- Start: 03.11.2021 - 22:40 Uhr
- Ende: 03.11.2021 - 23:10 Uhr
Sie stand am Geländer des hohen Turms und sah auf das Feld hinaus. Der Wind pfiff durch die hohen Torbögen und spielte mit dem zerfaserten Seil, an dem früher die Glocke gehangen hatte. Er zerrte auch an Anns schwarzem Haar und dem blauen Kleid.
Auf den Hügel, grau unter den Regenwolken, erblickte sie die Stadt, die Mauern, von denen Rauch aufstieg, die ängstlich zusammengedrängten Menschen im Burghof. Auf der einen Seite schloss sich das Meer an, schwarz und rot gezeichnet vom Sonnenuntergang im Sturm. Jenseits der Mauern erblickte sie das Kriegsgerät ihrer Feinde.
Die Stille Horde verursachte auch jetzt keinen Ton. Keine Trommel erklang und kein Kriegshorn blies. Nur manchmal hörte sie das Krachen, wenn ein Geschoss aus einem Katapult traf.
Schritte auf den steinernen Stufen rissen Ann aus ihren Gedanken. Die Geräusche, vermengt mit keuchendem Atem, hallten die enge Wendeltreppe herauf. Dann kam Mo in Sicht. Der alte Mann stützte sich keuchend auf den Knien ab, bevor er den Blick hob.
„Deine alte Uniform“, stellte Ann fest, als sie ihn musterte.
Mo sah an sich herunter. „Ich dachte, es wäre angebracht, sie ein letztes Mal zu tragen.“
Die blaue Uniform mit den goldenen Akzenten hatte viel ihrer Pracht eingebüßt, wie ihr Träger. Mos dunkles Haar war ergraut, seine Haut schlaff geworden, und ebenso schlaff hing ihm die Uniform nun am Leib, deren Goldfäden allen Glanz verloren hatten. Knöpfe fehlten und Flicken erinnerten an die Narben eines langen Lebens.
Ein langes Leben, dachte Ann, das er ohne sie verbracht hatte.
„Ich schätze, ich bin nicht mehr der junge Mann, der ich einst war.“ Mo hatte ihren traurigen Blick bemerkt und richtig gedeutet. Er lächelte gequält. „Während du noch ebenso schön bist wie an unserem ersten Treffen.“
„Du siehst wunderbar aus“, widersprach Ann ihm.
„Wie ich aussehe, ist ja auch egal.“ Mo streckte die Finger. „Wichtig ist nur, dass ich noch spielen kann.“
Ann wandte dem Heer den Rücken zu und sah sich im kleinen Turmzimmer um. Der Holzboden bestand aus viel zu dünnen Platten, und doch stand der alte Flügel noch hier oben. Er war schwarz, wie Mos Haar es einst gewesen war, und seine goldenen Akzente waren noch nicht verblasst.
Vorsichtig sah Mo sie an. „Bist du bereit?“
Ann nickte. Sie umfasste die schwarze Flöte, die an einer Kette um ihren Hals hing. Kälte strömte aus dem schmalen Instrument. Sie sah die Angst in Mos Blick, spürte, wie das Eis in ihren Körper einzudringen schien.
Dies war keine Harfe des Friedens und keine Trommel des Lebens. Es war die Flöte des Todes. Und ihre düstere Macht war für jeden zu spüren, der die Kraft der Musik beherrschte.
Sie wusste, wenn ihre Lippen das Instrument berührten, würde es kein Zurück mehr geben. Keine Rückkehr zu einem normalen Leben ohne Furcht. Und keine Gnade.
Doch der Flügel alleine konnte nichts bewirken. Sein Klang war nur das Fundament, der Arm. Ann musste ihm eine Waffe verleihen, und nur diese Flöte war ihnen noch geblieben. Ein tödliches Artefakt. Ihre Fingerspitzen kribbelten.
Mo setzte sich an den Flügel und klappte den Deckel auf. Er dehnte die Finger über den Tasten, dann senkte er sie herab. Der Klang des ersten Akkords war volltönend, doch der Wind riss ihn sofort mit sich. Zitternd, vibrierend verharrte der Ton im Flügel.
Wieder krachte es, als ein Stein auf die Stadt niederfuhr. Unten, am Fuß des Turmes, schrien die Menschen auf. Ann sah eine Staubwolke heraufwallen.
Die Stadtmauer war gefallen! Während der Staub sich lichtete, strömten Gestalten herein. Menschen mit Schwertern, Reiter, mächtige, bullige Trolle. Sie schwenkten die graue Fahne der Stillen Horde, und sie gaben keinen Ton von sich. Leise und tödlich strömten sie in die Stadt.
Ann hob die Flöte an ihre Lippen, deren fremdartiges Material eisig kalt war. Hinter ihr senkte Mo die Finger erneut auf die Tasten. Diesmal beließ er es nicht bei einem Ton. Seine Finger begannen, zu wandern.
So lange hatte sie ihn nicht mehr spielen gehört! Langsam wandte Ann sich um. Versunken, die Augen geschlossen, wiegte sich Mo im Takt zur Musik. Um seine Finger glühte ein goldenes Licht, sanfte, ätherische Fäden stiegen auf und verwoben sich zu einem Lichterteppich über seinem Kopf. Dann bewegte er die zweite Hand und das Blau der tieferen Töne gesellte sich in das Muster, das sich um den Turm herum ausbreitete.
Wie ein Wollknäuel ballte sich die Musik um den Turm. Sie schwoll an, erstickte den Donner, kribbelte warm auf Anns Haut. Mo spielte eine klassische Weise, doch je weiter er fortschritt, desto mehr trauriger Mollklänge woben sich in blassem Blau in das Muster, wie Regentropfen im Gold der Musik. Weitere Klänge unbekannten Ursprungs mischten sich in das Muster. Ann hörte Streicher und leise Trompeten, ferne Trommel, Geigen und Kontrabässe. Ein Orchester schien in der Luft um sie herum zu spielen.
Inzwischen war das Farbenwerk so dicht, dass sie die Schlacht kaum noch sehen konnte. Die Kugel krönte den schlanken Glockenturm wie die Kuppel einer Moschee.
Ein letztes Mal atmete sie durch. Tränen schimmerten in Anns blauen Augen, hervorgelockt von den Tönen der Musik. Sie hielt den Atem an, nur einen Moment, wartete auf den richtigen Takt, dann ließ sie ihn in die Flöte gleiten.
Hell erklang die schwarze Flöte. Mit einem metallischen, kalten Klang, klar genug, um das Geflecht der Töne zu durchbrechen, das Mo gewoben hatte. Wie Lanzen stießen dunkle Fäden aus dem Licht, mal lang, mal kurz, abhängig davon, wie Ann die Töne spielte.
Ihr Herz wollte sich abwenden. Wollte sich umdrehen und fortrennen, doch sie konnte es nicht. Der Wind umspielte ihre Gestalt im weiten Kleid, und Tränen rannen stumm über ihre blassen Wangen. Je leichter die Melodie der Flöte über den traurigen Tönen tanzte, desto schwerer wurde Anns Herz. Einen Moment stockte ihr der Atem, eingesperrt von einem stechenden Schmerz in ihrer Kehle, und doch klang das Lied fort, während sie zitternd Luft holte und weiterspielte.
Die Farben wirbelten um sie herum. Sie tanzten wie Blätter im Wind, der um den Turm herumjagte, und an seinem Fuß toste das Meer so schwarz und dunkel wie der Tod. Dann schwoll der Klang der Musik an, bis er in jedem Winkel der Stadt zu hören war, und wie Pfeile jagten die schwarzen Dornen der Musik herab aus den Wolken. Sie durchbohrten die Feinde, eine kalte, stahlharte Macht. Zielstrebig fand ein jeder Pfeil seinen Weg in das Herz eines Gegners. Der Himmel ward dunkel wie von den Schwingen eines Krähenschwarms. Am Boden, eng zusammengedrängt, hielten die Menschen die Luft an. Gewaltig toste die Melodie über der Stadt, ein Lied, das jeden, der es hörte, vor Trauer oder Entsetzen verharren ließ. Ein Gesang des Zorns, der aus Verzweiflung geboren wurde, eine Sinfonie aus Leid. Manch ein Herz stellte mutlos den Schlag ein, als es diese Weise vernahm, und manch ein Atem stockte für immer angesichts des qualvollen Klangs.
Weiter und weiter spielten sie, Ann und Mo, auf dem höchsten Turm, umweht vom Sturm. Und die Musik hüllte die Stadt ein wie eine Blase, schützte ihre Bewohner und jagte die Feinde hinfort. Die weiten Hügel des freien Landes wurden getränkt mit dem blauen Blut der Horde, und Tränen fielen leuchtend wie Gold. Die Steine der Burgmauer selbst ließen sich erweichen, und sie fielen herab, doch benötigte diese Stätte der letzten Hoffnung nun keinen Wall mehr.
Als die Musik endlich verklang, als die Geräusche der Welt zurückkehrten und Stimmen nicht länger ertränkt wurden, da riss die Wolkendecke auf und der blaue Nachthimmel mit all seinen Sternen leuchtete herab auf das Schlachtfeld, spiegelte sich auf dem klaren Meer.
Der höchste Turm jedoch, wo einst die Glocke gehangen hatte, der war leer. Weder Mo noch Ann, weder Flügel noch Flöte waren geblieben, und wenngleich die Mächte der Musik gesiegt hatten, herrschte eine lange Zeit nur Stille.