- Start: 22.11.2021 - 21:36 Uhr
- Ende: 22.11.2021 - 22:01 Uhr
"Ich denke, es wird Zeit, dass ihr unseren wichtigsten Patienten hier kennenlernt", verkündete Marxwell den beiden Mädchen, nachdem diese die Türen hinter sich geschlossen hatten.
"Den hinter der verriegelten Tür?", fragte Lizzy mit leuchtenden Augen.
Elaine sah ihre Schwester fragend an.
Marxwell nickte. "Eben den. Ich denke, ihr seid bereit." Während er sich auf seinen Stock stützte, humpelte der alte Mann hinter den Tresen und nahm einen großen Schlüssel aus dem Kasten. Er ächzte, als er wieder nach vorne kam. "Immerhin übernehmt ihr hier vielleicht mal."
Lizzys Vorfreude erhielt sofort einen Dämpfer. Traurig betrachtete sie den weißhaarigen Dunkelhäutigen, der ihr den rostigen Schlüssel in die Hand drückte. "Marxwell ..."
"Ist schon gut, Kind." Er wuschelte ihr durch die Locken. "Los, gehen wir."
Die beiden jungen Mädchen folgten ihrem humpelnden Mentor durch eine Tür und einen langen Gang entlang. Zu beiden Seiten erhoben sich Käfige mit Gittern in verschiedenen Größen oder Glasfassaden. Dahinter wuchsen mal kleine Bäumchen, mal gab es Nachbildungen von Wüsten oder andere Biotope. Licht stammte von den LEDs in der Decke, die Sonnenlicht nachahmten, doch UV-Lampen waren in diesem unterirdischen Zoo selten und wurden nur sparsam genutzt. Man sah es den magischen Schmetterlingen an, deren Flügelschläge träge waren. Die sonst leuchtenden Insekten waren blass und farblos.
Viele Gänge gingen vom mittleren Flur ab, doch heute bogen sie in keinen davon, sondern näherten sich den Türen ganz am Ende des Ganges. Diese führten zu gewöhnlichen Zimmern, wie Elaine wusste, seit sie selbst in einem solchen Zimmer wohnte. Die meisten Türen hatten nur ein einfaches Schloss, doch eine war mit mehreren Ketten gesichert und verriegelt.
Nun, normalerweise verriegelt. Heute waren die Ketten geöffnet worden, nur ein Schloss prangte noch an der Tür. Den Schlüssel dafür hielt Lizzy in der Hand.
Sie zögerte vor der Tür und sah Marxwell an. "Was genau ist dahinter?"
"Sehr gut, du erinnerst dich an deine Ausbildung. Gehe nie in einen Raum, wenn du nicht weiß, was dahinter ist. Aber manchmal muss man in unserer Position auch ins Dunkle rennen und hoffen, dass man es übersteht." Marxwell lächelte. "Öffne die Tür, Elizabeth."
Die Braunhaarige schluckte und tauschte einen Blick mit Elaine, die den Besen fester umklammerte. Sie hatten gerade gefegt, als Marxwell sie zu dieser spontanen Lektion gerufen hatte.
Nervös schob Lizzy den Schlüssel ins Schloss, während sich Elaine neben ihr anspannte. Dann öffnete Lizzy die Tür.
Dahinter war es dunkel. Nur eine Kerze brannte in der Mitte des Raumes auf einem Tisch. Sie konnten ein Bett erahnen, einen Schrank und dicke, schwere Vorhänge wie in einem Schloss.
"H-hallo?", rief Lizzy in das dunkle Zimmer. "Wer ist da?"
"Du bist also Elizabeth", schnurrte eine weiche, männliche Stimme aus der Finsternis. "Marxwell hat mir schon viel von dir erzählt." Der Unbekannte klang etwas älter und hatte einen harten Akzent, er rollte das R.
"Hat er das, ja?" Lizzy wagte es nicht, zu ihrem Mentoren zurück zu sehen, doch es war ungewöhnlich, dass eines der Lebewesen hier von ihr wusste. Man verriet ja noch nicht mal seinesgleichen mehr als unbedingt nötig war, und schon gar nicht einer der Kuriositäten hier.
Das bedeutete entweder, man konnte dem Fremden bedingungslos vertrauen, oder er konnte in irgendeiner Weise Gedanken lesen.
"Komm herein", bat der Unsichtbare und Lizzy machte einen Schritt vor. Elaine hielt sich, den Besen fest im Griff, dicht an ihrer Seite.
"Mein Mentor hat mir leider nicht sehr viel über dich erzählt", sagte Lizzy zur Dunkelheit. "Wie war noch gleich dein Name?"
"Bitte", sagte der Fremde gedehnt. "Es heißt 'euer Name', immerhin bin ich ein Graf."
Graf. Lizzy spürte plötzliche Kälte auf ihren Armen. Ihre Alarmglocken schrillten.
"Mein Name", fuhr der Fremde fort, und die Kerze flackerte auf, enthüllte den Raum und die Gestalt im dunklen Umhang ihnen gegenüber, "ist Dracula."
Elaine schrie leise auf und stolperte zurück, und auch Lizzy wich zur Tür. Ihnen gegenüber stand, in einem dunkeln Frack mit Umhang, das Sinnbild eines Vampirs. Kurzes, schwarzes Haar, totenbleiche Haut, blutunterlaufene Augen und krallenartige Finger. Das breite Grinsen offenbarte spitze Eckzähne.
Ein Vampir! Und sie hatte nichts bei sich, um sich zu schützen. Hatte Marxwell sie in eine Falle gelockt - wissentlich oder unter dem Einfluss einer Gedankenkontrolle?
Das Lächeln des Vampirs veränderte sich. Er setzte sich und gleich schienen die Schatten auf merkwürdige Weise weniger dunkel zu werden. "Aber ihr könnt Vlad sagen, wenn euch das lieber ist."
Nun war das Zimmer auch besser zu erkennen, und Lizzy stellte fest, dass es eigentlich sehr gemütlich und modern eingerichtet war, nicht in schwarz und rot gehalten, wie sie es erwartet hätte. Das Bett war kein Sarg, sondern ein Boxspringbett, es gab einen Schreibtisch aus hellem Holz und einige Landschaftsbilder an den Wänden. Auf den Holzdielen befand sich verdächtig viel Erde, vermutlich transsilvanische Erde, doch davon abgesehen könnte man das Zimmer für ein Hotelzimmer halten.
Nur langsam ließ Elaine den Besen sinken.
"Entschuldigt den kleinen Spaß", sagte Dracula lächelnd. "Aber jeder, der meinen Namen hört, denkt natürlich erst einmal an den großen, bösen Vampir."
"Du hast Dracula hier unten?!" Lizzy wandte sich an Marxwell.
"Einen von ihnen, ja." Der Alte lächelte verschmitzt.
"Ich kann es euch nicht verdenken", fuhr der Vampir fort. "Ich bin nun mal das Sinnbild eines Antagonisten. Bitte, setzt euch ruhig."
Drei Stühle schoben sich von den Wänden bis vor den Tisch, von einer unsichtbaren Macht bewegt. Lizzy tauschte einen Blick mit Elaine, dann setzten sie sich. Marxwell nahm aufseufzend auf dem dritten Stuhl Platz.
"Dann ... tust du nichts?", fragte Lizzy. "Ähh ... tut Ihr nichts?"
"Nun, ich lese eine Menge", antwortete der Urvampir. "Ich schreibe einige Briefe, die ihr natürlich nie in meine Heimat abschickt. Ich teste Weine." Er wies auf ein gut gefülltes Weinregal hinter sich. "Ab und zu schlage ich den guten Marxwell im Schach."
"Er gewinnt immer", murrte Marxwell.
"Aber ... die Schlösser vor der Tür ...", stammelte Lizzy.
"Oh, die sind zu meiner Sicherheit, nicht zu eurer. Manche von euch würden, wüssten sie, dass ich hier bin, mit Pflöcken hereingestürmt kommen. Das möchte ich gerne vermeiden." Der Vampir schob ihnen dampfende Teetassen herüber. "Ich bin zufrieden damit, in diesem Raum zu sitzen. Bücher sind meine Reisemöglichkeit und ich habe so ein Dings ... einen Laptop. Aber ich freue mich auch sehr über Gesellschaft."
Vorsichtig nahm Lizzy die Tasse auf. Sie schielte zu Marxwell, der zufrieden grinste.
Der Fuchs! Er hatte gewusst, dass hier drin keine Gefahr lauerte. Es war ein Test gewesen, aber glücklicherweise keiner mit einem realen Risiko.
Sie trank einen Schluck. "Also ... das ist alles, was du an Versorgung brauchst? Bücher, Internetzugang und ab und zu Gesellschaft?"
Dracula nickte. "Seit ich aus meinem Buch entkommen bin, habe ich festgestellt, dass das Leben so viel mehr zu bieten hat - selbst für einen Untoten wie mich." Er beugte sich vor. "Aber nun, meine Liebe ... ich möchte dich und deine Schwester gerne ein bisschen kennenlernen. Wenn ich das richtig verstehe, werden wir noch häufiger miteinander zu tun haben."