- Start: 09.10.2019 - 17:57 Uhr
- Ende: 09.10.2019 - 18:48 Uhr
"Spieglein, Spieglein an der Wand ..." Das Mädchen drehte sich in dem rosa Kleidchen und kicherte.
"Arianne? Wo bleibst du denn?" Eine dürre, gehetzt wirkende Frau erschien in dem Gang zwischen den Umkleiden. In die rechte Ellenbeuge schnitten die Träger von gleich fünf prall gefüllten Einkaufstaschen, am linken Handgelenk blitzte die teure Uhr, auf die sie einen ungeduldigen Blick warf.
Das blonde Mädchen vor dem Spiegel zuckte zusammen und lief rot an. "Komme ..."
Sie wollte in die Umkleide huschen.
"Was um alles in der Welt trägst du da?" Ihre Mutter eilte zu Arianne und packte das Kind am Oberarm. Sie zerrte ihre Tochter aus der Kabine und musterte das pinke Kleid von oben bis unten, dann zupfte sie an einer Seidenschleife und ließ sie abfällig los. "Dass dir das passt! Das ist doch bestimmt eine Kindergröße."
"Nein, Mutter." Arianne senkte den Blick, die Wangen immer noch gerötet. "Die gibt es auch für Erwachsene."
"Für Karneval? Du weißt, dass wir dieses Jahr schon eingeladen sind!"
Arianne schüttelte hektisch den Kopf. Ihre Mutter ließ sie los und trat einen Schritt zurück. "Warum hast du das denn dann an? Du magst überhaupt kein Rosa."
Arianne starrte auf ihre Schuhe. Sie trug die Turnschuhe und die Jeans im used look noch unter dem Prinzessinnenkleid. Auch sonst passte ihre Erscheinung nicht zu dem Kleid - sie war schlank, aber muskulös, hatte die Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden und in der Umkleide wartete ein Marken-Sportshirt mit rot-weißem Aufdruck auf sie.
"Ist nicht so wichtig", antwortete Arianne und öffnete den Reißverschluss. "Ich komme sofort, Mum."
Während der Fahrt war Arianne schweigsam. Ihre Mutter fädelte sich mit gewagtem Fahrstil und kühlem Kopf durch den Feierabendverkehr. Das Mädchen sah derweil aus dem Fenster und kaute einen Kaugummi.
"Was bedrückt dich?", fragte ihre Mutter.
Arianne zögerte. Es war ziemlich out, mit den Eltern über Probleme zu sprechen. Dann seufzte sie aber und gab den Widerstand auf. "Es gibt da diesen Club in der Schule."
"Der Prinzessinnenclub", sagte ihre Mutter mit trockener Stimme. Ihr Tonfall war eindeutig enttäuscht.
"Sie sind nicht so schlimm, wie alle sagen!", verteidigte sich Arianne. "Nur, weil sie beliebt sind, heißt das nicht, dass sie schlechte Menschen sind - ganz im Gegenteil!"
"Wenn du so denkst", ihre Mutter hielt mit quietschenden Reifen an einer roten Ampel, "bist du ein leichtes Opfer für sie."
"Opfer?!", fuhr Arianne auf. "Hör mal, Mum, nur, weil du früher gemobbt wurdest ..."
"Nein. Du solltest auf mich hören. Ich weiß von anderen Müttern, was dieser ... Prinzessinnenclub schon alles angerichtet hat, weil jemand sich ihnen anschließen wollte. Veronica musste die Schule wechseln. Und die Sache von Hope weißt du ja ..."
"Ich muss aber nicht magersüchtig werden!", platzte Arianne heraus. "Sie haben mich gefragt, ob ich dabei sein will."
Ihre Mutter starrte sie an, bis das Auto hinter ihnen hupte - keine von beiden hatte gemerkt, dass die Ampel auf Grün gesprungen war.
"Sie haben was?", fragte Ariannes Mutter schließlich.
"Sie sagten, dass ich dabei sein könnte. An- Snow White hat mich persönlich angesprochen. Sie meinte, dass ich perfekt für Aurora wäre."
"Und Aurora ist wer?"
"Sleeping Beauty. Hier, ähhm", Arianne schnippste, "Dornröschen! Das war der Name!"
"Aha. Und diese Snow White ist ihre Anführerin?"
"Ganz genau!" Arianne hüpfte leicht im Sitz vor Aufregung. "Sie meinte, ich wäre hübsch und witzig und intelligent - die wussten von meiner letzten Mathe-Klassenarbeit - und dass ich dazugehören könnte."
Ihre Mutter schwieg lange. "Hör mal, Arianne ...", begann sie, als ihre Tochter vor Spannung schon auf der Unterlippe kaute. "Ich denke nicht ..."
"Aber das wäre super! Ich dürfte beim Essen bei ihnen sitzen! Wir lernen zusammen für die Schule und unternehmen auch so was." Sie sah ihre Mutter an und seufzte über deren verhärteten Gesichtsausdruck. "Du wolltest doch, dass ich hier neue Freunde finde", murmelte Arianne dann leise.
Ihre Mutter blinkte, bog in eine Seitenstraße und wurde langsamer. "Trotzdem, dieser Märchenclub gefällt mir nicht. Was machst du, wenn du nicht mehr cool genug dafür bist, außer, du fängt an zu saufen? Oder mobbst andere Schüler?"
"Das würde ich niemals tun!", protestierte Arianne. "Und die Prinzessinnen machen das auch nicht. Na ja, also ... manchmal müssen sie Leute ablehnen, sie können ja nicht alle aufnehmen, und manche verstehen das falsch und so ..."
"Ich glaube, Hope hat es nicht verdient, dass du so darüber redest!", erwiderte ihre Mutter streng.
"Muuum! Das mit Hope war ein ... Versehen, das hat Snow White jedenfalls gesagt. Die alte Aurora war dafür verantwortlich und die haben sie rausgeschmissen. Deswegen kann ich ja jetzt Aurora sein. Bitte, ich brauche nur so ein Kleid für ein Ticket zum perfekten Schulleben!"
Ariannes Mutter umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel hervortraten. "Ihr müsst wirklich diese albernen Kleidchen tragen?"
"Nicht immer", warf Arianne sofort ein. "Wir haben ganz verschiedene Stile. Dienstags tragen sie zum Beispiel alle weiße T-Shirts mit dem Bild ihrer Prinzessin darauf. Und dann gibt es noch den coolen Look, den jede für sich selbst zusammenstellen darf, nur die Farben sind vorgegeben."
Mit Schwung fuhr das Auto in eine Tiefgarage ein. Mutter und Tochter stiegen aus. Während Ariannes Mutter bezahlte und dabei wieder auf die Uhr sah, kümmerte sich der Bot darum, das Auto im mehrstöckigen Parkgebäude unterzubringen.
"Mum ...?", fragte Arianne schließlich kleinlaut.
"Okay, also ... die Sache gefällt mir nicht. Kein bisschen", sagte ihre Mutter entschieden. "Aber vielleicht hast du recht. Ich darf meine Erfahrungen nicht auf dich übertragen. Wenn ich morgen früh mit der Arbeit fertig bin, hole ich dir das Kleid."
"Mum, du bist die Beste!" Arianne machte einen Luftsprung und wollte ihre Mutter umarmen, die sie jedoch mit einer Geste stoppte.
"Ich möchte, dass du bei dieser Sache wirklich vorsichtig bist, Arianne. In deinem Alter hätte ich alles getan, um der beliebtesten Clique beitreten zu können. Ich habe eine Menge getan und auf wenig davon bin ich heute noch stolz. Deswegen gibt es ein paar Regeln." Sie strich ihrer Tochter eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. "Du wirst nicht anfangen, die für diese Gruppe die Haare zu schneiden oder dein Aussehen sonst zu verändern. Du lässt dich von ihnen nicht zu etwas überreden, dass du eigentlich nicht machen willst, und wenn das doch passiert ist oder dir irgendetwas seltsam vorkommt, dann sprichst du mit mir. Einverstanden?"
Arianne nickte. "Ja."
Ihre Mutter umarmte sie. "Du bist meine kleine Prinzessin, Arianne, vergiss das nicht. Egal, was passiert."
Arianne drückte sich an ihre Mutter, bis diese sich von ihr löste. "Ich muss los, sonst komme ich zu spät. Wie sehe ich aus?"
"Wie die perfekte Putzfrau, die heute eine dicke Lohnerhöhung bekommt!", sagte Arianne.
Ihre Mutter schüttelte grinsend den Kopf. "Du bist mir eine. Essen ist in der Mikrowelle. Hast du den Schlüssel?"
"Ja, Mum."
"Und mach erst deine Hausaufgaben, bevor du ins Internet gehst."
"Mum, ich brauche das Internet für meine Hausaufgaben!"
"Du weißt, wie ich das meine. Und jetzt ab!"
Ariannes Mutter eilte zu ihrem Zweitjob und ließ die Tochter vor der Tiefgarage stehen. Langsamen Schrittes ging Arianne zu einem Mehrfamilienhaus in der Nähe. Als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen und seufzte.
Das Treppenhaus lag leer und dunkel da. Die Lichtverhältnisse erinnerten an einen bewölkten Himmel, aus dem es jederzeit zu regnen beginnen konnte.
Schlurfend nahm Arianne die Treppenstufen auf sich, die Schultasche über der Schulter, in der Hand die Taschen. Ein Blick hinein entlockte ihr einen weiteren Seufzer. Vor einem halben Jahr hätte sie solche Klamotten nicht einmal angesehen. Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen des rosa Kleides, das ihre Mutter ein kleines Vermögen kosten würde. Noch hatten sie das Geld, das Mum aus der Scheidung hatte rausschlagen können, doch wie lange würde das reichen? Wie lange, bis die Prinzessinnen merkten, dass Ariannes teure Klamotten nur aus einem früheren Leben stammten und nach und nach einer traurigeren Realität Platz machten?
Sie ballte die Fäuste. Snow White, Rapunzel, Mulan und all die anderen durften es einfach nicht merken! Ariannes Mutter hatte in ihrem Leben genug durchgemacht, spätestens seit der Scheidung, die alles alte Trauma nach oben gekocht hatte, wusste Arianne das nur zu gut. Aber mithilfe der Prinzessinnen konnte sich alles ändern. Der Club bestand aus einigen unglaublich reichen Mädchen und ein paar hübschen Mitläuferinnen. Arianne hätte Kontakte. Sie hätte Zugang zu den Hausaufgaben der besten Schüler, die den Märchenclub regelmäßig belieferten. Allein Teil dieser Gruppe zu sein war ein Garant für bessere mündliche Noten und sicherlich auch ein Sprungbrett für einen guten Job.
Alles, was es gebraucht hatte, waren ein paar Gerüchte über diejenige Prinzessin, die Arianne am ähnlichsten sah, sodass deren vakante Rolle am wahrscheinlichsten auf sie überging. Es fühlte sich an wie ein Pakt mit dem Teufel - besonders, da sie mit Hope ihre einzige Freundin an die Klinik verloren hatte - aber Arianne würde alles tun, um ihrer Mutter etwas Entlastung zu bieten. Sie spielte ein gefährliches Spiel, aber sie war sich sicher, dass sie es gewinnen könnte.