- Start: 19.11.2021 - 17:05 Uhr
- Ende: 19.11.2021 - 17:16 Uhr
"Ein herrlicher Ausblick, nicht wahr?"
Faithma blinzelte. Sie musste sich gewaltsam aus den Gedanken reißen, die sich um all das drehten, was ihr Gegenüber ihr eröffnet hatte. Vorsichtig erhob sie sich und betrachtete den hochgewachsenen Mann.
Er trug weiße Gewänder, die mit Gold besetzt waren, das Symbol der Sonne auf dem Rücken. Von seinem Helm erhob sich ein vergoldetes Geweih und langes, goldenes Haar floss über seinen Rücken.
Er stand am Rand des felsigen Plateaus und sah auf das Land hinab. Der Wind riss an seinem kostbaren Umhang. Die Sonne beschien die weite Ebene, die fernen Berge, von denen jener, auf dem sich Faithma befand, abgetrennt war, und einige Wälder am Horizont.
Sie trat neben den hochgewachsenen und fröstelte leicht. Ihre Jeans war an mehreren Stellen zerrissen und oft geflickt, das ärmellose, grüne Oberteil ebenso. Ihr blondes Haar war sie Stroh, weshalb sie es kinnlang geschnitten hatte. Sie war nicht besonders groß oder kräftig, sondern schlank und dürr, eben ein Straßenkind. Ihren bloßen Füßen sah man die lange Reise hierher an.
Sie hatte nichts mit diesem in Gold gekleideten Mann gemeinsam, und doch ... er hatte die selbe, warmdunkle Haut wie sie, die gleichen goldenen Augen und helles, blondes Haar. Nie zuvor hatte sie einen Menschen wie sich getroffen. Dunkelhäutige mit schwarzem Haar, ja, und Blonde mit blasser Haut, aber nicht beides vereint. Obwohl sie sich so fehl am Platz fühlte, wusste ein Teil von ihr, dass sie ihr Zuhause gefunden hatte.
"Und ... ich werde ... wie du?"
"Eine Sonne, ja." Der Mann drehte sich um. "Doch bis es so weit ist, musst du noch viel lernen, kleiner Sonnenstrahl. Dein Herz ist vielleicht schon bereit für diese Aufgabe, aber dein Kopf ist nicht bei der Sache."
"Aber es heißt, nur eine neue Sonne könnte die Welt vor der Nacht beschützen!", platzte es aus Faithma heraus. "Ich muss es lernen, so bald wie möglich, sonst ..."
"Du bist noch nicht bereit!", widersprach der Mann. Wie alt er wohl war? Seine Augen wirkten, als haben sie Jahrtausende gesehen.
Sanfter fuhr er fort: "Du hast noch Zeit, kleiner Sonnenstrahl. Doch ich sehe, dass du immer wieder nach unten blickst. Dort warten deine Freunde, nicht wahr?"
Jekka, Landrea, Tai ... sie musste sie beschützen!
Mit gesenktem Blick nickte Faithma.
"Du bist noch zu stark an sie gebunden. Wärst du denn wirklich bereit, sie zurückzulassen? Sie sich selbst zu überlassen?"
"Aber ... ich will sie vor der Nacht retten!"
"Und das wirst du. Allerdings erst, wenn du die Bindung zu ihnen aufgeben kannst. Vorher wirst du niemals stark genug sein, der Nacht zu trotzen."
"Das verstehe ich nicht."
"Das wirst du, kleiner Sonnenstrahl." Seufzend sah der Goldgehörnte zum Himmel. "Das wirst du eines Tages."