- Start: 03.11.2020 - 21:27 Uhr
- Ende: 03.11.2020 - 21:55 Uhr
Tyrbain kam erst langsam wieder zu sich.
Sein Schädel dröhnte. Blinzelnd sah er sich um. Über ihm spannte sich eine unebene Höhlendecke aus grauem Schiefer, beleuchtet vom Schein eines Feuers. Das musste auch für die Wärme sorgen, die die Luft erfüllte. Denn trotz der dicken, groben Wolldecken, die über ihn gebreitet waren, wäre Tyrbain ohne dieses Feuer längst erfroren.
Wieso war er nicht erfroren? Seine letzte Erinnerung zeigte ihm eine unerbittliche Eiswüste unter einem rasch aufziehenden Blizzard, der ihn schlussendlich von den Beinen riss. Er war ganz alleine und ohne Ausrüstung in die Wildnis geflohen, verzweifelt, nachdem sein Onkel Gultor ihm mit irrem Grinsen die Wachen hinterhergeschickt hatte.
Der junge Thronfolger setzte sich vorsichtig auf und streifte die Decken ab. Es waren vier oder fünf, und sie bestanden aus unregelmäßigen Rechtecken aus Pelz, Leder oder grober Wolle. Die Erinnerungen überfluteten ihn. Seine Eltern in einer Lache aus Blut. Sein Bruder im Arm eines Ritter zappeln, der seinen Namen schrie. Eine kleine Hähnchenkeule.
Moment.
"Hunger?"
Tyrbain hob den Blick. Die Hähnchenkeule war wirklich vor seinem Gesicht. Sie wurde von zwei blassen Fingern gehalten. Zu den Fingern gehörte eine schlanke Hand und ein sehniger Arm in einer grünen Tunika mit ledernen Armschützern.
Tyrbain ergriff die Keule und biss hinein. Er brauchte keine drei Bissen, um das Fleisch herunterzuschlingen, und sah sich erst dann nach dem Ursprung der Stimme um, als er bereits die letzten Reste vom Knochen nagte wie ein Hund.
Er stockte, als er das Gesicht des Mannes erblickte, der ihm gegenübersaß. Ein ungewöhnlich langes Gesicht mit spitzem Kinn. Blondes, glattes Haar, nicht schwarz, wie es in Wystryn üblich war. Und dann noch die Ohren, eine Spanne lang, spitz und beweglich.
"Ein Alb!", entfuhr es ihm und er sprang zurück.
"Mein Name ist Vaithadors." Der Alb neigte den Kopf leicht. "Bitte fürchte mich nicht, Menschling. Ich werde dir nichts tun."
Tyrbain zog die Decken bis zur Brust. "W-wer ...?" Nein, der Alb hatte sich ja vorgestellt. "W-wo ...?" In der Wildnis von Wystryn, das wusste er bereits. "Warum?" Ja, die Frage war berechtigt.
Der Alb drehte Tyrbain den Rücken zu und beugte sich mit einem langen Stock über das Feuer. In den Flammen entdeckte Tyrbain zwei große Äpfel. "Du bist sicherlich noch hungrig. Ihr jungen Sterblichen esst so viel ..." Der Alb rollte die Äpfel hin und her.
"Warum hilfst du mir?", brachte Tyrbain hervor.
Der Alb sah Tyrbain an und runzelte die Stirn. "Ich tue es nicht aus Freundlichkeit. Doch es ist nicht Sitte meines Volkes, bloße Kinder abzuschlachten."
"Ich bin schon fast sechz..." Tyrbain unterbrach sich. Das war jetzt vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt.
"Nach unseren Maßstäben seid ihr alle Kinder." Der Alb seufzte. "Aber du machtest nicht den Eindruck, bereits eine Waffe halten zu können."
Tyrbain würde sich über diese Beleidigung aufregen, wenn die Äpfel im Feuer nicht seine Aufmerksamkeit fesseln würden. Sie gaben unter dem Stock des Astes leicht nach und der Alb begann, sie aus der Hitze zu rollen. Mit einem Tuch nahm er beide auf und blies darüber, bis sie abgekühlt waren.
"Hier. Vorsichtig." Er reichte Tyrbain einen.
Tyr nahm den noch warmen Apfel entgegen und biss hinein. Der heiße Apfel schmeckte ein wenig wie gewürzter Wein, obwohl er nicht alkoholhaltig zu sein schien. Dann schmeckte er etwas Süßes - Honig? - und Walnusskerne. Erstaunt sah er sich den Apfel nochmals an und stellte fest, dass er gefüllt war.
Er konnte sich nicht erinnern, je etwas Besseres gegessen zu haben. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er mehrere Tage gerannt und beinahe erfroren war, doch das war ihm egal. Hungrig verschlang er den Apfel und zuckte zusammen, als der Alb ihm die Hälfe seines eigenen Apfels reichte.
"Danke, Vaith ..." Tyrbain konnte sich nicht an den Namen des Albs erinnern.
"Vaithadors. Doch Vaith genügt."
Tyr biss in den Apfel. "Ich bin Tyrbain von Edersfel. Ähm. Tyr."
"Von Edersfel", wiederholte Vaith nachdenklich.
Tyr senkte den Blick. Der Name seiner Familie war bei den Alben vermutlich nicht sehr beliebt. Die Unsterblichen erinnerten sich noch an die zahlreichen Toten.
"Meine Eltern sind tot", sagte er deshalb. "Mein Onkel, Gultor, hat sie ermordet."
"Fürchtest du, dass ich an dir Rache für die Taten deiner Familie nehmen würde?", fragte Vaith.
Tyr senkte den Kopf. "W-würdest du?"
"Nein. Ich weiß zu gut, dass kein Sohn sein Vater ist", erwiderte der Alb melancholisch. "Ich wurde zu oft nach seinen Taten gemessen, also werde ich dich nur nach deinen eigenen Taten messen."
"Danke", flüsterte Tyrbain leise und starrte in die flackernden Flammen.
"Morgen ist der Blizzard vorüber", brach Vaith schließlich das Schweigen. "Ich reise gen Osten, zu den Wäldern meines Volkes. Du solltest dasselbe tun, Menschling. Diese Lande sind kein Ort für Reisende."
Tyr nickte. "Irgendwo dort liegt Inerra. Vielleicht kann ich dort Hilfe finden. Ein Schiff, das mich nach Vastmir bringt, zu meiner Großtante."
Vaith nickte. "Dann ist es beschlossen. Ich begleite dich bis Grovenhol. Von dort kannst du dich nach Inerra durchschlagen, ohne zu sterben."
Tyr sah überrascht auf. "Wirklich?"
"Es ist auch nicht Sitte meines Volkes, ein hilfloses Wesen dem Tod zu überlassen." Vaith lächelte schmal.
Tyrbain schluckte den Spott des Alben wortlos. Vielleicht hatte Vaith sogar recht. Aber für Tyrbain hieß es, dass er in der Eiswüste eine Chance zum Überleben gefunden hatte.