- Start: 31.01.2020 - 22:26 Uhr
- Ende: 31.01.2020 - 22:50 Uhr
Im dichten Staub über der Ebene zeichneten sich die vier Brücken kaum noch ab. Ihre zarten Pfade aus gebrochenem Licht wurden verschluckt vom gelblich wirbelnden Sand. Stille ertränkte das weite Land rings um den einzelnen, einsamen Berg. Sein Schatten kroch über die staubigen Gefilde zu seinem Fuß, als die Sonne mehr und mehr hinter seinen Gipfel kroch.
Mit angehaltenem Atem sahen die Priester in ihren langen Gewändern auf. Seit Tagen harrten sie schon, ahnend, dass etwas bevorstand. Was, das vermochten sie nicht zu sagen. Die Weisen aus aller Welt waren hergeströmt, getrieben von einer unbestimmbaren Gewissheit, einer Ahnung, die zugleich kaum greifbar und überwältigend war.
Der Wind peitschte den Sand auf. Nichts wuchs mehr im Umfeld des gewaltigen Berges. Die Wüsten waren fruchtbarer als dieses karge Land, das von böser Magie befallen schien. Hungernd und durstend hielten die Wartenden es zunächst für eine Sinnestäuschung.
Doch nein. Es war real: Die große, goldene Sonne sank zum Berggipfel. Ihre dunklen Strahlen, fast schon orange, hüllten die Welt in feurige Dämmerung. Die Luft flimmerte.
"Sie stirbt!", rief jemand. Der Schrei wurde aufgenommen, weitergegeben. Entsetzen machte sich breit. Denn ja, die Sonne schien sich zum Schlaf auf den hohen Berg betten zu wollen. Hitze schlug den Priestern in die Gesichter. Der Wind zog an den langen Bärten der Druiden, spielte mit den leichten Gewändern der Wüstenschamanen, riss an den langen Haaren der Feuertänzer.
Mehrere warfen sich zu Boden, küssten den trockenen Stein und flehten ihre Götter um Gnade an. Doch unbarmherzig senkte sich die Sonne. Dem roten Glühen folgte Dunkelheit, als der Schatten des Berges wuchs. Fort waren die vier Regenbogenbrücken, fort die reine, klare Luft, die hier sonst zu schmecken war.
Staub lagerte dicht über dem Gestein. In das Heulen des Windes mischten sich die Klagen der Sterblichen und das Stammeln ihrer Gebete.
Dann wurde es dunkel. Kälte verbreitete sich plötzlich, ein eisiger Hauch, in dem die Priester zitterten. Kein Stern war am Himmel zu sehen. Nicht einer der Monde zeigte sein Antlitz, wenngleich sie dort oben ihre Bahnen ziehen mussten.
"Es ist aus", wurde gemurmelt.
"Es ist vorbei."
Doch das war es nicht. Denn ebenso plötzlich, wie die Dunkelheit gefallen war, wurde sie wieder vertrieben. Eine Explosion hellen, goldenen Lichts breitete sich vom Gipfel aus. Schreiend wandten die Sterbliche ihre Augen ab, doch sie fühlten die Welle aus Wärme, die sie erfasste. Eine große, runde Kugel aus Licht explodierte über die Ebene, ihre Ränder verschwanden am Horizont. Doch ihr Kern brannte heiß und herrlich. Vom Gipfel des Berges erhob sich ein neues Licht, eine neugeborene Sonne, strahlend golden und rein, so heiß, dass niemand ihr sein Gesicht zuwenden konnte. Ihre Hitze nahm den Kauernden den Atem und so blieben sie sitzen, keuchend das Wunder betrachtend.
Da leuchteten sie wieder, die vier Brücken, eine in jede Himmelsrichtung. Der Himmel war strahlend blau und der braune Staub hatte sich in goldenen Nebel verwandelt. Ungläubig blinzelten die Priester hinauf und streckten die Hände aus. Tränen trockneten auf ihren Wangen. Die Freude schmeckte umso süßer, je deutlicher sie sich an das vorangegangene Grauen erinnerten.
Ihre Ahnungen hatten sie nicht getrogen. Es hatte ein Ereignis von urkräftlichen Ausmaßen gegeben. Solange die gemeinsamen Erinnerungen aller Sterblichen zurückreichten, hatte es niemals etwas derartiges gegeben.
Doch was es bedeutete, wusste niemand so genau. War es ein Krieg der Götter gewesen? Eine abgewendete Strafe? Ein Geschenk? Eine Mahnung? Viele Stimmen erhoben sich und stritten, welcher Gott das Geschehen zu verantworten habe, welche Bedeutung es haben könnte. Angst und Freude waren eine berauschende Droge und die Stimmen wurden lauter, die Rufe hitziger.
Zuletzt merkten sie jedoch, dass sich jemand ihnen näherte. Eine Gestalt schritt durch die Luft, direkt über die leuchtende Brücke aus Farben. Ein Gott musste es sein, wessen Schritte sonst könnten von Staub und Licht getragen werden? Ein schimmerndes, goldenes Gestalt umwehte den Nahenden. Die Priester schlugen die Augen nieder. Diese warfen sich auf den Boden, jene stimmten den Gesang ihrer Traditionen an. In Panik besannen sich andere auf ihre Sünden und gestanden.
"Erhebt euch", sprach der Mann, als seine Füße den Boden berührten. "Ich bin keiner euer Götter."
Kaum einer wagte es, die Augen zu heben.
"Bitte, fürchtet mich nicht. Viel mehr als ein Gott war ich ein Opfer, um diese Welt zu retten. Monostroma wurde ich gerufen, ehe ich den Berg hinaufschritt. Dies soll weiterhin mein Name sein, wenngleich ich nicht mehr einer von euch bin."
Nun fassten die Ersten Mut und sahen auf. Ihrem Blick offenbarte sich ein Mann mit roter Haut und dunklen Haaren, einer aus dem Ruinenvolk, wäre da nicht die feine Kleidung, weiß und wie mit Gold durchwirkt. Sein Blick ruhte sanft und friedvoll auf jedem, der zu ihm aufsah - und das war das größte Wunder, denn Monostroma besaß keine Pupillen mehr, keine Iris, als hätte ein Blick in die Sonne sie fortgebrannt.
"Wer seid ihr?", brachte eine dunkle Priesterin schließlich hervor.
"Das sagte ich doch bereits. Ich bin Monostroma. Ich wurde geboren, um eines Tages hier zu stehen. Der sterbenden Sonne habe ich neues Leben verliehen, dies war meine Bestimmung. Und seht - sie ist erfüllt. Dort steht sie am Himmel: Meine Sonne. Von nun an wird sie leuchten, bis meine Zeit sich neigt und eine neue Sonne geboren werden muss."
Ungläubig fielen die Priester auf die Knie.