- Start: 25.10.2020 - 20:40 Uhr
- Ende: 25.10.2020 - 21:22 Uhr
Als Eliandra die Bühne betrat, wusste sie, dass es ihre letzte Vorstellung sein würde. Die Gabe der Voraussicht log niemals.
Es stand in ihrer Macht, die Zukunft zu ändern, ein seltenes Geschenk, das ihr zuteil geworden war. Und doch wusste sie, dass ihr Tod der einzige Weg war.
Der Theatersaal lag in Phantasma und damit außerhalb der Gesetze der Wirklichkeit. Doch jede Basis in Realitas besaß einen Zugang zu den vergoldeten Treppen und mit roten Teppichen ausgelegten Fluren, und damit letztendlich zum Vorstellungssaal.
Es konnte jede beliebige Tür sein, der 'Schlüssel' war einer der verzierten, goldenen Griffe, der angeschraubt werden musste. Öffnete man die Tür nun, führte sie nicht mehr in den Raum dahinter, sondern zur magischen Bühne.
Eine Tatsache, die sich die Wächter in gleich doppelter Hinsicht zunutze machten, den in dem nun unzugänglichen Raum ließen sich Artefakte und Dokumente geschützt lagern.
Als Lizzy die Tür öffnete, erwähnte sie allerdings keine der Geheimnisse. Streng genommen durfte sie nicht einmal davon wissen, und wenn jemand hörte, wie sie einer Außenseiterin davon berichtete, einer Zivilistin, könnte das ihren Ausschluss aus der Akademie zur Folge haben.
Ilia sah sich mit großen Augen um, als sie Lizzy in die Gänge des altmodischen Theaters folgte. Ihr Blick glitt über die gläsernen Kronleuchter mit ihren immerbrennenden Kerzen, über die schweren Vorhänge und die Marmorstatuen, dann sah sie auf ihre Finger.
"Magie", flüsterte das Elfenkind.
Lizzy grinste und tippte auf ihre Uhr. "Ein Ausschlag von acht. Kein Wunder, dass du das fühlst." Auch das junge Menschenmädchen konnte sich der besonderen Aura dieses Ortes nicht entziehen. Orte wie diese atmeten Macht und Geschichte aus. Lizzy liebte das alte Theater deswegen.
Ihre Schritte hallten dumpf aus den staubgetränkten Teppichen. Sie waren alleine, wie so oft auf ihren Streifzügen. Leala, Lizzys Mentorin, hatte Wichtigeres zu tun, und Marxwell heute keine Arbeit für sie, also hatte die Zwölfjährige sich Ilia für eine kleine Führung geschnappt.
Sie kamen an die Doppeltüren zum Saal. Lizzy stieß sie auf und trat an die Seite, den Blick auf Ilias Gesicht geheftet. Dort malte sich Verwirrung aus, nicht das erhoffte Staunen.
"Was denn?" Lizzy sah in den Saal. Der sah genauso aus wie bei ihrem ersten Besuch: Lange Sitzreihen erstreckten sich unter den höheren Emporen. Die Bühne, von verzierten Säulen umrahmt, war heute offen, der Vorhang an die Seite gezogen. Goldenes Licht erhellte die Reihen.
Ein atemberaubender Anblick - doch Ilia, die aus Phantasma stammte, war leichter von einer Glühbirne zu beeindrucken als von einem gigantischen Festsaal. Lizzy unterdrückte ein Seufzen.
"Ich ... höre ..." Erklärend deutete Ilia auf ihre langen Ohren, die nervös zuckten.
"Was hörst du?" Lizzy sah sich instinktiv nach Verstecken um. Wenn jemand sie hier erwischte ... Nun, eigentlich war sie sich nicht sicher, ob sie Ärger bekommen würde oder nicht, aber sie wollte kein Risiko eingehen.
"Stimmen, aber ..." Ilia suchte verzweifelt nach dem richtigen, englischen Wort. Dann deutete sie auf die Bühne. "Dort."
Leise schlichen sie zur Bühne, bis auch Lizzy es hörte. Es waren keine Stimmen, sondern ferne, geisterhafte Musik und Gesang.
Sie atmete erleichtert auf. "Das ist Eliandra."
"Eli ... andra?", wiederholte Ilia.
Lizzy nickte. "Sie lebt als Geist in diesem Theater. Vor vielen, vielen Jahren war sie eine Wächterin, bis zu ihrem Tod."
"Tod." Ilia wurde blass. "Wie furchtbar!" Das Konzept jagte ihr als Unsterblichen schreckliche Angst ein.
Lizzy nickte. "Sie wurde auf dieser Bühne von einem herabfallenden Balken erschlagen. Aber das merkwürdige war: Sie konnte die Zukunft sehen! Sie war eine Wahrsagerin, und zwar eine der wenigen, die tatsächlich etwas ausrichten können."
Ilia sah sie mit großen Augen an. "Also ... sie ging in den Tod?"
Lizzy nickte. "Die meisten Wahrsager können die Zukunft zwar sehen, aber nicht verändern. Doch sie konnte es. Trotzdem stellte sie sich auf die Bühne und unter den Balken."
"Vielleicht hat sie ... übersehen?", riet Ilia.
"Das haben alle anderen auch zuerst vermutet." Lizzy hatte die Bühne erreicht und kletterte in den Orchestergraben. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. "Aber dann, zu ihrem Tod, gab es die Stunde der Offenbarung. Dann tritt jeder vor, der ein Geheimnis von ihr kannte, und sagt es, denn mit dem Tod eines Wächters können diese aufgelöst werden."
Ilia folgte ihr zögerlich und warf einen nervösen Blick auf die Notenständer.
"Und da fanden sie heraus, dass Eliandra eine Spionin der Weißen Tiger gewesen war!", fuhr Lizzy fort.
"Weiße Tiger." Ilia runzelte die Stirn. "Das war die andere Akademie. Eure Feinde."
Lizzy nickte. Von der Konkurrenz der beiden Wächterschulen hatte sie Ilia vor einigen Wochen erzählt. Das Elfenkind schien den tobenden Krieg immer noch nicht so ganz zu verstehen.
Wenn Lizzy ehrlich war, verstand sie es selber noch nicht, und sie war unter den Wächtern aufgewachsen.
"Lange vor diesem Tag auf der Bühne wurde ihre Arbeit als Spionin von einem Wächter unserer Akademie aufgedeckt. Doch er verriet sie nicht, sondern rief einen Dämon und zwang sie in einen Pakt."
Ilia schauderte. "Ihr arbeitet mit Dämonen ...?"
"Nein, nicht alle. Nur Wächter, die sich dafür entscheiden. Die gibt es auf beiden Seiten." Lizzy erklomm die Bühne und kniete sich hin, um Ilia hinaufzuhelfen. Das Elfenmädchen zögerte lange, ehe sie zu ihr hinaufstieg.
"Was ist dann passiert?", fragte sie.
"Der Pakt besagte, dass Eliandra dem anderen Wächter etwas schuldet. Er könnte diese Schuld einfordern und bis dahin dürfe sie niemals darüber sprechen oder anderweitig auf den Pakt hinweisen oder darauf, dass er ihr Geheimnis kennt." Lizzy zuckte mit den Schultern. "Hätte er sie verraten, wäre sie getötet worden, doch so hatte er ein Werkzeug in der feindlichen Akademie. Eliandra machte weiter wie bisher und stieg unter den Weißen Tigern auf, bis sie eine Vertraute des damaligen Obersten wurde. Und der andere Wächter witterte seine Chance. Er befahl ihr, den Obersten der Weißen Tiger zu töten."
Die Musik war nun deutlicher geworden. Sie erklang aus dem leeren Orchestergraben zu dem Gesang einer unsichtbaren Frau. Ilia rieb sich die Arme und sah sich unwohl um.
"Keine Angst, Eliandra ist kein zorniger Geist", versprach Lizzy. "Sie wacht nur noch über die Bühne und mit ihrer Gabe der Voraussicht kann sie uns Botschaften senden. Sie wählt die Stücke aus, die gespielt werden, die Schauspieler und kann manchmal sogar die laufende Aufführung ändern."
"Weil sie hier gestorben ist", sagte Ilia.
"Sie muss diese Chance gesehen haben, als Geist zu überdauern", wiederholte Lizzy, was sie im Unterricht gehört hatte. "Es ist vermutlich kein Zufall, dass sie noch lebt. Wir können sie nicht mehr fragen, denn sie spricht nicht mehr im eigentlichen Sinne, aber es ist sehr wahrscheinlich. Sie muss unzählige Möglichkeiten gesehen haben, sich zu töten, aber nur diese gab ihr die Gelegenheit, den Wächtern weiterhin zu dienen."
"Aber ... warum?", fragte Ilia.
"Ist das nicht offensichtlich?" Lizzy sah sie an. "Die Treue zur Akademie war ihr mehr wert als das eigene Leben. Die Oberste zu töten hätte ihre Schule sehr geschwächt. Und ihr Feind hätte diese Schwäche rücksichtslos ausgenutzt. Doch sie war auch an einen Pakt gebunden. Sie konnte weder jemanden warnen noch den Befehl verweigern. Sie musste die Schuld zurückzahlen, und das tat sie."
"Ihr Leben." Ilia war blass geworden.
Lizzy nickte. "Sie gab ihr Leben, denn dieses hatte der andere Wächter gerettet. Sie starb auf dieser Bühne, inmitten der Magie Phantasmas. Nach ihrem Tod wurde das Opfer offenbar, dass sie erbracht hatte."
"Und der Wächter mit dem Pakt?", fragte Ilia.
"Er hat ja nichts falsch gemacht. Er hat seiner Akademie gedient, wie sie ihrer. Wobei es heißt, dass er sich wenig später umgebracht hat, von Trauer zerrissen. Doch seine Geschichte ist nicht weiter überliefert."
Die beiden Mädchen sahen sich auf der Bühne um. Noch immer erklang der Gesang, eine traurige, sehnsuchtsvolle Weise. Ilia neigte den Kopf und lauschte.
"Sie hat ihn geliebt", murmelte sie.
"Wen?", fragte Lizzy. "Die Theorie gab es natürlich, aber ..."
"Ich weiß nicht", unterbrach Ilia sie. "Aber sie hat geliebt. Das höre ich."
Lizzy schwieg und lauschte dem Gesang. "Ein weiteres Opfer, das sie erbrachte. Natürlich existiert in Phantasma auch das Jenseits. Aber sie ist hier gefangen und kann ihren Geliebten nie wiedersehen, wer auch immer es gewesen sein mag."
"Können wir gehen?", bat Ilia leise.
Lizzy nickte. Sie kletterten von der Bühne.
"Früher wurde dieser Saal die 'Halle der Toten' genannt", erzählte Lizzy, als sie die Stufen zwischen den Sitzen hinaufstiegen. "Phantasma existiert ja außerhalb der normalen Zeit, weil man eine Geschichte immer wieder neu erzählen kann und so. Also konnten auch Wächter aus allen Zeiten in Realitas in dieses Theater kommen. Man konnte auf tote Freunde treffen, auf seine eigenen Kinder oder Eltern oder auf die frühesten Wächter."
Ilia sah sie mit offenem Mund an.
Lizzy nickte. "Das ist eigentlich überall in Phantasma möglich, nur eben nicht in Realitas. Aber ... im 14. Jahrhundert oder so gab es deswegen eine gigantische Katastrophe. Irgendwer hat mit der Zeit herumgespielt, und zwar so richtig. Nicht das übliche 'Einen geliebten Menschen vor dem Tod retten', sondern ein richtig heftiger Eingriff. Das haben sie uns im Magieunterricht für Zeitmanipulation erzählt. Phantasma hätte es überstanden, aber Realitas wäre beinahe zerrissen worden."
"Zerrissen", echote Ilia. "Was ist denn passiert?"
"Ich ... ähm, ich habe vergessen, worum genau es ging." Lizzy lächelte entschuldigend und verfluchte sich innerlich dafür, dass sie im Unterricht nie aufpasste. Ilia machte ihr bewusst, dass die Historik der Wächter gar nicht so langweilig war, wie Lizzy es immer empfunden hatte. "Jedenfalls wurden dieser Saal und einige andere Räume daraufhin zeitgebunden. Jetzt laufen sie parallel zu Realitas und man begegnet hier nur noch Wächtern, die in der jetzigen Zeit existieren. Obwohl wir eigentlich alle schonmal den Wächtern von früher begegnet sind - aber diese Realität wurde gelöscht. Ist das nicht verrückt?"
Ilia blinzelte. "Es ... ist verrückt. Sogar sehr."
"Ja, ich weiß. Das sagt man eben so", murmelte Lizzy.
Ilia sah zurück zur leeren Bühne, wo unsichtbar und kaum hörbar eine Vorführung lief.
Tränen rannen über Eliandras Wangen. Für das Publikum musste es wohl eine dramatische Aufführung sein, ein Meisterwerk, doch sie wussten nicht, dass Eliandra ihre Rolle nicht länger spielte, sondern tatsächlich die Frau war, die in ihren Tod gehen musste.
Nur dass sie, im Gegensatz zu ihrer Rolle, nicht gerettet werden würde. Sie hatte das Skript bereits gelesen, das dieser Schicksalsfaden geschrieben hatte. Gefangen zwischen Liebe und Pflichten gab es nur diesen Ausweg.
Sie wappnete sich. Es würde nur kurz wehtun, das wusste sie ebenfalls. Und dann würde ein anderer Schmerz sie für den Rest ihrer Existenz begleiten.