- Start: 27.09.2019 - 21:39 Uhr
- Ende: 27.09.2019 - 22:35 Uhr
Dieser Text behandelt Krankheit und Tod, so respektvoll ich das darstellen konnte. Wer Schwierigkeiten im Umgang damit hat, dem ist von der Lektüre abgeraten.
Soundtrack "This is not the End" von Aviators: https://www.youtube.com/watch?v=VMPo5YX17wg
Vielen Dank an die Sumpfkapelle für die großartige Hilfe beim Überarbeiten!
Prinzessin aus Glas
Die Flure des Krankenhauses waren die saubersten, die Sam je zu Gesicht bekommen hatte. Alles hier war so ... makellos. Die Böden, die Sitzplätze aus Plastik, die silbernen Schiebewagen und vereinzelten Holzregale glänzten, sogar die weißen Tapeten strahlten.
Er wusste nur zu gut, dass der Schein trog. Dazu brauchte er die Ärzte und Schwestern mit Mundschutz nicht zu sehen. Ein unsichtbarer Makel klebte im gesamten Gebäude, aller Hygiene zum Trotz. Ein Feind, nicht sichtbar, nicht fühlbar. Doch tödlich.
Durch die halb geöffnete Tür eines Raumes, an dem er vorbeikam, drang ersticktes Schluchzen. Er hörte fernes Kinderlachen. Dann schrillte ein piepsender Alarm, worauf das Personal hektisch zu dessen Ursprung eilte.
Sam sah auf die Nummern neben den Türen, dann auf den Zettel in seiner Hand und blieb stehen. Hier war es. Umständlich, weil er den Blumenstrauß in der anderen Hand hielt, faltete er den Zettel zusammen und steckte ihn in die hintere Tasche seiner Jeans. Dann atmete er tief durch. Ein Teil seines Innersten schrie, dass er fortlaufen sollte. So weit weg wie möglich. Einfach nur rennen, bis er keine Luft mehr in der Lunge hätte.
Die Deckenlampen surrten. Er hob die Hand und klopfte, setzte sich selbst den Todesstoß. Einen Moment hoffte er inständig, dass es ein Irrtum wäre, ein Alptraum.
"Herein."
Sam schloss einen Moment die Augen. Oh Götter! Schon ihre geschwächte Stimme zerriss ihm das Herz! Er hätte sie kaum wiedererkannt.
Er trat in das kleine Zimmer. Ein unpersönlicher Raum. Wie oft war er selbst schon in einem ganz ähnlichen Zimmer aufgewacht? Ein alltäglicher Anblick. Jetzt schnürte er ihm den Hals zu.
Im Eingangsbereich befand sich auch die Tür zur Toilette. Dahinter öffnete sich der Raum, zwei Betten mit Rollen standen an der Wand, daneben die Kommoden und die Ständer mit Infusionen. Alles war ein wenig asymmetrisch, nachlässig hingeschoben. Die eine Kommode stand nicht ganz an der Wand. Die beiden Stühle vor dem Fenster waren schief gestapelt, der obere saß verkeilt auf dem unteren.
Im vorderen Bett lag eine alte Frau und schnarchte. Im zweiten Bett lag Marisol. Seine Mari.
Ihr Anblick ... ach, ihr Anblick. Sam stockte einen Moment. Er musste sich überwinden, weiter in den Raum zu gehen. Dieses zerbrechliche Wesen, das kein Gewicht mehr zu haben schien und dennoch tief in die viel zu großen, viel zu vollen Kissen eingesunken war ... das konnte doch nicht Marisol sein! Er weigerte sich, das zu akzeptieren. Unmöglich!
"Ich ... wusste ... dass du kommst ..."
Aber es war ihre Stimme. Ein schwaches Echo ihres früheren Lachens. Ihre Augen blinzelten ihn müde an. Kraftlos hob sie eine Hand von der Decke. Er konnte die Knochen sehen, jeden einzelnen. Durch ihre ehemals kupferne Haut schimmerten schwach die Adern.
Er fasste ihre Hand und verzog im selben Moment das Gesicht zum wohl gequältesten Lächeln seines Lebens. Ihre Finger waren kühl und dürr wie Zweige. Er ließ den Blumenstrauß achtlos auf die Bettdecke fallen und legte die andere Hand über ihre. Instinktiv wollte er ihr alle Wärme geben, die er nur zu geben hatte.
"Es tut mir so leid!", begann er heiser. "Ich -"
Marisol öffnete die trockenen Lippen. "Ist schon gut", hauchte sie.
Sam schüttelte den Kopf und spürte, wie Tränen in seinen geschlossenen Augen brannten. "Ich werde mir das niemals verzeihen können! Ich hätte hier sein sollen, ich hätte bei dir sein sollen! Aber ich hatte solche Angst ... ich konnte es nicht, Mari. Ich wusste nicht, wie ... Und jetzt ist es zu spät! Ich ... wie ... ich kann nicht ... wie soll ich ..." Seine Rede erstickte in sinnlosem Brabbeln. Der Anblick der jungen Frau hatte einen Damm gebrochen, alle mühsam errichteten Schutzwälle grausam niedergewalzt und etwas in ihm zu tausend klirrender Scherben zerbrochen.
Durch die tobenden Emotionen drang Marisols ruhige, feste Stimme. Sie drückte seine Hand. "Jetzt bist du da. Das ist alles, was zählt."
Er brach in Schluchzen aus. Wie konnte sie so stark sein?
Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung!, schrie einer seiner Gedanken.
Narr, schalt Sam sich selbst. Er hatte keine Kraft mehr, um sich etwas vorzumachen.
~*~
Die Blumen standen in einer Vase auf der Kommode. Marisol lag auf dem Rücken, an Schläuche angeschlossen. Ein Messgerät piepste im Rhythmus ihres Herzschlags.
Sam lag neben ihr auf der Seite, in dem schmalen Bett nah an sie gerückt. Ihren Kopf hatte er auf seinen Arm gebettet. Seine Stirn ruhte an ihrer. Mit ruhigen, doch sehr flachen Atemzügen lag Mari da und schlief. Sam dagegen wurde wieder und wieder von Krämpfen geschüttelt, wenn die Tränen nach außen drängten. Er presste die Kiefer aufeinander. Nichts, nichts sollte den Schlaf seiner Prinzessin stören!
Der Druck in seiner Kehle fühlte sich an wie ein gefangener Schrei. Warum nimmst du sie mir?, tobte es in ihm. Warum sie? Sie ist doch noch fast ein Kind. Wir hatten viel zu wenig Zeit!
Wenn er doch nur tauschen könnte. Einen Handel eingehen, sich selbst an ihrer Statt opfern. Doch der Krebs war kein Dämon, mit dem man handeln konnte. Wie ein Sensenmann folgte er stur seinem Auftrag, unaufhaltsam wie Lawinen am Berghang.
Die Berge ... Marisol an seiner Seite im Gras, der kleine MP3-Player mit Anschlüssen für zwei Kopfhörer in seiner Hand, über ihnen die Wolken. Bei Mari hatte er sich niemals für die Liederauswahl geschämt. Er hatte kaum darüber nachgedacht, was sie von diesem oder jenem Song halten mochte. Er wusste, dass sie ihn kannte, bis zur letzten Faser seines Seins. Es gab nichts, das er vor ihr verbergen oder wofür er sich rechtfertigen musste. Marisol war das Wunder eines Sommertags gewesen, ein Geschenk, das er nicht verdient hatte.
Und wie dankst du es ihr, Sam? Du läufst davon, wenn sie dich an ihrer Seite braucht! Wenn die Schulter, die dich stützte, selbst gestützt werden muss - dann bist du nicht für sie da!
Eine unsichtbare Klaue schien ihm die Brust zu zerreißen. Er konnte nicht atmen, weder ein noch aus, selbst mit geöffnetem Mund nicht. Die geballte Faust vor dem Gesicht lag er da. Seine Muskeln war steinhart gespannt, sie bebten, vibrierten. Er konnte sich nicht rühren, während sein Wille mit den Tränen kämpfte.
Warum bist du hergekommen, du Idiot?, fragte er sich selbst. Er hatte bereits Menschen verloren, aber nie zuvor hatte es so weh getan. Nie zuvor hatte er es so deutlich am Leib gefühlt. Als würde er statt Mari sterben. Warum musste ich sie kennenlernen? So kurz, bevor ...
Lautlose Schluchzer schüttelten ihn. Endlich konnte er einatmen, schon halb erstickt. Die Tränen saßen wie ein Ring aus Feuer um seine Augen. Er blinzelte und sie schwappten über, tropften in das weiße, tiefe Kissen.
Nein! Das Kissen war heiß von seinem Atem. NEIN! So soll es nicht enden! Sie ist eine Kriegerin, keine Kranke im Bett. Bitte, bitte ... nicht so!
~*~
"Sieh mal."
Er hob den Blick von den Händen, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Marisol saß aufrecht im Bett, den Rücken durch viele Kissen gestützt. Auf der Kommode neben ihr stand ihr Essen. Unberührt. Sie hatte keinen Appetit. Und die Ärzte hatten Sam diesen Blick geschenkt, diesen mitleidigen, schuldbewussten Blick, und dann die Augen niedergeschlagen.
Er schluckte. Seine Stimme war heiser. "Was denn?"
"Die Vögel." Ein zartes Lächeln huschte über ihre Lippen. "Die beiden Rotkehlchen kommen jeden Tag. Es ist ein Pärchen, glaube ich."
Sie sah aus dem Fenster. Ihr Blick war bereits ein wenig trüb. Sie wurde müde. Sie hatte erzählt, dass sie fast nur noch schlafen würde.
Sam trat vor die Scheibe. Tatsächlich, dort flogen zwei kleine Vögel vorbei. Sie landeten auf einem Ast nah beim Fenster. Er hörte sie zwitschern.
Marisol lachte leise. Sam musste die Fingernägel in die Handfläche schlagen. Sein gesamter Körper bebte, so sehr rang er um Fassung. Er reckte den Hals, blähte die Nasenflügel. Seine Kehle fühlte sich zusammengedrückt an. Seine Zähne klapperten gegeneinander.
Ihr Lachen. Es war so kräftig gewesen, klar und laut, fast wie Gesang. Ja, als würde sie aus vollen Lungen ein Lied singen. Wie hatte es zu diesem Geisterhauch verblassen können?
Er atmete mehrmals tief durch und blinzelte die Tränen fort. Er fühlte sich nicht stark genug, um sich umzudrehen. Nicht stark genug für irgendwelche Worte.
Die Vögel flogen weiter. Sam senkte den Blick. "Oh, guck! Ein Eichhörnchen!" Für einen Moment musste er lächeln, als er das Tierchen über die große Wiesenfläche des krankenhauseigenen Parks hüpfen sah. Marisol liebte Eichhörnchen! Das war doch noch ein schöner Lichtblick, der-
"Wo?"
Er drehte sich um. Vom Bett aus konnte Marisol die Wiese nicht sehen.
Als sie seinen Blick sah, lächelte sie voller Wärme. "Es ist gut. Ich glaube dir auch so."
Seufzend ließ sie den Kopf in die Kissen sinken und schloss die Lider. "Ich bin so froh, dass ich das Bett am Fenster bekommen habe. Hier sieht man den ganzen Tag Vögel. Es ist ein schöner Platz."
Unbewusst oder vielleicht auch nicht - sie streckte die Hand zum Fenster aus. Die Finger drückten sich zitternd an das Glas, die Kuppen wurden plattgepresst. Sam sah alte Abdrücke an der gleichen Stelle. Durch halbgeöffnete Augen sah Marisol matt zur Scheibe. Unbeschreibliche Sehnsucht lag in ihrem Blick.
Gemeinsam mit den Tränen stieg Wut auf. Wut darüber, dass Marisol einen solchen Ausdruck im Gesicht tragen musste. Wut darüber, dass dies das erste Anzeichen von Schwäche war, das sie in all dieser Zeit zeigte, während er mit jedem Atemzug weiter zerbrach.
Mit leisen Schritten kam er zu ihr und setzte sich auf die Kante ihres Bettes. Sie ergriff seine Hand. Wieder lächelte sie. Ihre Augen sagten ihm voller Wärme, dass er ruhig weinen dürfe.
Sie - SIE! Deren Zeit sich nurmehr in Stunden messen ließ - sie spendete ihm mit ruhigem Blick Trost. Noch immer versuchte sie, diese Rolle auszufüllen, die sie seit ihrem ersten Treffen erfüllt hatte. Diese Sonne in seinem Leben, die Sam nun kaum ein halbes Jahr begleitet hatte.
Tränen rannen über seine Wangen. Ein halberstickter Wutschrei drang aus seiner Kehle. Verdammt, er war es so leid! Er war dieses stickige, weiße, trügerisch reine Zimmer so leid, in dem der Tod nistete. Er war diese verdammte Uhr leid, die an der Wand tickte und tickte und tickte. Er war das angestrengte Röcheln der alten Frau leid, die niemand besuchte. Er war Marisol leid, das, wozu Marisol von einem ungerechten Schicksal verdammt worden war. Und er war sich selbst leid.
"Sam ..."
Er war aufgesprungen. Nun fasste er ihre Hand, bebend vor Kraft, sodass er acht geben musste, sie nicht zu verletzen. "Ich ... ich will nicht, dass es so endet."
"Ich weiß doch." Ihr Blick strahlte Güte aus. "Ich wäre so gerne mit dir alt geworden. Wenn du gehen willst, Sam ... ich verstehe dich. Die letzten Stunden werde ich überstehen. Ich bin dir unendlich dankbar, dass du hier warst. Bitte fühle dich nicht schuldig. Es war so schön, noch einmal deine Stimme zu hören ... dein Gesicht zu sehen ..."
Ihre Stimme wurde schwächer.
"Nein!", knurrte Sam. "Ich bin hier, damit wir unsere letzten Stunden auch nutzen!" Es war fast ein Schrei. Er schlug ihre Decke fort und packte die Schläuche, die sie mit der Infusion verbanden, mit festem Griff. Dann warf er Mari einen wilden Blick zu. Eine wahre Flut aus Gefühlen schwappte daraus und es war ein Wunder, dass sie nicht davongespült wurde. Auf seine stumme Frage hin nickte sie.
Er riss die Schläuche ab. Noch während er die Arme unter ihren Körper schob, piepsten mehrere Alarme.
Er hob sie an und Marisol legte die Arme in einer schwachen Umarmung um seinen Hals. Ihr Körper wog nicht viel mehr als der Hauch von Wärme, der nun aus ihrer Matratze entwich. Sam taumelte trotzdem auf dem Weg zur Tür. Er schob eine Schulter vor, schützte ihren Kopf mit der Hand und drückte die Tür auf.
Ein Arzt und drei Schwestern kamen ihnen entgegen. Doch der Mediziner blieb stehen und hielt die Gehilfinnen zurück. Ob es eine bewusste Entscheidung oder der Schock aufgrund des Anblicks war, konnte Sam nicht sagen. Er stapfte mit tonnenschweren Schritten an ihm vorbei, eher der Mann reagieren konnte. Den Gang hinunter. Durch eine Doppeltür.
Betroffene Mienen verfolgten ihn: Einen Mann, der eine abgemagerte Frau mit kahlem Schädel in einem dünnen Krankenhaushemd trug, während ihm Rotz und Wasser über das Gesicht liefen, ein Strom, durch den er kaum atmen konnte.
Die Eingangstüre hielt ihnen eine junge Schwester auf. Sie senkte den Blick und sah fort.
Schwacher Wind und ein warmer Strahl der Spätherbstsonne begrüßten sie. Sam spürte durch sein eigenes Beben, dass auch Marisol weinte. Ihre Tränen nässten seine Schultern, als sie den Kopf daran ausruhte. Er trug sie weiter, Schritt für Schritt. Es gab einen kleinen Springbrunnen auf einem kreisrunden Platz, umgeben von Bänken. Ein paar andere Leute saßen dort. Zwei Frauen, ein Mann mit seinem tragbaren Beatmungsgerät und dem, was offenbar Kind, Schwiegerkind und Enkel waren.
Sie alle starrten Sam an, der sie ignorierte. Er trug Marisol zur Wiese und kniete sich dort hin. Immer noch konnte er kein Wort sagen, nur Weinen drang aus ihm heraus. Trauer, die sich in den letzten Stunden angestaut hatte.
Er hatte sie nicht dort lassen können. Nicht in diesem reinen Palast voller Übel, diesem Hort der unsichtbaren Krankheit. Nicht mit diesem sehnsüchtigen Blick, der stumm ihren letzten Wunsch verriet.
Das Eichhorn sprang über das Gras. Marisol hob den Blick und diesmal war das Lächeln auf ihren Lippen fast wie früher. Strahlend, kräftig, voller Glück. Ihre Augen leuchteten.
"Sam ...", flüsterte sie. "Ich ..."
Ihr Kopf sank gegen seine Schulter. Er hatte kein Gewicht.
Sam legte sein Kinn auf ihre Stirn und wiegte sie in seinen Armen wie ein Kind. Er spürte ihre Finger, die seine Schulter kraftlos streichelten.
"Ich weiß", schluchzte er schließlich leise. Sie musste es unbedingt noch hören. "Ich weiß."
Dann glitt ihre Hand langsam von seiner Schulter, über ihre Brust und kam auf ihrem Bauch zum Liegen.
Seine Prinzessin aus Glas war fort.
Damit bedanke ich mich noch einmal sehr herzlich für's Lesen - und bei Ifrit van Nox, die die Geschichte damals einer Zeichnung würdig fand: https://www.deviantart.com/ifritnox/art/Prinzessin-aus-Glas-757966606
Ich hoffe, ich habe meine Leser nicht zu sehr am Boden zerstört. *stellt Taschentücher bereit*
Xenon/Marv