- Start: 05.11.2020 - 11:58 Uhr
- Ende: 05.11.2020 - 12:37 Uhr
Der Countdown zählte unerbittlich nach unten.
0:58 ... 0:57 ... 0:56 ...
"Komm schon", knurrte Sam. Er hieb ein weiteres Mal mit dem Schraubendreher auf die Klappe.
Diesmal sprang sie auf.
"Endlich!", rief Lizzy, die neben ihm kniete. Beide rissen an dem kleinen Metallstück, um das Innenleben der Bombe zu offenbaren.
"Habt ihr es?", fragte Elaine. Sie stand hinter ihren Freunden, die sich dicht an dicht über die Bombe beugten. Mehr Platz bot die Abstellkammer nicht.
"Drei Drähte", sagte Sam. "Verdammt, welchen schneiden wir durch?"
0:42 ... 0:41 ...
Er sah zu Lizzy. Die Brünette war blass geworden. "Scheiße."
"Was?", rief Elaine. "Das darf doch nicht wahr sein - das hatten wir im Unterricht."
"Erinnerst du dich vielleicht?", rief Sam zornig über die Schulter.
0:35 ... 0:34 ... 0:33 ...
Elaine schüttelte den Kopf. "Nein. Verdammt."
"Ich will nicht wegen so einer dummen Sache sterben!", fluchte Sam. "Ich schneid alle durch."
"Nein!", brüllten die beiden Mädchen gleichzeitig.
"Auf keinen Fall alle durchschneiden", wiederholte Lizzy.
"Na gut, dann ... grün, blau oder rot?"
"Rot?", riet Elizabeth unsicher.
Sam hieb mit der Zange auf den Boden. "Verdammt, soll ich?"
0:27 ... 0:26 ... 0:25 ...
"Wir brauchen Ilia!", entschied Lizzy und drehte sich zu Elaine um. "Hol sie her!"
Die Blonde schüttelte den Kopf. "Das geht nicht. Sie ist viel zu verängstigt."
"Sie hat sich das aber merken können!", beharrte Lizzy. "Los!"
"Ich versuch's! Ich versuch's!" Elaine schloss die Augen.
0:19 ... 0:18 ...
"Ich kann es nicht." Elaine öffnete die Augen wieder.
"Verdammt noch eins ..." Lizzy sprang auf und schüttelte Elaine. "Hol Ilia ins Licht, auf der Stelle!"
Lay schloss die Augen erneut. Plötzlich veränderte sich etwas. Sie zog die Schultern hoch und verschränkte die Finger vor der Brust. Ein ängstlicher Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht und ihr ruhiger Atem verwandelte sich zu heftigen, panischen Atemzügen.
Als sie die Augen diesmal aufschlug, waren sie dunkelgrün. "Lizzy ..."
"Welcher. Draht?"
Ilia sah mit weit aufgerissenen Augen auf die Bombe. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durch das Haar und presste die Handballen auf die Augen. "A-alle. Aber e-erst den Dr-draht ... da müsste ein Kupferdraht sein ..."
"Genau! Wir leiten das Signal um!" Sam klatschte sich vor die Stirn.
0:11 ... 0:10 ... 0:09 ...
Der Junge beugte sich über die Drähte.
"Mach schon", drängte Lizzy. Ihre Stimme war ruhig, aber keineswegs entspannt.
"Wo ist der blöde Draht?", murmelte Sam und knipste etwas ab. "Und jetzt ..."
0:07 ... 0:06 ...
"Lizzy, ich brauche mehr Zeit!"
Elizabeths Hand schoss nach vorne und - der Timer fror ein. Das nervtötende Piepsen der Bombe brach ab.
Elizabeth schwankte bereits. Blut lief aus ihrer Nase.
"Mach schnell, Sam", flehte Ilia mit piepsiger Stimme.
"Wir brauchen Elaine zurück", knurrte Sam und wickelte Kupferdraht um eine Schraube.
"O-okay", hauchte Ilia und schloss die Augen.
Ihre Gestalt straffte sich. Ihr Gesicht nahm die harte, unnachgiebige Maske wie immer an. Elaine öffnete die blauen Augen und zog zuerst einmal den Zopf straff, der sich durch Ilias Gefummel gelockert hatte.
"Lizzy, übertreib es nicht", murmelte sie besorgt mit einem Blick auf ihre Freundin. "Wir sind hier nicht in einer Welt der Magie."
"Weiß ... ich ...", knurrte Lizzy angestrengt. Immer mehr Blut schoss aus ihrer Nase.
Elaine sah zu Sam, dann zu Lizzy. Wartete. "Okay, lass los."
Lizzy brach aufkeuchend zusammen. Das Piepsen setzte wieder ein.
0:06 ... 0:05 ... 0:04 ...
Und Stille.
Die LED-Anzeige der Bombe war stehengeblieben. Sam atmete auf und ließ sich nach hinten fallen.
"Alter ... meine Hände zittern."
Elaine beugte sich über Lizzy und brachte sie in eine stabile Seitenlage. "Dafür haben wir noch keine Zeit. Callinger ist noch im Gebäude. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir ihn."
"Und Liz?", fragte Sam.
"Sie ist uns keine Hilfe", entschied Elaine.
"Du weißt, dass ich das nicht meinte."
"Sie kommt durch, und jetzt komm!"
Sam schnappte sich seinen roten Regenschirm und folgte Elaine aus der Besenkammer. Sie rannten über die Flure im Bürokomplex. Angestellte in Hemd und Anzug wichen erstaunt zur Seite, als Elaine im Rollkragenpullover mit Frack und Sam in Jeans und T-Shirt mit lauten "Platz da!"-Rufen über den mit Teppichen ausgekleideten Flur rannten. Dass der Junge mit dem kotzenden Smiley auf den T-Shirt dabei mit einem Regenschirm wedelte und seine Begleiterin einen zwei Meter langen Stock trug, verwirrte die armen Angestellten so sehr, dass sie tatsächlich Platz machten.
Sam rannte in den Fahrstuhl. Elaine lief an ihm vorbei ins Treppenhaus und sprintete, mehrere Stufen auf einmal nehmend, nach unten.
"Weg! Aus dem Weg!", schrie sie die Menschen auf den Stufen an. Einmal nahm sie mit einem Sprung den gesamten Treppenabschnitt und warf sich gegen die Wand unten. Irgendwie schaffte sie es, den Stock nicht im engen Treppenhaus zu verkeilen.
Als sie unten ankam, öffneten sich gerade die Fahrstuhltüren und Sam sprintete heraus. Gemeinsam hielten sie auf den Ausgang zu und scannten die Menge.
Da, ein Mann mit silbernem Aktenkoffer.
"Haltet ihn fest!", schrie Sam und deutete auf ihn. "Stoppt diesen Mann!"
Der untersetzte Mann mit schütterem Haar wirbelte herum. In seine Hand sprang wie aus dem Nichts eine Pistole und er schoss auf Sam.
Der hatte damit gerechnet und spannte den Regenschirm auf, um sich dahinterzuknien. Die Kugel prallte von dem Schirm ab und ein zweiter Schuss krachte, diesmal aus dem Gewehr, das im Lauf des Regenschirms verborgen war.
Callinger schrie auf. Sein Bein gab unter ihm nach und er stürzte auf den Rücken. Panische Büroangestellte flohen zu beiden Seiten der Lobby.
Fahrig tastete der Angeschossene nach dem Koffer, als ein Stock diesen zur Seite und außer seiner Reichweite fegte. Ein Tritt von Elaines hohen Stiefeln ließ die Pistole über den Boden schlittern. Dann setzte sie einen Fuß auf die Brust des untersetzten Mannes und setzte das Stockende auf dessen Kehle auf.
"Endstation, Mister Callinger", sagte sie.
Sam stand auf und klappte den Schirm zusammen.
An den Wänden und hinter den Tresen kauerten verängstigte Menschen und verfolgten jede Bewegung.
"Alles gut!", rief Sam und wedelte mit dem Regenschirm, bevor er die Pistole und den Koffer einsammelte. "Wir haben den Bösewicht. Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen."
Callinger spuckte aus. "Ihr haltet euch auch für die Guten, was?" Der dickliche Mann mit dem schütteren Haar funkelte Elaine an. "Aber ihr seid genau wie die Anderen. Mörder!"
"Immerhin haben wir kein Gebäude voller Zivilisten in die Luft gejagt", meinte Sam, der zu ihnen trat. "Lay, was machen wir jetzt? Wir ziehen gerade viel zu viel Aufmerksamkeit auf uns."
Elaine bückte sich, zerrte den Mann am Arm nach oben und verdrehte ihm diesen auf den Rücken. So laut, dass alle es hörten, sagte sie: "Den Koffer da nimmt sein rechtmäßiger Besitzer wieder an sich."
Bestätigend hob Sam den Koffer für alle sichtbar.
"Und jetzt kommst du mit uns erklärst uns, warum ein Dieb eine Schreckschusspistole dabei hat!" Sie zerrte Callinger zurück zum Aufzug.
"Das kaufen sie uns nicht ab", murmelte Sam. "Sie sehen doch, dass sein Bein blutet."
"Wenn wir schnell genug verschwinden, gibt es eine gewisse Chance", murmelte Elaine.
Callinger lachte leise, dann wimmerte er vor Schmerz bei einem Schritt. "Ihr Idioten ..."
"Klappe", grollte Elaine. Sie stiegen in den Fahrstuhl, noch immer von allen beäugt.
"Verdammte Scheiße", murmelte Sam, als sie Türen sich schlossen.
"Achte etwas auf deine Sprache", wies Lay ihn an.
"Aber das gibt mächtig Ärger. Mitten in einem Roman über die große Depression herumballern. Die werden einen kompletten Reboot machen und die Geschichte zurücksetzen müssen."
"Und damit meine Bombe!", triumphierte Callinger.
"Ach, da wissen wir ja jetzt, wie man die deaktiviert", sagte Sam lässig.
Der Fahrstuhl stieg langsam nach oben. Sam kniete sich hin und band Callingers Bein ab.
Auf den Gängen weiter oben herrschte schon wieder normaler Betrieb. Sam spähte aus dem Aufzug und ging dann vor, Elaine folgte mit dem Gefangenen. Sie sahen niemandem in die Augen und eilten zur Besenkammer.
Lizzy setzte sich gerade auf und wischte das Blut von ihrem Gesicht. Erstaunt betrachtete sie Callinger und ihre beiden Freunde, als diese eintraten.
"Haben wir ein Blitzdings oder so dabei?", fragte Sam ohne Umschweife. "Wir haben vielleicht Mist gebaut."
"Für Blitzdings ist es schon zu spät. Da bräuchten wir was Kräftigeres", murmelte Elaine.
Lizzy schüttelte den Kopf. "Ich habe nichts dabei. Aber wisst ihr was? Ich gehe ins Büro und sage an, dass das eine Übung für die Sicherheitskräfte war und jeder wieder an die Arbeit gehen soll." Sie sprang auf und stockte, als sie Blutflecken auf ihrem Kragen bemerkte.
"Ja, nein. Ich gehe", entschied Elaine. "Ihr fesselt den da und bereitet das Tor für die Heimreise vor."
"Und da", führte Sam mit drohendem Blick auf Callinger aus, "wird der Bombenspaß in Phantasma dann beendet."
Der untersetzte Mann funkelte die drei jungen Wächter an. "Ich bin nicht der Einzige! Es werden Andere kommen. Die Welt entdeckt euch und eure Machenschaften! Sie werden sich auflehnen gegen eure Kontrolle über unsere Regierungen."
"Wir kontrollieren niemanden", sagte Lizzy müde, bückte sich zu ihrem kleinen Werkzeugkasten und holte Tape hervor, mit dem sie Callinger knebelte. "Wir sind Wächter - wir bewachen und schützen."