- Start: 20.11.2020 - 23:00 Uhr
- Ende: 20.11.2020 - 23:31 Uhr
>>Höre gut zu, mein Kind, denn dies ist die Geschichte unserer Götter.
Diese Geschichte begab sich in grauer Vorzeit, als die Krallengemeinschaft der Nachtaugen noch zu den Drachen gehörte.
Sie waren eine stolze und wilde Schar. Zwar besaßen sie keinen Feueratem und keinen Schuppenpanzer, aber mächtige Klauen, starke, gefiederte Schwingen, wendige Körper und spitze Fänge. Doch was die Nachtaugen von allen anderen Drachen abhob, waren ihre Augen. Damit konnten sie selbst absolute, lichtlose Finsternis durchdringen, selbst die furchtbarste Schwärze wurde vor ihrem Blick zu grauem Zwielicht, und gleichzeitig scheuten sie auch das Sonnenlicht nicht.
Sie waren keine mächtigen, gepanzerten Feuerspucker und besaßen kein Gift. Sie hatten auch nicht den weisen Blick in die Zukunft, doch trotzdem war diese kleinste Drachenart ihren Verwandten mehr als ebenbürtig.
Doch leider, mein lieber Junge, währte ihre Herrschaft nicht ewig. Denn du musst wissen, dass die Nachtaugen einen großen Makel besaßen, der sich auch heute noch in dir und mir zeigt, in ihren Nachfahren.
Und zwar waren sie schnell gelangweilt. In ihrer Rastlosigkeit wurde ihnen die normale Jagd öde. Sie begannen, mehr Beute zu erlegen, als sie für ihren Lebensbedarf brauchten. Es dauerte nicht lange, und sie töteten wahllos, spielten mit ihren Opfern, hetzten sie bis zum Tode und ließen sie dann unangerührt zurück.
Zu ihren Opfern zählten jene, die du heute als Vögel und Mäuse kennst. Doch damals besaßen die Vögel noch keine Schwingen, um zu fliehen.
Die anderen Drachen beobachteten das Wirken der Nachtaugen mit Sorge. Schließlich konnten sie nicht länger zusehen, und sie griffen ein.
Nun waren die Nachtaugen zahlreich und mächtig. Die Drachen mussten sich zusammenschließen, um sie zu überwältigen. Das war ein furchtbarer und kurzer Kampf damals. Die Erde bebte vom Widerhall der Magie. Brüllen erklang wie Donner und aus dem Himmel regnete es Feuer, Gift und Eis.
Schließlich wurde die Macht der Nachtaugen überwunden. Die Anführer der vielen Drachenvölker berieten über die Strafe für die Krallengemeinschaft. Sie entschieden, den Nachtaugen ihre Schwingen zu nehmen, und diese als Entschädigung an ihre Opfer zu geben. Und so taten sie es auch! Seit diesem Tag haben die Vögel Schwingen, und sie lernten rasch, den Himmel zu erobern. Das Fliegen war ihr ganzer Stolz. Noch heute singen sie Loblieder auf die Drachen, die ihnen dieses Geschenk machten.
Nun waren aber fast alle Flügel aufgebraucht und für die Mäuse, die als zweite Gruppe viel unter den Nachtaugen gelitten haben, blieben nur wenige Flügelpaare übrig. Diese gingen an die Vorfahren der Fledermäuse, doch die Drachen zögerten. Wie sollten sie die anderen Mäuse entlohnen?
Da nahmen sie den Nachtaugen einen Teil ihres berühmten Augenlichts und gaben es an die Mäuse, sodass diese sich immer verbergen konnten. Und die Fledermäuse steuerten ihren kleinen Beitrag, deswegen sind die meisten Fledermäuse heute blind.
Nun waren die Nachtaugen ihrer Schwingen und ihres besonderen Augenlichts beraubt, wenngleich sie noch immer gut im Dunkeln sehen können, wie du selbst sehen wirst, wenn sich deine Augen erst öffnen.
Gedemütigt zog die Schar in die Berge. Dort lebten sie ein Jahr, versteckt vor der Welt, als ihnen in einer tiefen Höhle eine Tochter geboren wurde.
Ihr Fell war so weiß wie der Schnee, doch als die Zeit kam, da sie ihre Augen öffnen sollte, da war ihr Blick ebenso weiß - und leer!
Denn sie war blind geboren in der finsteren Höhle.
Da ergriff Angst die Nachtaugen. Sie ahnten, dass sie auch den Rest ihres Augenlichts verlieren würden, wenn sie blieben, und so flohen sie das Gebirge. Die junge Tochter aber, die Atama mit Namen hieß, ließen sie zurück.
Die Nachtaugen verteilten sich im großen Waldtal, wo wir noch heute leben. Das blinde Kätzchen aber irrte durch den Schnee hoch droben in den Bergen. Es war klein und schwach und verängstigt. Die Kälte setzte ihm zu und keinen Trost gab es für sie.
Bis Atama im dichten Schneetreiben eine Stimme hörte. Ein feines Piepsen von einem Tier, das ebenso wie sie in der Kälte zitterte.
Sie folgte den Geräuschen und traf auf einen verängstigen jungen Vogel. Er war mit verkümmerten Flügeln geboren und hatte niemals das Geschenk des Flugs erfahren. Sein Name war Flügel, eine furchtbare Ironie, denn seine Eltern hatten sich über die Schwingen so sehr gefreut, dass sie ein Küken nach ihnen benannt hatten.
Als nun aus dem dichten Schnee ausgerechnet eine Katze auftauchte, glaubte Flügel, sein Ende sei gekommen. Er fürchtete sich sehr und flehte Atama an, ihn zu verschonen.
"Natürlich verschone ich dich", sagte Atama, obwohl ihr der Magen knurrte. Sie hob Flügel auf und setzte ihn auf ihren Rücken. "Ich kann nichts sehen, kleiner Vogel. Du musst mir sagen, ob irgendwo eine warme Höhle ist, oder ein Weg in das warme Tal."
"Ich sehe nichts. Doch lauf nur voran, ich werde weiter suchen!", versprach Flügel.
So zogen sie los. Der Schnee fiel dicht und schwer. Atama hörte die Flocken ringsum rascheln. "Wie ist das, Schnee?", fragte sie Flügel. "Wie ist es, Augen zu haben?"
Der junge Vogel versuchte, es ihr so gut wie möglich zu erklären. "Alles ist weiß. Es wäre wunderschön, wäre es nur nicht so kalt. Das Land sieht weich und endlos aus, zauberhaft und unberührt!"
"Ich würde so gerne sehen können!", hauchte Atama sehnsuchtsvoll.
"Weißt du", sagte Flügel, "ich würde auch gerne fliegen können wie die anderen Vögel. Sie singen so glücklich, wenn sie es tun."
Atama überlegte. "Fliegen ist doch schnell und hoch, nicht wahr?" Da begann sie zu rennen. "Sag, ist das wie Fliegen?"
"Ja!", rief Flügel begeistert. Er breitete die kurzen Schwingen aus. "Ja! Ich fliege!"
Atama rannte noch schneller. Flügel jubelte vor Freude und öffnete den Schnabel, um wunderbar zu singen. Doch dann verstummte sein Lied plötzlich.
"Flügel?" Atama hielt an. "Flügel!"
Doch sie sollte keine Antwort mehr erhalten. Als sie ihn von ihrem Rücken zupfte, war der kleine Vogel erfroren.
Sie trug ihn im Maul mit sich, während sie verzweifelt durch den Schnee lief. Sie wärmte sich mit dem Gedanken an die Schönheit, die Flügel ihr beschrieben hatte. Doch der Schnee wurde immer höher und ihre Kräfte verließen Atama.
Schließlich sank sie zu Boden und Tränen, rot wie Blut, liefen aus ihren blinden Augen. Sie lag auf der Seite, Flügel an sich gepresst, und der Schnee fiel leise knisternd aus dem Himmel.
Da hörte sie eine leise Stimme singen.
"Atama! Komm mit mir! Komm mit mir zu den Sternen!"
Und so, mein Junge, fanden sich Atama und Flügel wieder. Gemeinsam schwebten sie zu den Sternen empor. Atama ist Flügels Federkleid, das ihn hinaufträgt, und er ist ihre Augen, die sie leiten. Denn die Drachen sahen Atamas Schicksal und hatten Mitleid. Sie gaben ihr die Macht der Nachtschwingen zurück.
Atama und Flügel fanden das Reich der Sternenwiesen, hinter dem schrecklichen Feuer und den Dämonen des Wassers. Dort herrschen sie noch heute und wachen über die Welt. Die Drachen aber schlafen seit diesem Tag, tief verborgen in unzugänglichen Höhlen. Sie sahen, welches Unglück ihrer Strafe nach sich zog und reuten sich seit diesem Tag, dass der furchtbare Schritt nötig war. Nur eines noch taten sie, bevor sie sich zur Ruhe legten: Damit niemals wieder eine Drachenschar so viel Unheil anrichten kann, und damit die Täler auch ohne die Drachen immer beschützt sind, riefen sie die Goldtiere herbei, die Drachengaben. Hin und wieder erwacht ein Hauch jener alten Zeit in den Tieren von Heute. Acht Drachengaben gibt es, und wenn sie vereint sind, werden sie stark wie einhundert Drachen. Ihre Aufgabe ist der Schutz unserer Täler und die Wahrung des Gleichgewichts, das die Nachtaugen damals vernichteten.<<