- Start: 30.08.2021 - 00:58 Uhr
- Ende: 30.08.2021 - 01:45 Uhr
Im Blick des schwarzen Drachen glühte ein verzehrendes, silbriges Feuer. Die Erde erbebte, als sich das geschuppte Tier aufrichtete und den langen Kopf zum Himmel hob. Ein kräftiges Schnauben fuhr aus dem Nüstern und peitschte heiß wie Sommerwind über das trockene Gras der Hochebene.
Der Mondschein schieß über die Schuppen zu fließen, während die Flügel samtschwarz wie die Nacht davorstanden. Fingerlange Krallen bohrten sich in die Erde, ehe sich der Drache mit einem kräftigen Sprung in den Himmel katapultierte. Die Erde unter den Stiefeln der jungen Frau schien abzusacken.
"Warte!", rief die blonde Frau, als der Drache auch schon mit den Flügeln schlug. Es war ein ohrenbetäubender Donner, der die Luft hinter ihm kurze Zeit zusammenzupressen schien, als wäre man unter Wasser. Der Frau nahm es den Atem und warf sie gegen den Felsen.
Nach diesem ersten Schlag vollführte der Drache einen Bogen und stürzte ein Stück in die Tiefe, spannte die Schwingen auf und ging in eine große Kurve. Der Wind griff von selbst unter die gewaltigen Flügel und trug das mächtige Wesen hinauf, als wäre er bei aller Größe schwerelos.
Ilia sah dem schwarzen Drachen nach, der bald selbst für ihre scharfen Augen zwischen den Wolken nicht mehr auszumachen war. Leise fluchend trat sie an den Rand des grasbewachsenen Plateaus. Die Felswand in ihrem Rücken führte viele Meter steil nach oben und fiel unten in eine schwindelerregende Tiefe. "Sehr witzig, Nachtwind", brummte sie und ließ sich mit dem Rücken an der Steilwand ins Gras sinken. Entmutigt ergriff sie die Uhr, die an ihrem Handgelenk saß, und versuchte, den winzigen Computer darin zu starten.
Doch der Sender war immer noch kaputt, wie nicht nur der Riss im eigentlich stabilen Glas bewies.
Fröstelnd zog sie die Knie näher vor die Brust und bettete das Kinn darauf, während sie in den düsteren Himmel sah. In der Ferne blitzte es.
Mit kräftigen Flügelschlägen tanzte Nachtwind mit dem Gewitter. Der Drache warf sich durch den prasselnden Regen und genoss die kalte Schwere auf seinem Panzer. Zuckende Blitze schlugen in seine schlanken Hörner ein, tanzten über den Rücken mit der Doppelreihe Dornen und zur Schwanzspitze, ohne unter den Schuppenpanzer dringen zu können.
Ausgelassen warf er sich auf den Rücken, ließ sich in die Tiefe stürzen, fing sich mit einem flinken Haken und jagte so schnell er nur konnte hinauf.
Wie hatte er diese Freiheit vermisst! Nichts zwischen ihm und dem Himmel, fern von allen Verpflichtungen.
Niemals hätte er sich diesem anderen Leben beugen sollen. Das war ein Fehler gewesen. Er gehörte hierher, in die Wildnis, nicht in einen Stall, um zu kommen, wann immer seine Reiterin ihn rief.
Grimmig legte Nachtwind sich in die Horizontale, als ihm der Spaß an den Flugmanövern verging.
Ilia ... sie schien seine Anwesenheit oft für selbstverständlich zu halten. Sie vergaß, dass er nicht nur ein Auto war, dass man irgendwo abstellen und vergessen konnte, bis man es wieder brauchte.
Zornig schlug er wilder mit den Schwingen. Immer schneller entfernte er sich von jenem Ort, wo die junge Frau in der Falle saß. Sie sollte zusehen, wie sie ohne ihn klarkäme - er war ein Drache, verdammt. Und nicht ihr Haustier.
Doch trotz allem konnte er ihre Anwesenheit im hintersten Winkel seines Bewusstseins spüren. Der Fluch der Drachenreiter - ihr Geist war mit seinem verbunden. Sie konnten miteinander sprechen, egal, welche Entfernung er zwischen sie brachte. Dass Ilia auch auf der mentalen Ebene schwieg, bedeutete nicht, dass er frei wäre.
Nachtwind verabscheute Ketten und Käfige jeder Art, und so auch dieses unsichtbare Band. Es war geschmiedet worden, bevor sie beide geahnt hatten, was es mit der Magie von Drache und Reiter auf sich hatte. Als sie die Verpflichtung erkannt hatten, die sie eingegangen waren, war es bereits zu spät gewesen.
Es war insgesamt eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen. Während der Sturm tobte, blendete Nachtwind dessen Toben aus und dachte zurück.
An jenem ersten Tag, als er Ilia getroffen hatte ... er war verletzt gewesen und viel zu jung, um sich zu wehren. Ihre Organisation hatte ihn gefangengenommen und eingesperrt, doch bereits damals erkannt, dass er einen Zaun niemals akzeptieren würde. Im Grunde hatten sie beschlossen, ihn zu töten, denn sie konnten ihn nicht einsperren und nicht freilassen - nicht in jene Welt, in die er gestolpert war.
Doch Ilia hatte sein Leben gerettet. Er war ihr damals nicht dankbar gewesen, denn das hatte weitere Gefangenschaft bedeutet. Und sie hatte es nicht aus Freundlichkeit getan, sondern weil sie aus der gleichen Welt stammte wie er. Sie hatte sich Botschaft aus ihrer Heimat erhofft. Um ihn selbst war es ihr nie gegangen.
Nachtwind schlug die Flügel so heftig, dass die Muskeln schmerzten. Es war ein guter Schmerz, der ihn wach hielt. Er brauchte dieses Gefühl, seinen Körper an eine Grenze zu bringen. Ilia versuchte immer, ihn zu schonen.
Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich hatte sie ihn verstanden. Unwillkürlich hielt Nachtwind die Flügel an, als er sich in den Schock zurückversetzte, den er an jenem Tag verspürt hatte, als Ilia ihn heimlich befreit hatte.
Was für eine Flucht gefolgt war! Er war den Wächtern entkommen und hatte sich fortan in den Wäldern verborgen. Er war frei gewesen - die glücklichste Zeit seines Lebens. Er brauchte keine Menschen, keine anderen Drachen, niemanden. Nur den Wind und Beute.
So hätte es bleiben sollen. Er hätte niemals zurückkehren sollen. Doch es war dieser Tag gekommen, als Ilia in seinen Wald gekommen war. Nicht, um ihn zu suchen, denn das hätte er ihr nie verziehen und sich auch niemals finden lassen.
Aber sie war verfolgt worden. Als ihr Pferd erschossen worden war, hatte Nachtwind eingreifen müssen. Immerhin hatte er ihr etwas geschuldet, und auch Schuld war eine Art Fessel.
Dann jedoch ... dann war alles schiefgelaufen. Plötzlich war er wieder in Ställen gewesen. Plötzlich hatte Ilia diesen Besitzanspruch gehabt. Er war in eine unsichtbare Falle getappt.
Regen prasselte schwer auf ihn nieder. Nachtwind senkte den Kopf. Um ehrlich zu sein, trug er eine Mitschuld.
Denn er hatte ihr irgendwann erlaubt, ihn zu reiten. Er hatte sich an ihre Anwesenheit gewöhnt, und sie damit als Reiterin akzeptiert. Erst viel später hatten sie einen älteren Drachenreiter getroffen und erfahren, was sie getan hatten. Sie hatten sich aneinander gebunden. Eine Fessel, geboren aus beidseitiger Bereitschaft.
Plötzlich würde Nachtwind für den Rest seines oder Ilias Lebens ein Reitdrache sein.
Keiner von ihnen hatte das gewollt. Doch während Nachtwind verzweifelt gegen dieses Schicksal kämpfte, hatte Ilia es akzeptiert.
Doch so leicht würde er es ihr nicht machen!
Inzwischen fiel der Regen dicht. Ilia konnte die Kante des Plateaus kaum noch erkennen. Selbst ihre Reitkleidung, die Kälte und Nässe der höchsten Wolkenschichten aushielt, war inzwischen durchnässt. Zitternd rieb sie die Hände zusammen und erschuf kleine Flämmchen, um sich zu wärmen. Sturzbäche rannen über die Felswände und spülten Schlamm um ihre Füße.
Mit einem Mal jedoch fiel kaum noch Wasser auf sie, wenngleich der Regen unvermindert rauschte. Mit einem schiefem Lächeln sah sie auf. "Na? Ausgetobt?"
Nachtwind knurrte leicht und ein feuriges Glühen erleuchtete seine Zahnreihen von Innen. Sein massiger Kopf war so groß wie Ilia und schwebte kaum eine Armlänge über ihr.
Sie wusste, dass er den Regen nicht abwarten würde. Das gehörte zur Freiheit, die er sich nicht nehmen lassen wollte: In der wahren Freiheit gab es keinen Schutz vor Blitz und Donner, vor Hagel und Sturm. Ilia konnte sich vor den Gewalten schützen. Natürlich konnte sie das! Er hätte niemals einen Schwächling als Reiter akzeptiert.
"Erlaubst du?", fragte sie, bevor sie aufstieg, und wartete sein Nicken ab. Als sie zwischen zwei Paaren seiner Rückendornen saß, tätschelte sie seine Schuppen. "Es war mein Fehler, Wind. Tut mir leid."
"Ich bin kein Pferd", knurrte er leise. "Nichts, worauf man einfach aufsteigt. Wir sind schon ein gutes Team, aber vergiss nie wieder deine Position in diesem Team."
Vielleicht benahm er sich albern. Er wollte ja auch nicht, dass sie jedes Mal nett fragte, ob sie reiten dürfte. Aber einen gewissen Respekt verlangte er dann schon.
Glücklicherweise verstand Ilia. Als er sich vom Felsen abstieß und in den Sturm glitt, lehnte sie sich auf seinem Rücken mit in die Kurven und ihre Körper schienen zu verschmelzen, bis sich nicht mehr sagen ließ, wer das Kommando hatte und wer sich nur den Bewegungen des anderen anpasste. Der leere Himmel verwandelte sich in einen Hindernisparcours, und sie folgten den unsichtbaren Pfaden.
Zu gerne würde Nachtwind ewig so weiterfliegen - doch sie hatten ein Ziel und nach ihrem Streit war es vermutlich höchste Zeit, dass er Ilia zu ihrem Auftrag trug und sie ihre gemeinsame Arbeit erledigten.
Das war eine weitere Fessel, die er sich auferlegt hatte. Seine Freiheit endete an den Grenzen ihrer Verpflichtungen.
Aber so sehr er es auch hasste - er nahm die Nachteile in Kauf. Denn sein persönliches Ende der Freiheit, seine Reiterin Ilia, war dieses Opfer wert. Ihre Freundschaft war ebenso kostbar. Er hatte viel aufgegeben, doch dafür hatte er eine Freundin gewonnen, die so stark und mutig war, wie man es sich nur wünschen konnte. Er würde es niemals zugeben, doch er war stolz, sie seine Reiterin nennen zu dürfen. Ilia wiederum schätzte seinen Sturkopf und Freiheitsdrang aus ihm unerfindlichen Gründen und trieb ihn zu immer neuen Herausforderungen.
Irgendwie war das auch ganz in Ordnung.