- Start: 04.11.2020 - 18:03 Uhr
- Ende: 04.11.2020 - 18:23 Uhr
Tief in der dunkelsten Höhle flackerte das neugeborene Bewusstsein wie die Flammen seiner grausigen Macht. Nur in dieser Schwärze fand Drak'haur Ruhe und Zuflucht.
Er hatte Schmerzen, wenngleich er noch nicht lange genug existierte, um sie genau benennen zu können. Er mochte die Schmerzen. Sie erinnerten ihn an seinen Vater. Schöpfer. Schöpfervater.
Langsam veränderte er seine Gestalt. Schuppen wichen Haut. Klauen und Pranken wurden zu Füßen und Händen. Die Hörner und Flügel des schwarzen Drachen schrumpften.
Nachdenklich betrachtete Drak'haur seine Gestalt in der undurchdringlichen Finsternis. Schwärze war für ihn nicht anders als Licht, doch sie brachte ihm die ersehnte Stille, um seine Gedanken zu ordnen.
Dies war also die Gestalt seines Schöpfers. Nachdem er im Panzer eines Drachen aufgetreten und mit seinen Schwingen geflogen war, erschien der Leib eines Menschen lächerlich schwach und zerbrechlich. Nein, Drak'haur mochte diese Gestalt nicht. Er würde wieder zum Drachen werden, bald. Oder zu einem anderen mächtigen Wesen dieser Welt. Seine Geburt lag wenige Stunden zurück, und doch bestand er aus so uralten Elementen, dass er ihre Erfahrung in sich aufgenommen hatte. Trauer. Zorn. Angst. Von der Angst wusste er, welches die gefährlichsten Kräfte von Luriwea waren. Die Drachen schliefen schon lange, die Sonnenadler waren beinahe vergessen. Doch es gab Dinosaurier, Nebelwölfe und Stürme. So wunderbare Gestalten, die er wählen könnte.
Im Moment waren die Daumen jedoch sehr praktisch. Menschen waren seltsame Wesen, doch ihre Fähigkeit zur Herstellung war bewundernswert. Drak'haur wanderte durch die Höhle und bückte sich.
Im Eingang lag, was von seinem Schöpfer geblieben war. Das Fleisch war bis auf den Knochen aufgefressen worden von der Säure, die Drak'haurs Fleisch bildete. Es waren köstliche Schmerzen gewesen, die Drak'haurs Hunger entfacht hatten.
Er wollte mehr davon.
Doch dafür brauchte er mehr von sich.
Er trug die Knochen zur Mitte der Höhle. Dann kniete er sich hin. Als er eine Hand ausstreckte, bildete sie sich zur Drachenklaue um und schöpfte ein großes Loch aus dem soliden Stein. Die Reste verdampfte der Schatten in seiner Faust, dann formte er die Hand zurück und bettete die Knochen des Menschens in die Kuhle.
Diese Welt bereitete ihm Angst. Aber er wollte keine Angst empfinden - er wollte Angst sein. Jede Furcht, jeder Zorn und jede Trauer nährte ihn.
Und was taten Menschen, wenn sie Angst hatten und hungrig waren? Sie entfachten ein Feuer!
Vorsichtig blies Drak'haur über die Knochen, wie er es aus den flüchtigen Gedankenfetzen seines Vaters kannte.
Dunkle, schwarze Flammen flackerten und verdüsterten die lichtlose Höhle weiter. Grün und purpur tanzten Funken hinauf und Drak'haur haschte nach einigen, sammelte sie in menschlichen Händen und formte sie zu einer neuen Gestalt, die wuchs und wuchs, je mehr Funken er hineinfütterte.
Er formte ein Tier, das er aus dem Gebet seines Schöpfers kannte. Eine Katze. Der alte Mensch hatte sie angerufen, ihn zu erretten, doch vor Drak'haur gab es keine Rettung. Er hatte das Gefühl, das eine mächtige Präsenz versucht hatte, ihm seine rechtmäßige Beute zu entreißen.
Wenn diese Macht sich erneut zeigen wollte, musste Drak'haur bereit sein.
Er betrachtete die geformte Katze. Pechschwarz war sie, mit blutroten Krallen und Fängen und Augen, die golden wie Blitze leuchteten. Diese blinzelten und das Tier blickte ihn an.
Durch die Augen der Katze sah Drak'haur sich selbst, einen schwarzen Menschen mit goldenem Blick. Ein Schatten, der dieser Welt all die köstlichem Emotionen entlocken würde, nach denen es ihn gelüstete.
"Geh hinaus", flüsterte er seinem Kind zu. "Lerne. Und dann ... zerreiß ihr Licht."
Die Katze sah auf und nickte dann. Sie sprang von Drak'haurs Pranke und eilte, begleitet vom Funkenflug, nach draußen.
Die Welt draußen war zu hell für den König der Schattengeister. Es gab zu viel grelle Freude, zu viel stinkenden Mut, zu viel tönende Liebe. Nur in der Finsternis, im Schein seines Feuers, fand er Ruhe vor dem pulsierenden Leben.
Die Flamme der Zwietracht. Sie würde Freundschaft und Liebe und all das verbrennen, was Drak'huar Schmerzen bereitete. Dann würde seine Welt nur noch aus Nahrung bestehen.
Die Menschenhexer oder Drachen oder die weiße Katzengöttin - sie würden ihn nicht aufhalten können. Sein Feuer nährte sich bereits und bald würde es ganz Luriwea verschlingen.