- Start: 29.09.2021 - 23:34 Uhr
- Ende: 30.09.2021 - 00:21 Uhr
Anotai legte den Löffel neben den Teller, die Hände aneinander und die Finger vor die Lippen. "Irgendwer hier ist nicht, was er zu sein vorgibt."
Ihre Teamkollegen sahen von ihrem Essen auf.
"Was meinst du?", fragte Alexei verwirrt.
Loreley verengte die Augen und musterte Anotai eine ganze Weile konzentriert. Dann konnte man beobachten, wie eine Gänsehaut auf ihre dünnen Arme trat. "Du meinst ... ein Feind?"
Anotai presste die Lippen aufeinander und nickte.
Loreley und Alexei sahen sich im Saal um. Die vielen Tische waren gut gefüllt. Andere Wächter liefen ein und aus, eine lange Schlange zog sich zur Essensausgabe, und auf der Galerie im zweiten Stock eilten weitere Wächter zwischen den Fluren und Türen hin und her. Die ganze Halle summte wie ein Bienenstock.
"Weißt du, wer?", fragte Alexei.
"Nein, weiß ich nicht!", zischte Anotai gereizt. Sie legte die Hände auf den Tisch. "Ich habe keine Ahnung, okay? Da war nur ganz kurz ein Gedanke, und jetzt ist er wieder im Chaos untergegangen."
"Nicht so laut." Beruhigend legte Loreley der Dunkelhaarigen eine Hand auf den Arm. "Wir müssen das logisch angehen. Sollen wir jemandem Bescheid sagen? Wir sind immer noch Novizen, haben wir alleine überhaupt eine Chance?"
Die drei ungleichen Wächter sahen einander an. Anotai seufzte und rückte ihre Brille zurück, ehe sie den Blick senkte. Sie schloss die Augen und der konzentrierte Gesichtsausdruck verriet ihren Freunden, dass sie erneut nach dem Signal suchte, das sie aufgeschnappt hatte.
Loreley, eine zierliche, blauäugige Blondine, ließ den Blick unauffällig durch den Raum gleiten. Alexei, von normaler Statur und mit einer runden Brille, nahm die Armbanduhr vom Handgelenk und rief einen Scanner auf, den er durch den Raum laufen ließ.
"Nichts", teilte er ihnen leise mit, als Anotai aufkeuchte und sich an die Tischplatte klammerte.
"Was hast du? Was ist los?" Loreley sprang auf und kam um den Tisch herum, um Anotai zu stützen. Alexei machte es ihr gleich, allerdings, um den Umstehenden den Blick bestmöglich zu versperren. Schon jetzt sahen die anderen Wächter misstrauisch zu ihnen herüber.
Anotai stand auf. Ihre Beine zitterten, trotzdem strebte sie die Tür an. Loreley legte sich ihren Arm über die Schulter.
"Allergie vielleicht?", sagte sie laut genug, dass es einige der Umstehenden hören konnten. Hoffentlich würden sie es als Erklärung für Anotais Verhalten akzeptieren.
Anotai hatte, wie die meisten Wächter, ein Geheimnis. Und dieses Geheimnis, sollte es je ans Licht kommen, könnten Feinde oder Neider gegen sie verwenden. Man konnte sich nie sicher sein, dass keine Doppelagenten anwesend waren. Man wusste nie, wem man womöglich in einer anderen Welt begegnete. Und sie wussten außerdem, dass irgendein gefährliches Wesen in der Halle war.
Da mussten besondere Fähigkeiten möglichst geheim bleiben, damit niemand sie vorher kontern konnte. Wächter verließen sich auf das Überraschungsmoment. Das war manchmal alles, was sie hatten.
Sobald sie durch die Türen waren, beruhigte sich Anotai. Loreley ließ ihre kleinere Freundin los, die an der Wand nach unten sank und durchamtete. Sie presste die Hand auf den Magen. "Da ist ... so viel Zorn in diesen Gedanken. So viel Hass. Und ich glaube, ich habe Bomben in seinen Erinnerungen gesehen. Irgendwas, das er in der Speisehalle zünden will."
"Es ist also ein Kerl", schlussfolgerte Alexei, der langsam in Fahrt kam. "Was weißt du noch?"
"Eine Figur", murmelte Anotai. "Er ist auf Magie angewiesen, um den Zünder zu betätigen." Sie fuhr sich durch das Haar. "Da drinnen ist es einfach zu voll! Ich kann ihn nicht mehr finden."
"Und wir können auch nichts ausrichten", murmelte Alexei. "Nicht, ohne dem Kerl zu verraten, dass wir ihm auf der Spur sind - und dann zündet er die Bombe einfach."
"Wir könnten die Blase abstellen. Dann ist nichts mehr mit Magie", schlug Loreley in gedämpftem Ton vor.
"Zu riskant." Alexei schüttelte den Kopf. "Schon allein für Anotai!"
Sie - wie womöglich auch eine Vielzahl anderer Wächter im Saal - konnte ohne Magie nicht überleben.
"Ihr versteht das nicht." Anotai stemmte sich wieder hoch. "Wenn wir es nicht tun, werden alle da drin sterben. Wenn wir die Magie ausschalten, dagegen nur ein Teil."
Sie tauschten kurze Blicke, dann nickte Loreley und Alexei senkte den Blick. "In Ordnung."
Nachdem die Entscheidung gefallen war, rannten sie los, drängten sich durch die Massen, die zum gut gefüllten Speisesaal strebten, und folgten den langen, weißen Gängen der unterirdischen Basis. Es war Mittag und viel los. Eine Explosion im Zentrum dieses Komplexes würde unendlich viele Leben fordern. Ganz zu schweigen von der Gefahr, dass das Beben die geheime Basis auch den Zivilisten offenbaren könnte.
Die drei erreichten eine Treppe und stürmten hinauf, während ihnen neugierige Blicke folgten. In die Wände zu beiden Seiten waren Fenster eingelassen. Aus den Kontrollräumen dahinter sahen mehrere Menschen auf. Ihre Uniformen waren nicht grau, wie die der anderen Wächter, sondern hatten schwarze Applikationen.
Am Ende des kurzen Ganges lag eine Doppeltür. Ein Mann in schwarzer Kleidung trat ihnen in den Weg.
"Halt. Was habt ihr vor?"
"Wir müssen sofort die Blase abstellen", berichtete Anotai außer Atem. "Im Speisesaal ist eine Figur, die will alles in die Luft jagen."
Der Schwarzgekleidete runzelte die Stirn. "Aber wir können doch nicht die Blase abstellen!"
"Bitte, uns bleibt keine Zeit!"
"Wie viel?", fragte der Schwarzgekleidete.
Anotai fuhr sich durch das Haar. "Ein paar Minuten ... ich weiß es nicht!"
"Ein paar Minuten", belehrte sie der Schwarzgekleidete, "ist mehr als genug Zeit."
"Meister Fynn, das ist jetzt nicht die Zeit für eine Lektion ...", setzte Loreley an, doch der Schwarzgekleidete unterbrach sie, indem er die Hand hob.
"Das ist sogar die perfekte Zeit für eine Lektion. Wer ist die Figur?"
"Ich ... weiß nur von seiner Intention", antwortete Anotai ausweichend. "Davon aber mit Sicherheit."
"Ich glaube dir, Kind." Fynn lächelte. Er hatte ein weiches Gesicht und kurzes, krauses Haar. Doch wenn er ernst guckte, konnte er furchteinflößend sein. "Egal. Wir wissen, dass er etwas plant, und was. Vermutlich will er dann zuschlagen, wenn die meisten Wächter im Saal sind. Also machen wir ihm einen Strich durch die Rechnung!"
"Und wie?", platzte es aus Alexei heraus.
"Du kannst dich doch in eine Bestie verwandeln, richtig?"
"Ich ... woher ...?" Der Junge wurde blass.
"Und du, Loreley ... hast Erfahrung mit Bestien."
Zarte Röte kroch auf Loreleys Wangen. "J-ja, mein Vater ist ..."
Fynn hob erneut die Hand und sie verstummte. "Ihr braucht es nicht aussprechen. Wahrt eure Geheimnisse. Aber das heißt, dass ihr beide eine Ablenkung inszeniert. Nehmt den Gang zur Turnhalle, da ist gerade niemand mehr, der einem Wertier nicht davonlaufen könnte. Und macht mir nicht zu viel kaputt!"
Alexei und Loreley tauschten einen kurzen Blick, dann nickten sie und sprinteten los. Es dauerte nicht lange, bis ein Brüllen durch die Gänge hallte, gefolgt von Bersten und Krachen. Wächter auf den Gängen zückten ihre Waffen oder eilten in ihre Räume, um den Kämpfern nicht im Weg zu sein. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich das Chaos in ordentliche Reihen. Helfer rannten dem Lärm entgegen, andere trafen Vorbereitungen, um Türen zu verbarrikadieren.
"Und nun zu uns beiden." Fynn legte seine Hand auf Anotais Schulter. "Du kannst Gedanken lesen, mehr oder weniger."
Anotai seufzte. "Ihr wisst scheinbar alles."
"Ich bin der Leiter dieser Akademie. Ich muss alles wissen - doch selbst ich kenne nicht alle Geheimnisse." Er ging los, die Treppe hinunter. Anotai folgte. Irgendwo in der Ferne schepperte Glas.
"Der Saal sollte jetzt leerer sein. Such diese Figur."
Anotai nickte gehorsam. Sie und Fynn traten in die große Halle, die inzwischen leerer war. Ein paar Wächter aßen, als würde nichts geschehen, doch die meisten behielten die Tür im Blick. Anotai empfing Sorge, Anspannung und ein paar genervte Gedanken. Doch dann.
"Er!", flüsterte sie und deutete unauffällig auf einen blonden, nicht sehr spektakulär aussehenden Typen in Wächter-Uniform. Äußerlich merkte man ihm nichts an. Er verhielt sich wie die anderen und tauchte in der Menge unter. Doch sein brodelnder Zorn verursachte Anotai Magenschmerzen. Sein Plan war verhindert worden, oder jedenfalls aufgeschoben, und das passte ihm gar nicht.
Doch er war auch wachsam und behielt Fynn im Blick, sobald er die dunklere Uniform erspäht hatte. Der Anführer der Wächter ignorierte die Figur vollständig, schlenderte zum Buffet und nahm sich einen Strohhalm und ein Glas.
Im nächsten Moment führte er den Strohhalm an die Lippen und hatte einen kleinen Blasrohrpfeil abgefeuert, bevor Anotai überhaupt gesehen hatte, dass er die kleine Waffe hervorgeholt hätte. Die Figur sackte lautlos in sich zusammen, und nur ein paar Wächter sahen überhaupt etwas.
Mit schnellen Schritten war Fynn bei ihrem gefallenen Feind und beugte sich über ihn. Er hielt einen Sender an den Hals des Bewusstlosen und scannte ihn.
"Ist er wichtig?", fragte Anotai, als sie hinzu kam.
"Er wird eigentlich für seine Geschichte gebraucht. Ich danke, daher stammt sein Zorn. Er war ein Handlanger, der recht früh stirbt. Als er zurückgeschickt wurde, wollte er sich wohl mit diesem Schicksal nicht abfinden." Fynn seufzte. "Einer derjenigen, die es mitbekommen, die die Geschichte wieder und wieder erleben. Und dann immer nur fünf Minuten. Kein Wunder, dass er durchdreht."
Schweigend stand Anotai neben dem überraschend mitfühlenden Obersten.
Fynn stand auf und räusperte sich. "Nun, wir werden ihn diesmal gründlicher behandeln. Er will nicht kooperieren? Dann muss er die Wächter vergessen." Er winkte zwei Nahestehenden. "Bringt ihn in die Zellen. Es muss eine telepathieisolierte Zelle sein, stellt das unbedingt sicher."
Die beiden ratlosen Wächterinnen nickten und hoben den Bewusstlosen auf.
"Wir müssen auch dringend diese Bomben finden", sagte Fynn mehr zu sich selbst. "Oder ... wir lassen sie. Könnte eine witzige Überraschung sein, falls uns jemand angreifen will."
"Das ist doch riskant!", hauchte Anotai.
Fynn senkte die Stimme. "Und du wolltest heute ein ähnliches Risiko eingehen, um die Akademie zu retten. Ich weiß, was außerhalb einer Blase mit dir geschieht. Dein Gehirn funktioniert nicht nach den normalen Regeln der Physik."
"Ein kleines Opfer, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel stand."
"Das mag sein. Aber manchmal ist auch eine große Gefahr nicht so schlimm, wie sie scheint." Fynn grinste ihr zu. "Merk dir die Lektion."
Neuerliches Scheppern drang in die Halle. Irgendwo brüllte jemand vor Schmerz.
Fynn seufzte. "Allerdings kommt auch diese Lösung nur mit einem hohen Preis ... komm, holen wir deine Freunde zurück."