgang!", antwortete Jaxin durch die Tür. "Und dein Training beginnt jetzt."
Blinzelnd stemmte sich Comber hoch. Er hatte die Matratze in der Nacht auf den Boden gezogen und dort geschlafen, weil ihm das wackelige Holzgestell des Bettes zu unheimlich gewesen war. Die Kälte war durch das Stroh in seine Glieder gezogen.
Jaxin war weitergegangen und überließ Comber seiner Morgenwäsche. Fröstelnd tappte der rothaarige Kobold über den eisigen Steinboden und zur Waschschüssel, wo er sich etwas Wasser ins Gesicht spritzte. Langsam wich die Müdigkeit.
Er suchte unter den Schuhen, die ihm von den Drachenfreunden zur Verfügung gestellt waren, nach einem Exemplar, das nicht zu groß war. Dann streifte er die Flickenjacke über und zog die Weste aus Drachenleder und -fell darüber.
Das war mit Sicherheit nicht die intelligenteste Kleidungswahl. Unter den Rebellen hielten ihn sowieso alle für einen Verräter und Spion, aber er besaß keine andere Jacke und war selbst so vermutlich zu dünn angezogen.
Fröstelnd und in viel zu großen Stiefeln trat er aus dem kleinen Zimmerchen und spähte den Gang hinauf und hinunter. Als er niemanden sehen konnte, huschte er hinaus und lief über die Wiesen bis zu den kleinen Holzverschlägen.
Jaxin erwartete ihn bereits. Der dunkelhaarige Mensch trug eine vollständige Uniform, die perfekt saß, und musterte Combers Auftritt kritisch. Dann öffnete er die Tür wortlos und sie traten in den Stall.
Fiepsen und Piepsen begrüßte sie. Comber musste unwillkürlich kichern, als mehrere Drachenküken an seinen Beinen hochsprangen und versuchten, seine Hände abzulecken.
"Dreh dich weg, wenn sie das machen", knurrte Jaxin. "Wir müssen ihnen das abgewöhnen, bevor sie ausgewachsen sind."
Schweren Herzens verschränkte Comber die Arme und drehte den aufgeregten Küken den Rücken zu, bis diese sich gehorsam vor ihn setzten. Zwei grüne Schuppendrachen balgten sich fauchend.
"Wann kann ich zu Drogan?", fragte Comber leise.
"Deine Drachin wird noch untersucht", gab Jaxin knapp zurück. "Aber vermutlich wird sie die nächsten Wochen im Spital bleiben und vernünfiges Futter bekommen." Der unausgesprochene Vorwurf hing überdeutlich in der Luft.
Comber wich Jaxins Blick aus. Er hatte sich doch nicht freiwillig für diesen Weg entschieden! Er hatte sich keinen Drachen gewünscht und erst recht nicht den Ärger, den ein wildes Tier mit sich brachte.
"Da die oberen Drachen entschlossen haben, das du bleiben darfst, wirst du mitanpacken", verkündete Jaxin. "Ich würde dich ja einfach zum Mistschippen verdonnern, aber heute gibt es eine wichtigere Aufgabe: Diese Küken müssen flügge werden. Da ihre Mütter nicht mehr da sind, um es ihnen beizubringen, werden wir eben unser Bestes tun."
"Wir bringen ihnen fliegen bei?", fragte Comber erstaunt.
Jaxin nickte knapp. "Nimm dir einen der Körbe und pack so viele Drachen wie möglich ein!"
An einer Wand des Stalls lehnten zwei große Weidenkörbe mit Riemen, um sie wie Rucksäcke tragen zu können. Nach und nach füllten Jaxin und Comber die Körbe mit aufgeregten Drachenkindern der verschiedensten Arten.
Dann schulterten sie die Körbe. Jaxin führte Comber durch den an das Lager grenzenden Hain auf einen kleinen Hügel, der auf der einen Seite steil zu einem kleinen Steinbruch abfiel. Die Blätter begannen bereits, sich zu verfärben. In seiner dünnen Jacke zitterte Comber leicht, doch durch das Laufen wurde ihm rasch warm.
Auf dem Hang angekommen sahen sie in den grauen Himmel. Der Wind war frisch und stark und trieb vereinzelte Wolken vorbei.
"Perfektes Wetter", urteilte Jaxin und setzte seinen Korb ins taufeuchte Gras. Die Sonne erhob sich nur langsam über dem waldigen Tal. Ihre Strahlen vermochten es nicht, das diesige Grau zu durchbrechen.
Sie entließen die Drachenküken auf die Wiese und ließen sie eine Weile herumtollen. Comber schwieg, weil Jaxin ihn demonstrativ ignorierte.
Er nahm es nicht persönlich. Er war vor zwei Tagen aus der Wildnis aufgetaucht, einen verletzten Drachen bei sich, und trug das Tattoo der Drachenjäger. Wieso sollte irgendeiner der Drachenfreunde ihm vertrauen?
Schließlich bückte Jaxin sich und hob den ersten Drachen auf. "Pass gut auf, Neuling. Du musst sie vor dich halten und genau auf den Drachen achten."
Zögerlich ergriff Comber ein zweites Jungtier und trat neben Jaxin. Er hatte einen kleinen, schwarzen Drachen mit weiß-grauen Federn gewählt.
"Wenn sie bereit sind, zu fliegen, spürst du das in ihrer Haltung. Sie richten sich instinktiv zum Wind und breiten die Flügel aus. Aber nur, wenn sie richtig auf die Böen reagieren, darfst du sie loslassen."
"Richtig reagieren?", fragte Comber.
"Du musst ein Gespür entwickeln", antwortete Jaxin kurz angebunden. Konzentriert sah er seinen geschuppten, grünen Drachen an, der neugierig im Wind schnupperte und versuchte, die Luft zu beißen. Er flatterte mit den Schwingen und hatte den bedornten Schwanz um Jaxins Handgelenk geschlungen.
"Der hier ist noch nicht so weit", sagte Jaxin nach einer Weile und setzte das Küken zurück.
Comber sah auf seinen eigenen Drachen. Der Schwarze sah regungslos in den Wind und hatte die Flügel leicht aufgespannt. Sein Schwanz war zu kurz, um etwas zu umklammern, doch irgendwie wirkte er nicht, als wolle er sich festhalten. Langsam reckte er sich vor ...
Comber spielte nervös mit der Zunge an den Zähnen. Dann schwang er die Arme leicht hinauf und zog sie nach unten. Die kleinen Krallen des Drachen lösten sich von seiner Hand: Das Tierchen hielt sich selbstständig mit den Flügeln in der Luft.
Einen Moment schwebte der Drache vor Comber. Dann schlug er mit den Flügeln und sauste urplötzlich in die Tiefe.
Comber schrie auf. Doch das gefiederte Tier fing sich kurz vor dem Boden des Steinbruchs und flitzte geschickt zwischen den Felsen hin und her.
"Sehr gut!" Jaxin klang erstaunt. "Das ... das war ausgezeichnet."
Comber strich sich nervös durch die kurzen Haare. "So ... so habe ich Drogan das Fliegen beigebracht."
Jaxin trat neben ihn. Gemeinsam sahen sie dem kleinen Drachen bei seinem ersten Flug zu. "Sie sind geborene Flieger. Sobald sie einmal in der Luft sind, können sie ohne jedes Problem fliegen. Es ist jedes Mal wieder schön zu sehen."
"Es ist wirklich toll", murmelte Comber leise. Ein verzücktes Lächeln hatte sich auf seine Lippen gestohlen. Er musste an Drogans ersten Flug denken und wie sehr er damals um seinen Drachen gebangt hatte.
Jaxin stieß ihn an. "Tja, bei dir ist vielleicht doch nicht alle Hoffnung verloren. Aber jetzt genug gefeiert, wir haben noch viel vor uns!"