- Start: 04.12.2021 - 18:13 Uhr
- Ende: 04.12.2021 - 18:28 Uhr
Auf einer Veranda saß ein alter Mann in seinem Holzstuhl. Ihm gegenüber stand ein Mädchen, ganz in schwarz mit einem geringelten Schal. In den Händen hielt der Alte ein Paket.
Langsam legte er die Schachtel in ihre Hände. sein Blick hing ernst an ihren Augen und das junge Mädchen schluckte schwer.
"Du kennst den Spruch sicher. Mit großer Macht kommt große Verantwortung", sagte der Großvater. Er war nicht wirklich Xeris Großvater, aber er erfüllte diese Rolle schon seit Jahren. "Nimm ihn ernst. Das hier befähigt dich zu unglaublichen Dingen. Kaum jemand könnte dich aufhalten, wenn du beschließt, damit Böses zu tun."
"Das werde ich niemals!" Entschlossen schüttelte das Mädchen den Kopf.
"Auch nicht, um einen Freund zu retten? Oder weil du es nicht besser weißt?"
Xeri senkte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.
Der Großvater atmete tief durch. "Nun mach es schon auf."
"Ich ... ich möchte es doch nicht." Sie reichte ihm die schmale Schachtel zurück.
"Das ist die richtige Einstellung. Doch ich kann es dir nicht abnehmen." Der Großvater atmete erneut mühsam und beugte sich in einem Hustenanfall. Ängstlich stand Xeri vor ihm, die schwarze Schachtel mit dem blauen Band in der Hand. Sie schluckte.
Ihr Großvater erholte sich wieder und sah auf. Seine Augen tränten - ob wegen des Hustens oder wegen des Abschieds, wusste sie nicht.
"Nimm ihn, Kind. Und nun lauf. Sie werden bald hier sein."
"Ich will dich nicht zurücklassen!" Xeri schluchzte auf.
"Du musst", widersprach der Großvater. Er umarmte das junge Mädchen und tätschelte ihre braunen Locken. "Es tut mir so leid, mein Kind."
"Das ist nicht gerecht."
"Die Welt ist nun mal nicht gerecht. Nur äußerst selten. Versprich mir ... versprich mir, dass du ihn gut einsetzen wirst. Niemals im Zorn. Niemals aus Angst."
Xeri löste sich vom Großvater und nickte. "Ich ... ich verspreche es."
Der alte Mann lächelte schwach. Er war dürr. Adern schimmerten durch seine blasse Haut. Das junge Mädchen mit der großen Brille sah auf die Schachtel. Vorsichtig löste sie das Seidenband und klappte die Schatulle auf. Hier, auf einem blauen Tuch in der Pappschachtel, lag ein langes Stück Holz, fein geschnitzt. Es hatte einen Griff und eine hübsche Verzierung. Sie sah auf. "Ich weiß nicht, ob ..."
"Nein, Kind." Der Großvater umschloss ihre Hände mit der Schatulle, ehe sie den Stab zurückgeben konnte. "Du darfst nicht zögern. Du weißt, was zu tun ist."
"Aber sie werden dich töten."
"Und das ist mein Schicksal. Weine nicht, kleine Xeri. Du wirst an einen guten Ort kommen. Du wirst Freunde finden und ... in Sicherheit sein. Jedenfalls eine Weile." Er drückte die Schatulle zu ihr. "Bitte, Kind. Es gibt keine Zeit zu verlieren."
Xeri umfasste den Stab. Sofort spürte sie die Energie, die durch ihren Leib rauschte. Wind erfasste ihr Haar. Das Holz fühlte sich warm an in ihrem Griff und schmiegte sich an ihre Haut.
Sie öffnete die braunen Augen, in denen plötzlich ein goldenes Feuer glühte. "Ich könnte sie alle vernichten. Sie töten und dich retten!"
Der Großvater sah sie unverwandt an. Seine Augen waren blass und bläulich, sein weißes Haar kurz.
Xeri atmete tief durch und das Funkeln in ihrem Blick erlosch. "Große Verantwortung, ja?"
Ein warmes Lächeln kroch auf das Gesicht des alten Mannes. "Du hast es begriffen. Und nun geh, mein Kind." Er streckte eine bebende Hand und strich über ihre Wange. "Und sei immer vorsichtig. Du bist so unglaublich mächtig. Lass sie dein wahres Potential nie erblicken, oder sie werden dich jagen."
"So wie dich?"
"So wie mich." Er nickte. "Nur weitaus schlimmer. Ich bin ja nur ein kleiner Bauer in diesem Spiel. Aber du ... du bist die Dame."
"Ich möchte das nicht."
"Niemand will so ein Schicksal. Ich hätte mir ein anderes für dich gewünscht. Aber du kannst es nicht ändern. Du kannst nur wählen, wie du es trägst."
Xeri schloss die Augen und hob den Kopf. Sie atmete tief durch, um ihre Tränen zu trocknen. "Also gut. Dann ... lebewohl."
Er umarmte das zarte Mädchen ein letztes Mal. "Viel Glück auf deinem Weg, Xeri."
Sie hob den Stab und schwang ihn, und in diesem Moment verschwand sie wie ein Trugbild im Nebel eines klaren Wintertags.
Der alte Mann blieb auf der Veranda sitzen, allein. Bis am Horizont die Schatten seiner Häscher erschienen. Nach all den Jahren hatten sie ihn aufgespürt, doch er fühlte keine Angst. Nur Freude über die Jahre, die er noch gehabt hatte, und dass er Xeri zu einer so großartigen, jungen Kriegerin erzogen hatte.
Und Trauer, dass er ihr diese unfassbare Macht zum Geschenk hatte machen müssen.