- Start: 06.10.2019 - 19:17 Uhr
- Ende: 06.10.2019 - 19:53 Uhr
Ein von blassen, violetten Blumen gesäumter Pfad führt hinein in den Wald aus einem Farbenfeuermeer. Mit leisen Stimmchen, die dem Klang winziger Glöckchen ähneln, singen die kleinen Blumen vom Nahen des Herbstes. Ein kleiner Bach, der Tränenfluss, begleitet murmelnd ihren Weg durch dunkelblaues Moos hinein in die Schatten zwischen den schwarzen Stämmen.
Blutrote Ulmen und goldglühende Birken beherrschen den Wald, nur hie und da wird das brennende Feuerwerk durch eine düstere, dunkelgrüne Tanne gebrochen. Dichtes, braunes Laub bedeckt den Boden, doch kleine Moosinseln ragen aus diesem Meer. Der Weg aus silbernen Kieseln ist wundersamerweise wie leergefegt.
Mit schwerem Hufschlag folgt ein schwarzes Pferd dem Weg. Seine lange Mähne weht im Wind, scheint sich mit den silbrigen Linien der Spinnennetze zu verweben. Der Friese hält den Kopf gebogen und achtet auf jeden Schritt. Nur sein leises Schnaufen und der Klang seiner Hufe begleitet das Murmeln des Baches durch den Herbstwald.
Dann gibt die Reiterin ein Zeichen und das große Pferd hält an. Mit wachem Blick sieht die Blonde in schwarzer Gewandung sich um. Ihre langen, spitzen Ohren zucken.
Das Pferd stampft mit dem Huf, hebt und senkt den Kopf und schüttelt dann den langen Hals.
"Ruhig", flüstert die Reiterin. "Hörst du sie nicht? Sie sind hier."
Der schwarze Hengst hebt den silberfarbenen Blick. Kleine, weiße Lichter huschen durch den Wald. Sie kommen näher und stellen sich als filigrane, kindsgroße Körper heraus, die federleicht durch den Wald tanzen. Sie schimmern wie frische Milch. Ihre Leiber wabern, drehen und stauchen sich ohne Mühe. Sie sehen aus, als könnten sie sich bei einem Windhauch auflösen, doch tun sie es nicht.
Zwanzig oder mehr dieser Wesen umringen das Pferd und beginnen einen Reigen zum Takt des Herbstzeitlosengesangs. Das Pferd hebt den Kopf und spitzt die Ohren. Aufmerksam versucht es, die Wesen im Blick zu behalten.
"Nachtwind ...", murmelt die Reiterin leise und streichelt seinen Hals. "Ruhig. Vertraue mir."
Der Hengst wirft einen Blick nach hinten und legt die Ohren an. Er schnaubt abfällig, dann sieht er wieder nach vorne. Obwohl er den Kopf dreht, um die tanzenden Wesen zu beobachten, steht er stocksteif da, wie ein Felsen.
Dann glühen die Blumen zu beiden Seiten des Weges mit einem Mal auf. Wie die Lampen zweier langer Lichterketten erstrahlen sie zu beiden Seiten des Weges. Die Lichtwesen springen auf dieses Signal hin vorwärts.
"Jetzt!", brüllt die Reiterin, doch das schwarze Pferd befindet sich bereits in Bewegung. Mit einem kräftigen Satz spring der Friese über die vorderen Wesen hinweg. Kies stieb auf, als er in den Galopp übergeht.
Die Wesen verschwimmen miteinander und werden zu einer weißen, rasenden Flut, die dem Pferd hinterherjagt. Ein lautes, donnerndes Gebrüll ertönt, etwas anderes kreischt hoch und schrill. Die Ohren nach vorne gerichtet galoppiert der Hengst den Weg entlang. Das Geschrei hinter ihm zuerst siegessicher, erhält zweifelnde, dann wütende Untertöne. Die ätherische Flut wird schneller, ein Wirbel aus Schlieren und Blitzen, so mächtig, dass die Bäume entlang des Weges Feuer fangen. Die Reiterin hält sich in der Mähne des ungezäumten Pferdes fest, das dieser Naturgewalt davonrennen kann. Der schwarze Mantel flattert und offenbar feuerrotes Innenfutter.
Überall um die Gejagten erklingt das Heulen wütender Wölfe. Zornig folgt ihnen ein Ball aus strahlendem Licht, doch die so sicher geglaubte Beute entkommt! Da führt der Weg hinauf und das schäumende Pferd wird ausgebremst. Mit unverminderter Geschwindigkeit, nicht an die Gesetze der Natur gebunden, fließt das Licht ihnen hinterher.
"Schneller, Wind!", ruft die Reiterin nach einem Blick zurück. "Schneller!"
Schon lecken die weißen Flammen an den Hinterhufen und der Fesselbehaarung. Der Hengst wirft den Kopf hoch und mit einem Schnauben springt er den steilen Hang hinauf, von Vorsprung zu Vorsprung. Oben, an der Kuppe des Hügels, stehen dunkle Gestalten und winken der Reiterin. Ihre Rufe sind zu leise, um zu ihnen zu dringen.
"Na los, Wind!" Die Stimme der Reiterin wird panisch, denn das Glühen fasst nach dem Saum ihres Mantels. Ratsch! Eine Ecke fehlt, der Stoff ist zerrissen. "Wind!"
Mit Wut stößt der Hengst die Hufe in die Erde und drückt sich hinauf. Die Gestalten oben rennen los und dann, in einer Explosion aus kleinen Ästen und aufgewirbelter Erde, rast der Hengst auf die abgeflachte Kuppe des Hügels.
Blaue Lichter, etwa zwei Meter hoch, erhellen die Ebene unter dem Sternenzelt. Wie Flammen entsteigen die Lichter den weißen Pilzen mehrerer Pilzkreise, die hier im dunklen Gras wachsen. Überall zwischen den Halmen wachsen Herbstzeitlose, nur nicht innerhalb der Kreise.
Der Hengst springt in den größten dieser Kreise und bremst darinnen, indem er auf die Hinterbeine steigt. Licht umspült den Pilzkreis, doch die weißen Wesen können nicht hinein. Die ausschlagenden Vorderhufe des Hengstes gleiten durch die blauen Flammen, dann zieht er sie zurück und stellt sich mit einem Schnauben und einem siegessicheren Schütteln der schwarzen Mähne in den Schutzkreis.
Die Reiterin sieht sich wachsam um. Mit der einen Hand hält sie sich in der Mähne fest, die andere ist umhüllt von tanzendem Feuer, das ihr aus irgendeinem Grund nicht schadet. Wie als Antwort auf die roten Flammen leuchten die blauen Lichter auf. Bald schon sind die anderen Menschen, die im Schutz weiterer Kreise stehen, nicht mehr zu erkennen. Das Blau wird zu strahlendem Weiß, so hell, bis es alle anderen Farben auslöscht.
Dann wird das Leuchten schwächer. Die Lichtung ist wieder zu sehen. Diesmal ist es Tag. Der Wald ringsum ist herbstlich, doch die Farben sind blasser, vermischter. Keine einziger Herbstzeitlose ist zu sehen. Die blauen Lichter verschwinden und zurück bleibt eine gewöhnliche Wiese mit einigen unregelmäßigen Pilzkreisen, in denen Menschen und Pferde stehen.
Ein braungelocktes Mädchen eilt zu der Reiterin.
"Geht es euch gut? Für einen Moment dachte ich wirklich, sie holen euch ein."
"Nichts und niemand holt Nachtwind ein!", erwidert die Blonde grinsend. "Sind alle hier? Hat die Energie gereicht?"
"Das hat sie", bestätigt die Braunhaarige. "Puh, was für ein Abenteuer. Wir sollten die Erde hier einen Meter hoch abtragen lassen und verbrennen."
"Nicht einmal einen Herbstausritt können wir machen, ohne in einer anderen Welt zu landen!", stöhnt die Blonde. "Wer hat eigentlich die Route ausgesucht?"
"Tja", sagt ihre Freundin. "Das war dann wohl ich."
"Mit euch zwei reise ich am liebsten!", brüllt ein Junge mit braunblonden Haaren quer über die Lichtung und deutet anklagend auf die Mädchen. "Wieso passiert mir so was nur, wenn ich mit euch unterwegs bin?"
"Beruhig dich, Sam!", ruft die Reiterin. "Es ist ja nichts passiert."
"Euch gebe ich gleich 'nichts passiert'", knurrt der Junge. "Beinahe hätten wir hundert Jahre in der Anderswelt festgesteckt. Ich will ein neues Team!" Unglücklich sieht er sich unter den anderen Geretteten um. "Tauscht irgendwer von euch?"
Allgemeines Kopfschütteln ist die Antwort.
"Kommt." Die Braunhaarige schwingt sich auf ihr eigenes Pferd. "Erst einmal reiten wir nach Hause. Die Beschuldigungen können wir uns später an den Kopf werfen."
Unter einem regnerischen Himmel organisieren sich die Reiter in eine lange Schlange und reiten vom Hügel in den Wald. Zielsicher führt das Leittier mit der Braunhaarigen auf dem Rücken die Herde an. Dabei folgt es unbeirrbar seinem eigenen Weg, fast, als sähe es einen Pfad im Herbstlaub unter den Bäumen. Einen Pfad, der in einer anderen Welt mit Herbstzeitlosen gesäumt gewesen wäre.