- Start: 12.10.2020 - 20:22 Uhr
- Ende: 12.10.2020 - 21:07 Uhr
"Tobias Kopflos." Nochmals warf Sam einen Blick auf den Zettel. "Wer heißt denn so?"
"Da hatte irgendein Mentor Spaß, als er den Decknamen vergeben durfte", murmelte Lizzy, die sich wachsam umsah. "Sollte dir nichts Neues sein."
Sam verzog das Gesicht. Sein voller Vorname lautete Samstag, ein Umstand, für den er seinen Mentor regelmäßig verfluchte. "Aber meistens geben sie sich doch Mühe, einen Namen zu wählen, der auch ... normal ... sein kann!"
"Es ist bestimmt nur ein Deckname von vielen. Vermutlich genau für diese Situation!" Lizzy blieb stehen und bedachte Sam mit einem strengen Blick. "Könntest du dich jetzt bitte konzentrieren?"
Sam nickte. Lizzy marschierte weiter, dicht gefolgt von Elaine, die sich aus der Diskussion heraushielt.
"Dann ist es ein Wortspiel. Hehe", sagte Sam. "Unsere Gilde hat den Anführer verloren. Wir sind also ... gleich kommt es: Kopflos!"
"Das ist nicht witzig!", fauchte Lizzy gedämpft. Sie sah sich um, ob auf der Straße irgendjemand war, der sie belauschte. Oder ob hinter den Fenstern der vielen Eigenheime jemand stand und sich wunderte, was drei junge Menschen mit paranoiden Blicken in diesem verschlafenen Vorort wollten.
Es war niemand zu sehen, doch das beruhigte Lizzy noch lange nicht. Irgendwie waren ihre Feinde in die Akademie eingedrungen und hatten die immer wachsamen Wächter überrumpelt. Trotz alle Vorsichtsmaßnahmen, technischer wie magischer, hatten sie die Obersten entführt.
Der kleine Zettel mit der Adresse von Tobias Kopflos war ihre einzige Hoffnung auf Unterstützung. Das Notfallprotokoll der Obersten war nichts weiter als dieser Kontakt gewesen.
Dem nun drei junge Schüler nachgehen mussten, denn sie durften niemandem vertrauen. Streng genommen nicht einmal einander und sich selbst.
"Aber kommt, das ist genial!", beschwerte sich Sam. "Wenn wir fragen, ob er Tobias Kopflos ist, weiß er sofort, was Sache ist. Vielleicht ist sein richtiger Deckname John Smith."
"Na klar", brummte Lizzy und sah noch einmal auf die Adresse. "Lay, wie weit noch?"
"Die Hughington Lane beginnt an der nächsten Kreuzung", gab Elaine Auskunft. "Und dann müssen wir etwas suchen, wo 'Shelley' steht."
Natürlich konnte das Notfallprotokoll der Obersten ihnen nicht einfach eine Hausnummer nennen. Stattdessen mussten sie in die Hughington Lane, Shelley, IV-52.
Was auch immer das war.
Bis zur Kreuzung schwieg auch Sam. Ein Anzeichen dafür, wie sehr ihn die Ereignisse des Tages mitgenommen hatten. Am Morgen hatten sie festgestellt, dass die Obersten fort waren. Sie hatten den Safe für genau diesen Notfall entdeckt, geknackt und darin die Adresse gefunden. Dann waren sie unverzüglich aus der Akademie geflohen.
Ihre Obersten hatten die drei Freunde eigentlich heute morgen sprechen wollen. Was auch immer sie ihnen mitgeteilt hätten - deswegen waren sie nun verschwunden.
Während der Reise hatten sie mehrere Personen bemerkt, die sie verfolgten, ihnen die Wege abschneiden oder sie belauschen wollten. Allesamt waren es Wächter gewesen, die den drei Schülern problemlos entwischen konnten, wollten Lizzy, Sam und Lay sie zur Rede stellen.
Sie waren es gewohnt, in ständiger Angst zu leben. Doch noch nie zuvor hatten sie einen so aufreibenden und anstrengenden Tag wie heute erlebt, ständig bedroht und ohne zu wissen, mit wem genau sie es überhaupt zu tun hatten.
Wächter hatten viele Feinde. Und diese Feinde besaßen allesamt unvorstellbare Möglichkeiten.
Sie erreichten die Kreuzung. Unsicher sahen sie die Straße hinunter und blieben stehen.
"Sicher, dass wir hier richtig sind?", fragte Lizzy.
Lay starrte auf den Plan. "Hughington Lane."
Sam sah sich um und entdeckte ein Straßenschild. "Jepp, das ist sie."
Die Straße führte auf der einen Seite an einer hohen Hecke entlang. Auf der anderen Seite, hinter dem letzten Haus an der Kreuzung, schlossen sich Wiesen und Äcker an.
Zögerlich gingen die drei Schüler los, über den staubigen Grünstreifen neben der Fahrbahn, unter der heißen, texanischen Sonne, die sich langsam in ein blutrotes Bett senkte. Ab und zu sah Lizzy zurück. Lay scannte den Himmel nach Drohnen ab. Doch ihnen begegnete nicht einmal ein Auto auf der abgelegenen Landstraße.
"Hey ... da hinten!", rief Lizzy unvermittelt. "Da steht Shelley!"
Sie lief los. Sam und Lay folgten mit wenig Abstand und so kamen alle drei leicht keuchend unter dem Bogengang aus dünnen Eisenstäben an, der die hohe Hecke durchbrach.
'Shelley Graveyard' war in verschnörkelten Buchstaben in das Gitter eingefasst. Hinter dem Tor sahen sie überwucherte Wiesen zwischen von Hecken und Büschen eingefassten Gräbern. Ein Anblick, der mehr in einen Horrorfilm als in die Realität gehörte.
"Einladend ...", murmelte Elaine. "Hat einer ein Messgerät dabei?"
Sam und Lizzy schüttelten den Kopf, worauf Elaine ihren Arm hob und die Armbanduhr auf den Friedhof ausrichtete.
"Was sagt sie, Lay?", fragte Lizzy in die drückende Stille.
"Eine stationäre Phantasma-Blase." Lay wurde etwas blasser. "Nicht sehr kräftig, aber ..."
Aber das reichte.
Friedhöfe waren einer dieser Orte, wo Angst und Fantasie stark genug waren, um zur Realität zu werden. Fast alle Menschen, die einen Friedhof betraten, waren emotional angeschlagen. Hofften auf Zeichen von den Toten. Oder sie erinnerten sich an die unzähligen Horrorfilme.
Und Gedanken konnten ein mächtiges Werkzeug sein und das Gefüge der Realität ausdünnen lassen.
Dicht zusammengedrängt traten die drei Schüler durch das Tor.
"IV-52", las Elaine vom Zettel. "Glaubt ihr, das ist eine Grabnummer?"
"Wehe!", flüsterte Sam.
Sie hielten sich in einer Dreiecksformation, sodass sich nichts in ihrem Rücken anschleichen konnte. Angestrengt spähten sie in die wachsende Dunkelheit unter den wild wuchernden Büschen.
Elizabeth kontrollierte die Grabnummern und ging voran. Reihe I ... Reihe II ... Reihe III ...
"Hier links", wisperte sie und schlug den Weg zwischen endlose Reihen von Gräbern ein. Die meisten waren alt, manche verwahrlost, andere frisch. Sie versuchte, nicht auf die Todesdaten und Namen zu starren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Nummern.
Tatsächlich waren die Nummern nach Reihe und Zahl angegeben: IV-01 ... IV-02 ... IV-03 ...
Mit wachsendem Unbehagen folgte Lizzy dem Pfad. Sam bückte sich und hob einen kräftigen Ast vom Boden auf. Sie lauschten auf das Rascheln der Bäume und huschende Schritte im Laub.
"Das ist eine Amsel, da hinten", meldete Elaine leise. "Nur eine Amsel ..."
IV-49 ... IV-50 ... IV-51
"Hier", flüsterte Lizzy und blieb stehen.
Auf dem verwitterten Grabstein vor ihr stand:
Tobias Kopflos
19.07.2051 - 10.12.2073
"Er war jung", stellte Elaine mitleidig fest.
"Zweiundzwanzig. Und gar nicht mal so lange tot." Lizzy sah auf den Zettel. "Hier steht nichts weiter. Was sollen wir jetzt tun?"
"H-hallo?", rief Elaine leise.
Sam kehrte den Mädchen den Rücken zu und behielt den Rest des Friedhofs im Blick.
"Tobias Kopflos?", sagte Lizzy in die kalte Abendluft.
Fast sofort hörten sie ein dumpfes Geräusch. Dann ein Rumpeln. Und schließlich erklang ein Stöhnen - unter ihnen!
"Zombies!", rief Elaine aus.
"Zurück!", befahl Lizzy und drängte ihre Freunde auch gleich nach hinten.
Doch es blieb bei dem einzelnen Geräusch, das aus dem Grab von Tobias zu kommen schien. Dann wölbte sich die Erde nach oben und wackelte.
"Kopf treffen", murmelte Sam verbissen, der sich vor den Mädchen in einer Pose wie ein Baseballspieler in Position brachte. "Kopf treffen ..."
"Hinter uns ist alles still", flüsterte Elaine. "Es kann nur einer sein."
"Hoffen wir es!", antwortete Lizzy.
Dann schob sich eine grau, von Fraßspuren und Verwesung gezeichnete Hand aus der Erde.
"Und wenn es eine Falle war? Vielleicht haben wir den falschen Tresor geknackt!", wisperte Sam. "Was dann?"
"Er kommt!", zischte Elaine.
Der Hand folgte ein Arm. Dann eine Schulter und ... kein Kopf. Nur ein Stumpf.
Die Hand tastete über die Oberfläche des Grabes und warf dabei einige welke Blumen um, die jemand dort abgelegt hatte. Dann gruben ihre Finger sich in die Tiefe.
Irritiert sahen die drei Freunde zu. Schließlich hob sich die Hand wieder heraus, doch diesmal hielt sie etwas strähniges, langes fest.
Haare! An denen sie einen von Erde schwarz verschmierten Kopf aus dem Boden zogen. Ein wenig ungeschickt setzte die Hand den Kopf ab, die Stirn zu den Freunden weisend, und zog ein weiteres Mal, sodass sich das Gesicht aus der Erde erhob und sie angrinste.
Es war nicht die schreckliche Zombiefratze, die sie erwartet hatten, sondern das Gesicht eines jungen Mannes mit kleinen Grübchen in den Wangen. Seine Augen saßen tief in ihren Höhlen und die Nase hatte bereits etwas gelitten, doch ansonsten sah er beinahe lebendig aus.
Er lächelte. "Ah, entschuldigt bitte, ich hatte euch nicht so früh erwartet. Normalerweise sind die Prüflinge immer sehr knapp dran, oder sie brauchen sogar länger als die 24 Stunden." Der Arm hinter dem Kopf winkte. Ein zweiter hob sich aus der Erde und hielt eine Uhr vor den losgelösten Kopf. "Hui, 21 Stunden! Ihr seid gut. Kein Wunder, dass eure Obersten so viel von euch halten, Wächter."
Lizzy, Sam und Lay starrten den Zombie an.
"P-Prüflinge?", fragte Lizzy schließlich.
"Oh, wo hab ich nur meinen Kopf?" Der Zombie ließ sich Zeit, um über seinen eigenen Witz zu lachen. "Ich muss euch natürlich noch aufklären! Das rätselhafte Verschwinden eurer Obersten ist gar nicht so rätselhaft. Sie haben sich nur eine Etage höher versteckt. Aber macht euch deswegen keine Sorgen, die wenigsten Schüler sind je darauf gekommen und haben sie gefunden."
"Versteckt?", echote Sam.
Der Zombie nickte, indem er den Kopf mit den Händen leicht anhob und schwang. "Es gibt keine Bedrohung, jedenfalls heute nicht. Aber die Obersten haben getestet, wie ihr im Falle des Falles reagiert. Ihr habt den Tresor gefunden, die Kombination erraten und seid den Prüfern entgangen, die euch aufhalten wollten. Und das alles führt euch zu mir: Tobias Kopflos! ... Aber Tobi für euch, denn ihr habt bestanden!"
Die drei Schüler tauschten perplexe Blicke. Nur eine Prüfung?
"Setzt euch ruhig, um das zu verdauen", riet Tobias ihnen. "Ich ruf kurz an und geb eure Zeit durch. Dann kommt bald jemand und holt euch ab."
"Ich fass es nicht!", hauchte Lizzy.
Natürlich hatten sie bereits gefälschte Notfälle gehabt. Ein Feueralarm, der sich nachher als Probe herausstellte, oder ein Schauspieler, der mitten in die Kantine stürmte und einen Angreifer spielte - aber diese Fälle waren jedes Mal innerhalb von Minuten aufgeklärt worden.
Lay ließ sich auf den Boden sinken. "Ihr verdammten Wächter ... das hat mich ein paar Jahre meines Lebens gekostet."
"Davon hast du eh viel zu viel", witzelte Sam und setzte sich neben sie. "Sagen wir Tobi, dass ich ihn fast als Baseball benutzt hätte?"
"Lieber nicht", sagte Lizzy. "Er scheint ja ganz nett zu sein, aber vielleicht nimmt er das persönlich."