- Start: 18.10.2020 - 20:28 Uhr
- Ende: 18.10.2020 - 21:12 Uhr
"Boah, wer stellt denn so ein Gruselding auf?", fragte Mo.
"Was? Wo?" Kassie sah sich um.
Noch ehe Mortimer den Finger ausstreckte, hatte sie die Vogelscheuche bereits bemerkt. Eine farblose, fahlbräunliche Gestalt aus Fetzen und Lederstücken, die auf einem schiefen Pfahl mitten im gelben, nebelbedeckten Feld stand.
Sie schüttelte sich. "Jemand ohne Geschmack."
"Hoffen wir einfach, dass die da stehen bleibt", flüsterte Mo und setzte sich wieder in Bewegung. Der Kies knirschte unter seinen Schritten und unter den Reifen von Blaze' Rollstuhl, den Kassie schob.
"Die wird sich doch nicht wirklich bewegen, oder?", fragte Blaze leise. Der Jüngste aus ihrem eigentlich achtköpfigen Team war blass geworden.
"Nein ... bestimmt nicht", versuchte Kassie, ihn zu beschwichtigen.
"Ganz sicher", sagte Mo. "Da! Sie starrt uns hinterher!"
Die drei drehten sich um und sahen die Vogelscheuche an. Die verharrte reglos im Feld - aber hatte der Kopf sich vielleicht leicht gedreht, um ihren Weg zu der alten Farm zu verfolgen.
Kassie schob die Hände tiefer in die Ärmel ihres roten Pullis. Ihr Atem stieg als weiße Wolke vor ihrem Gesicht auf.
"V-vielleicht ist das einer der Anderen, der uns einen Schreck einjagen will", schlug sie vor. "Zac oder Pyrrha."
"Das würde ich sehen!", schnaubte Mo und verschränkte die Arme vor der durchscheinenden Brust. Sein Körper war aus einer Art beweglichem, von Nebel erfülltem Glas. Genau wie Pyrrha und Zac war er seit knapp einem Jahr ein Geist.
Die drei trugen ihr Schicksal mit Fassung.
Blaze funkelte die Vogelscheuche an. "Lasst uns das hier einfach hinter uns bringen, ja? Wenn die blöde Vogelscheuche da auch verflucht ist, soll sich bloß jemand anderes darum kümmern!"
Kassie schob den Rollstuhl weiter. Ein Rad quietschte. Mo strich mit einer Hand über die Köpfe der schweren Ähren, die noch niemand geerntet hatte.
Vor ihnen schälte sich die Farm aus dem Nebel. Mit einem roten Spitzdach, das oben flach und dann nach einem Knick an den Seiten steiler abfiel schien das Holzhaus aus einem Bilderbuch zu stammen. Nun - ein Bilderbuch, dessen Farben mit der Zeit verblasst waren und über das hin und wieder eine Tasse Kaffee oder Wasser gelaufen war. Schindeln waren heruntergefallen und eröffneten klaffende Löcher im Dach, aus einigen Fenstern wehte klagender Wind. Zu den Seiten des Hauses erhoben sich düstere, windschiefe Tannen mit an Klauen gemahnenden Ästen.
Sie hielten an.
"Wolltest du nicht immer mal auf's Land ziehen?", fragte Mo an Kassie gewandt. "Das ist doch ein romantisches, kleines Häuschen."
"Halt die Klappe", murmelte Kassie und tastete nach ihren Pistolen. "Was meint ihr, sind wir nah genug?"
"Nur ein Weg, um das herauszufinden", sagte Mo und legte die Hände trichterförmig um den Mund.
"Nicht!", rief Kassie.
"HEEEY!", brüllte Mo. "Hallo? Irgendwelche paranormalen Erscheinungen zuhause?"
Kassie hielt den Atem an. Blaze umklammerte die Lehnen seines Rollstuhls so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Mo biss sich still auf die Unterlippe.
Das Haus blieb dunkel und still. Nur die Tannen knarzten leise im Wind.
"Offenbar müssen wir näher dran", schloss Mo.
Kassie nickte angespannt. Sie hatte ihre Pistolen gezückt, obwohl sie wusste, dass diese gegen einen zornigen Geist nur wenig würden ausrichten können. Allerdings wenigstens etwas - sie hatte die Kugeln vorher in Salz gebadet.
Vorsichtig tasteten sie sich weiter vor. Blaze ließ die Abdeckung im Rollstuhlgriff - über die sich die Steuerkonsole verbergen ließ - auf und zu schnappen. Sie machte ein scharfes, laut widerhallendes Geräusch.
Klack. Klack.
"Blaze, bitte." Kassie sah auf den kleinen Jungen.
"Tschuldigung." Blaze nahm die Hände in den Schoß.
Etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt hielten sie wieder an.
"Wie schnell ist eigentlich so ein Geist?", fragte Mo leise. Eine Dachluke des Hauses klapperte.
"Normalerweise gehen die ja nur", überlege Kassie und fummelte erneut an ihrem Ärmel herum. "Aber sie können auch oft teleportieren."
Mo legte die Hände um den Mund: "Hey, Geist! Du hast doofe Ohren und riechst nach Pipi!"
Blaze kicherte nervös. "Wo hast du den denn her?"
"Wenn man durch Wände gehen kann, schnappt man einiges auf." Mo grinste.
"Jungs!", zischte Kassie und deutete auf das Haus.
Im unteren Stockwerk flackerten die Lichter. Dann bewegte sich das Laub vor dem Eingang in einem immer stärker werdenden Wind ...
"Totale Energieverschwendung", murmelte Mo.
Blaze klappte die Steuerkonsole auf und wendete den Rollstuhl. Dessen Motor röhrte auf, als der Junge in den Fluchtmodus wechselte.
Mo starrte wie angewurzelt auf den Sturm, der nun auch die Tannen bog. Aus wirbelnden Blättern und Erde formte sich ein gewaltiger, schwarzer Schatten vor ihnen, der das Haus bereits überragte. Er beugte sich vor und streckte eine riesenhafte Hand nach Mortimer aus ...
Ein Schuss krachte und der Schatten zuckte mit einem dumpfen Grollen wie Donner zurück. Verwundert - und wütend - sah er auf das faustgroße Loch in seiner nebeligen Hand, das sich sofort wieder schloss.
"MO!", rief Kassie, packte ihren besten Freund an der Schulter und riss ihn zum Rollstuhl. Blaze' Enthinderer hatte inzwischen hinten Trittbretter ausgefahren, auf die Kassie und Mo sprangen, um sich hinten an die Lehne zu klammern.
"Fahr! FAHR!", schrie Mo, als der Schatten mit der Faust ausholte, um sie zu zerquetschen.
Die Reifen holperten über den Schotterweg und spritzten kleine Steinchen auf. Die Kornfelder am Wegesrand bewegten sich im Windzug des dahinjagenden Rollstuhls. Am Himmel versammelte sich kreischend ein Schwarm Krähen.
"Funktioniert es?", rief Blaze über die Schulter.
Kassie sah zurück. "Ich glaube, er kommt."
"Mehr hast du nicht drauf?", brüllte Mo dem Geist entgegen. "Das ist ja lächerlich. Das kriegt meine Urgroßmutter besser hin - und die ist noch lebendig!"
Der Schatten beschleunigte.
"Jetzt kommt er definitiv!", quiekte Kassie und duckte sich, als ein schwarzer Vogel auf ihren Kopf zujagte.
Verbissen hielt Blaze den ruckelnden Rollstuhl gerade und steuerte auf das hohe Tor zu, das den verfallenen Holzzaun rings um den Hof abschloss.
"Schneller!", drängte Kassie. Die Schattengestalt floss ihnen hinterher wie eine rauchfarbene Lawine. "Schneller, Blaze!"
Sie jagten durch das Tor. Der Schatten war nur wenige Meter hinter ihnen und streckte die Schattenhand nach ihnen aus. Kassie schoss und konnte gerade noch verhindern, dass sich die Finger um Mo schlossen.
Dann jagte der Geist durch das Tor - und explodierte.
Helle, weiße Blitze schlugen urplötzlich aus dem Boden und bildeten ein weißes Gitternetz über dem Eingang. Ein irres Kreischen erklang, als der Geist innerhalb von Sekunden in weißen Flammen stand und dann verbrannte. Die Luft füllte sich mit einem scharfen, stechenden Geruch.
Blaze kam schlitternd zum Stehen. Der erhitzte Motor entließ Qualmwolken in die Luft.
Keuchend sahen Kassie, Mo und Blaze nach hinten.
"Hat es geklappt?", fragte Mo.
Einige schwarze Fetzen trudelten aus den Wolken. Die Krähen verzogen sich mit lautem Geschimpfe.
"Sieht ganz so aus!", flüsterte Kassie.
Das Gebüsch neben dem Weg raschelte. Dann spähte ein rundes Gesicht hervor. "Geht es euch gut?"
Mo ließ sich auf den Boden fallen und reckte einen Daumen in die Luft.
Jin trat komplett aus dem Gebüsch und die vier restlichen Mitglieder ihres Teams schälten sich ebenfalls aus ihren Verstecken. Zac, Tacita, Pyrrha und Karma umringten den Rollstuhl und betrachteten das im Wind schwankende Holztor.
"Nicht schlecht." Zac kritzelte auf einen Notizblock. "Die Taktik scheint recht gut zu klappen. Aber Kassie - ich habe zwei Schüsse gezählt. Diese Kugeln sind wertvoll, also müssen wir daran unbedingt arbeiten! Und Tacita, das Abwehrnetz war auf deiner Seite etwas dünn. Ein stärkerer Geist wäre durchgebrochen."
Zac sah sein Team streng an. In diesem Moment knirschte das Tor und kippte, ehe es donnernd auf der Erde aufkam.
Zac drehte sich um und fügte seinen Notizen eine weitere Zeile hinzu. "Und wir brauchen eine stabilere Basis für unsere Geisterfallen."
"Das nächste Mal kann ja jemand anderes den Lockvogel spielen!", knurrte Kassie.
"Das stimmt, sie hat mich zweimal gerettet", sprang Mo ihr bei. Beide sah den kleinen, dicklichen Zac entgeistert an. Ein Jahr lang war er bereits ihr Teamführer - und außer ihm hatte sich noch niemand an die Tatsache gewöhnt.
"Vielleicht können wir durchwechseln", murmelte Zac überlegend. "Kassie brauche ich eigentlich eh in der Analyse. Also schön, beim nächsten Auftrag sind Jin und Karma dran."
"W-was?" Jin wurde blass.
"Och nööö", stöhnte Karma.
"Beim nächsten Auftrag?", fragte Kassie. "Ich dachte, wir hätten Halloween frei."
Zac schüttelte den Kopf. "Laut Sam ist der Oktober der Monat mit den meisten Geistersichtungen. Bereitet euch auf einige volle Wochen vor!"
Die sieben Anderen stöhnten genervt.
Klack. Klack.
"Blaze! Was habe ich zu nervigen Geräuschen gesagt?", fragte Kassie.
Blaze sah auf. "Ähh ... das bin ich nicht."
Die acht Jugendlichen starrten einander an, dann die Umgebung. Ein düsterer Wald unter schweren, nächtlichen Wolken. Der kiesige Weg entlang einer Wiese, der durch das Tor auf den Hof führte. Die Felder unter dem kalten Wind ...
"Mo!", hauchte Kassie. "Die Vogelscheuche ist weg!"