- Start: 07.10.2019 - 13:44 Uhr
- Ende: 07.10.2019 - 14:35 Uhr
"Hereinspaziert, hereinspaziert! Doktor Trivagos Kuroisitätenkabinett entführt Sie in eine andere Welt!"
"Hey ... das klingt doch verdächtig passend." Blaze bremste und sah sich sich die uralte Geisterbahn an.
"Dass das Ding nach all den Jahren noch funktioniert", staunte Pyrrha. Sie klammerte sich an Jins Arm und betrachtete den Staub auf den morschen Holzstufen der Attraktion.
Langsam versammelten sich die sieben Jugendlichen um Blaze' Rollstuhl vor dem Eingang. Das Kuriositätenkabinett passte nicht so richtig in das Westernsetting des verfallenen Freizeitparks. Die mit Anzeigen bestückten Messingröhren an den Wänden und der inzwischen schweigende Dampfkessel schienen dem Steampunk entliehen, die gotisch anmutenden Formen der Holzfassade dem viktorianischen London. Statt der viereckigen Westernfenster mit ihren Blumenkästen gab es runde Bullaugen. Die Tür zum Kabinett war aus milchigem, grünen Plastik.
"Das ist schon fast zu offensichtlich", seufzte Kassandra und sah sich um. "Zac, was meinst du?"
Der kleine Anführer ihrer Gruppe, Zacharias Steward, rieb sich nachdenklich das Kinn. Sein Blick war nicht leicht zu deuten, denn sein Körper bestand aus Glas - das war auch bei Pyrrha und Mortimer der Fall. Dann nickte Zac schließlich. "Das wird dann wohl unser Ziel sein. Jin, Blaze und Tacita, ihr bleibt hier. Macht eure Fahrzeuge bereit, falls wir die Flucht ergreifen müssen oder eure Unterstützung brauchen."
Die beiden Jungen und Tacita nickten. Während Blaze den motorisierten Rollstuhl, Jin sein Motorrad und Tacita ihren Kampfroboter vorbereiteten, trat Kassandra zu Zac. "Willst du wirklich ohne den Enthinderer da rein?"
Der durchscheinende, dickliche Anführer schluckte hörbar. "Nicht wirklich, Kassie. Aber ich will keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen."
Kassandra nickte und legte dem Kleineren eine Hand auf die Schulter. "Ich vertraue dir."
"Na los, gehen wir rein?" Mortimer legte einen Arm um Kassies Schultern. "Lasst uns ein paar Monster jagen! Oder wollt ihr beiden Langweiler noch planen?"
"Zac?", fragte Kassie und der Anführer schüttelte den Kopf.
"Nur eines noch", sagte Zac, als Mo schon loslaufen wollte. "Seid vorsichtig. Ich möchte die Lage auskundschaften, bevor wir bemerkt werden."
Mo nickte. "Kriegen wir hin!"
Damit sprang der schlaksige Junge als erster durch die Plastiktür. Zac, Kassie, Pyrrha und Karma folgten ihm hinein.
"Viel Glück!", rief Jin ihnen leise hinterher.
Karma drehte sich in der Tür um und meinte ernst: "Ich passe auf sie auf."
Schritt für Schritt drangen die fünf in das heruntergekommene Gebäude ein. Sie folgten einem langen Gang, der wohl für die Warteschlange gedacht war. An den Wänden befanden sich Glasvitrinen mit diversen Kuriositäten. Die meisten davon waren nicht echt, selbst die Spinnweben schienen lediglich Deko zu sein. Trotzdem betrachtete Pyrrha die eingelegten Augen mit Ekel. Während all ihrer Abenteuer mit den Ghost Racers hatte sie es nicht geschafft, ihren Ekel vor Blut zu überwinden. Dieser war eher noch stärker geworden und sorgte dafür, dass ihre Haut schon juckte, wenn sie nur falsche Augäpfel in Gläsern ansah.
Sie zog die Schultern leicht an und lief hinter ihren Freunden her. Einen Vorteil hatte der Glaskörper, den Karma ihr geschaffen hatte: Sie konnte nichts mehr fühlen. Während sie das in ihren gemeinsamen Stunden mit Jin oder überhaupt im Alltag bedauerte, war ihr diese Fähigkeit in dem versifften Haus hier sehr willkommen.
"Langsam!", befahl Zac. Seine Stimme drang knisternd aus den Funkgeräten, die sie alle trugen. Pyrrahs Funkgerät saß auf ihrer Schulter, deswegen zuckte sie zusammen.
"Du kannst auch normal reden!", zischte sie Zac zu.
"Ich möchte aber denen draußen etwas Rückmeldung bieten, dass wir noch leben", antwortete er.
"Wirklich nett von euch", knisterte Tacitas Stimme aus den Funkgeräten.
"Außerdem ist Mo schon fast außer Rufweite!"
"Bin ich gar nicht!", antwortete Mo über das Funkgerät. Die Tatsache, dass er bereits an der Tür am Ende des Ganges herumfummelte, strafte seine Worte Lügen. Die vier anderen hörten auf, die seltsamen Ausstellungsstücke zu betrachten und schlossen zu Mo auf. Die Doppeltür am Ende des Ganges stand einen schmalen Spalt offen. Dahinter war ein vollkommen überladenes, riesiges Zimmer mit falschen Dampfmaschinen, Steuerpulten und riesigen, zylindrischen Wassertanks zu erkennnen.
"Die Tür klemmt", erklärte Mo und zog demonstrativ am Griff. "Lässt sich keinen Millimeter bewegen."
"Jetzt könnten wir Blaze und den Enthinderer gut gebrachen", warf Karma ein.
Zac schüttelte den Kopf. "Versuchen wir es erst einmal so. Na kommt schon, alle zusammen ..."
Fünf Paar Hände packten die Tür und die Jugendlichen stemmten sich dagegen. Mit einem leisen Knirschen schabte sie über den gewellten Holzboden und rückte Stück für Stück vorwärts.
"Argh ... Karma!", knurrte Zac unter Anstrengung.
Aus Karmas Fingern um die Tür glitten silbrige Stränge, die sich wie schwebende Tropfen verhielten, nur dass sie auf den Türrahmen auf gleicher Höhe tropften. Dort verfestigten sie sich und wuchsen zu einer Metallröhre an, die die Tür von Innen aufdrückte.
"Magie funktioniert hier", keuchte Kassie. "Das ist ein schlechtes Zeichen."
"Was dachtest du", presste Mo zwischen den vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen heraus, "warum dieser Ort nach dreißig Jahren noch Strom hatte?"
Krachend schlug die Tür auf und die fünf taumelten gegen die Wand. Eine Staubwolke hüllte sie ein. Kassie und Karma mussten husten.
"Tür geöffnet", meldete Zac über das Funkgerät. "Das hier war offenbar mal die einzige Station des Kuriositätenkabinets."
Er ging in den Raum hinein und sah sich um. Metallgeländer trennten eine runde Fläche im Innenraum von den Maschienen an den Seiten ab. Es gab große Bildschirme, die in Fensterrahmen eingelassen worden waren und hinter dem Geländer einen Weg. Vermutlich standen die Gäste im Innenraum, während ein Schauspieler und die Bildschirme ihnen ein Abenteuer suggerierten.
"Karma, pass auf, dass die Tür nicht zufällt", warnte Kassie und folgte Zac in den Raum.
Sie sahen sich aufmerksam um.
"Kein zweiter Ausgang", bemerkte Pyrrha.
"Dreißig Jahre ...", murmelte Kassie. "Mo, glaubst du, was immer die Menschen damals verschwinden ließ, ist noch hier?"
Mo zuckte ratlos mit den Schultern. "Sam meinte, dass alles, was hier gelebt haben könnte, schon lange verhungert sein muss. Er bezog sich auf 'It' und meinte irgendwas von 'maximal 27 Jahre' ... Aber er sagte auch, wenn wir feststellen, dass hier doch noch etwas lebt, sollten wir besser zurückkehren."
"Wie - und das sagst du mir jetzt?", fragte Zac entgeistert. "Kassie und ich müssen so was wissen, wenn wir das hier alles planen wollen."
"Ich dachte, er hätte euch das auch gesagt", entschuldige sich Mo.
Kassie stöhnte. "Wenn selbst Sam uns warnt, der weiß, was wir alles schon durchgemacht haben ... vielleicht sollten wir besser umkehren. Ich glaube, damals sind eine Menge Leute verschwunden. Nicht nur Zivilisten, sondern auch ausgebildete Wächter."
"L-leute?" Pyrrhas dünne Stimme unterbrach die Diskussion. Alle drehten sich zu ihr um, von ihrem ängstlichen Tonfall alarmiert.
Wie hatten sie das nicht bemerken können? Die hintere Wand des viereckigen Raumes fehlte. Wind blies in die Kammer und fuhr den Freunden in die Haare. Dahinter erstreckte sich ein riesiger, offener Raum. Sie sahen eine weiße Decke weit oben und einen weißen Boden tief unter sich. Die Wände waren in regelmäßige Kästchen unterteilt. Jene gegenüber sahen winzig aus, aber die fünf erkannten schnell, dass es sich um immer identische Kopien des Raumes handelte, in dem sie selbst gerade standen. Der einzige Unterschied waren die Gruppen von Menschen, die in vielen der Räume saßen, standen oder lagen. Manche schienen schon Jahre in dem Kästchen zu wohnen, andere hämmerten wild gegen die Türen - die ja nur zu weiteren Räumen führten und damit fest verschlossen waren - oder gegen eine unsichtbare Barriere, die die Zimmer von dem großen Raum abschnitt.
Aber am schlimmsten war der eine, nackte, leicht gerötete Augapfel, der sich auf einer Säule in der Mitte des Raumes drehte und in die Kabinette spähte, ohne zu blinzeln.
"Oh, das ist witzig", meinte Karma unbeeindruckt. "Das ist die Panoptikum-Bauweise. Es gibt Gefängnisse, die so gebaut sind, weil man von der Position in der Mitte aus alle Zellen einsehen kann und die Insassen sich ständig beobachtet fühlen.
"Hast du die verdammte Tür losgelassen?!", fuhr Kassie ihn an.
Doch Karma hielt die Tür immer noch offen.
Zac ergriff das Funkgerät. "Blaze, Tacita, Jin - wir brauchen euch hier drin, sofort! Blaze, du hältst die Tür auf, und wir brauchen Tacitas Feuerkraft ..." Zac wurde leiser. Seine Stimme hallte in den vier anderen Funkgeräten leicht nach.
"H-hallo?" Zac umklammerte das Funkgerät. "Blaze! Kannst du mich hören?"
Mo stürmte wortlos an Karma vorbei und den langen Gang hinab bis zur Eingangstür. Er hämmerte dagegen. "Blaze?"
Weder Mo noch Zac erhielten eine Antwort.
"Scheiße!" Kassie wurde blass. "Das Portal war gar nicht die Tür, sondern der Gang!"
Pyrrha wurde blass. "D-das heißt, wir sind hier gefangen? In ... in einer anderen Welt."
"Nur, bis die Wächter uns finden", warf Karma gelassen ein. "Wir können uns immer noch still verhalten, sodass Sauron da drinnen uns nicht bemerkt." Er nickte zum Auge.
Mit einem frustrierten Seufzen kehrte Mo zurück. "Was sollen wir jetzt tun?"
"Warten", antwortete Karma. "Ich halte die Tür hier weiter auf und wir hoffen, dass unsere Freunde bald darauf kommen, die Tür am anderen Ende des Ganges zu öffnen. Vielleicht können wir dann raus."
"Und wenn nicht?", fragte Pyrrha leise. "Wenn wir bereits an einem anderen Ort sind als die Eingangstür und nicht zurückkommen?"
Sie ließ sich auf den Boden sinken. Eine eisige Hand schien ihr Herz zu umklammern. Wenigstens war Jin in Sicherheit - obwohl sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde.
Karma antwortete nicht auf ihre Frage. Er verstärkte nur das Metall an der Tür, bis ein dickes Netz aus Stangen verhinderte, dass der Weg zum Gang sich je wieder schließen konnte.
Schweigend setzten sich die fünf Ghost Racer auf den Boden. Und das Auge in der Mitte des großen Raumes drehte und drehte sich.