- Start: 23.11.2019 - 22:50 Uhr
- Ende: 23.11.2019 - 23:22 Uhr
"Marvin? Was ... tust du hier?"
Ich muss mich von dem Anblick vor mir losreißen und sehe Finoa hinter mir. Ihre schmalen Pfoten haben kein Geräusch im Schnee verursacht - oder ich war einfach zu tief in Gedanken.
"Hallo", sage ich mit einem kurzen Wedeln der Rute. "Wie geht es Ben und Attila?"
Finoa legt die dunklen Ohren kurz an und ein trauriger Ausdruck huscht über das Gesicht der Füchsin. "Dem Pferd geht es immer schlechter. Selbst wenn er ein ... was sagtest du, was er ist?"
"Irgendeine besondere Rasse", erwidere ich. "Sag schon, wie steht es um ihn?"
"Seine Wunden hätten jedes schwächere Tier längt dahingerafft", sagt die Füchsin leise. "Ich weiß nicht, wie lange er noch durchhält. Er ist sehr stark, aber ich fürchte ... ich fürchte ..."
Die Füchsin weicht meinem Blick aus und ich spüre einen Kloß in der Kehle. Zuerst mein Rudel und nun auch noch Ben Donnerhuf.
"Und Attila?", frage ich mit rauer Stimme.
Finoa spitzt die Ohren optimistisch. "Kaum ein Kratzer. Du machst mir mehr Sorgen, Wolf."
"Ach, meine Pfoten sind kaum der Rede wert." Ich halte ihr die verbrannten Ballen entgegen. "Siehst du: Es heilt bereits, seit wir nicht mehr reisen. Dass wir in deinem Wald bleiben können, war echtes Glück."
"Ich rede von deinem Rücken!" Die Füchsin starrt mich entgeistert an.
"Oh, ja, der ..." Ich verdrehe den Hals leicht, doch mein Nacken ist durch die vernarbte Haut etwas zu steif, um einen guten Blick auf die tiefen Kratzer zu werfen. "Die sind sehr viel älter, als sie aussehen."
"Und ... dein Herz?", fragt Finoa nun leise. "Der Hund hat mir erzählt, was alles geschehen ist."
Ich lege ein Ohr an. Dieses alte Schwätzmaul! Unwirsch wende ich den Blick wieder auf die Sterne über mir. "Bei allem Respekt und aller Dankbarkeit, Finoa ... das hätte Attila dir nicht erzählen sollen. Vergiss es einfach."
"Dein Rudel, das Feuer ... das muss schrecklich für dich sein!", dringt Sinoas sanfte Stimme in meine Gedanken. "Du bist ein Wolf. Ihr braucht eure Rudel. Und nun sind sie alle fort."
Ich lege die Ohren an. "Sie sind nicht fort."
"Marvin ... sie werden nicht -"
Ich drehe mich wieder um. "Ich weiß! Aber trotzdem sind sie nicht fort. Ich ... verzeih, ich wollte dich nicht anbrüllen. Du kannst nichts dafür. Ich weiß nicht einmal, ob ein Fuchs das versteht."
Finoas Blick wird eine Spur kälter. Das waren ganz offensichtlich die falschen Worte.
"Wie du meinst!", entgegnet sie schnippisch und will sich umdrehen.
"Warte! Ich habe das nicht so gemeint."
"Wie denn dann?", fragt die Füchsin mich und bleckt dabei sogar leicht die Zähne.
"Selbst ich finde es noch schwierig zu verstehen", gestehe ich und sehe wieder in den Himmel. "Und jeder Welpe hört die Geschichten von den großen Sternwölfen, die jede Nacht auf und herabsehen und unsere Taten bewerten. Jeder Welpe bei uns hört von den Gesetzen der Königswölfe und von den mutigen Kanonikos, die für kurze Zeit an ihrer Seite weilen dürfen. Doch bis ich Jupiter traf, hatte ich kaum einen Bruchteil der wahren Weisheit verstanden. Und selbst heute weiß ich nicht, ob ich es erklären kann."
Ich spüre Finoas Fell dicht an meiner Seite. Von meinem Tonfall versöhnlich gestimmt, hat sie sich neben mich gesetzt.
"Versuch es", ermutigt sie mich.
"Siehst du die leuchtenden Bänder dort oben?" Mein Atem steigt als kleine Wolke in den Nachthimmel, wo vor den Sternen atemberabende Flammen tanzen. "Das ist das Seelenfeuer. Es heißt, wenn Sol, der Sonnenwolf, einen toten Wolf für würdig hält, so darf dieser über die Straßen aus Licht aufsteigen und inmitten der Sternwölfe leben. So groß soll das Rudel sein, dass es alles Licht verdeckt, bis auf die wenigen Königswölfe, die als Sterne zwischen ihnen erstrahlen."
"Und Sternwölfe und Königswölfe", mischt sich Finoa leise ein, "das waren die gleichen Wölfe, nicht wahr? Diese großen Wesen mit den blutroten Augen."
"Fast. Alle dieser großen Wölfe sind Sternwölfe, aber nur die Könige unter ihnen haben rote Augen. Sie sind die Anführer der Rudel und Väter oder Mütter ihrer Linie."
"Verstehe ...", murmelt Finoa. "Und Jupiter war einer von ihnen."
"Der Größte von ihnen, wenn du mich fragst." Ich deute mit der Schnauze in den Himmel. "Kannst du den blassen Schein dort sehen? Viele behaupten, dass nur Wölfe ihn sehen. Ein ganz kleiner Stern, der endlos weit weg ist. Das ist Jupiter."
"Ich muss sagen, ich weiß nicht, welchen du meinst", sagt die Füchsin traurig.
"Vielleicht kannst du ihn nicht sehen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist er dort. Und Maria und Marlon und all die anderen, sie sind in der Dunkelheit dicht bei ihm." Ich lächele der Füchsin aufmunternd zu. "Verstehst du? Sie sind nicht fort. Sie sind endlos weit fern und bis ich sie wiedersehen, wird noch einiges an Zeit vergehen. Aber sie sind dort, in den Sternwiesen."
"Ich verstehe", sagt Finoa leise. "Du kannst sie noch sehen." Sie drückt sich kurz an mich und leckt über meine Schulter. Dann sieht sie auf. "Was ist eigentlich mit dem neuen Stern? Ist das dein Stern, weil Jupiter dich als seinen Sohn ansah?"
Ich muss lachen. "Mach dich nicht lächerlich, Finoa. Ich bin ein Kanonikos, ich werde niemals mit den Sternwölfen rennen. Nein, das dort ist Zisaya. Der Schimmerstern. Wir hoffen alle, dass er kommt, um uns vor Fieberstern zu retten."
"Fieberstern? Der glühende Komet?" Finoas Stimme klingt ängstlich. Die Seelenfeuer verlöschen, als hätten auch sie Furcht vor dem Namen allein, und Dunkelheit senkt sich über den Schnee, die Tannen und unseren Hügel.
"Ja, Fieberstern", sage ich leise und ducke mich unwillkürlich, dabei ist der goldene Schweif heute nirgendwo zu sehen. "Alle Sternwölfe fürchten sein Kommen, in Zisaya setzen sie ihre Hoffnung. Sie sagen, dass Krieg kommen wird. Eine Bedrohung wie keine zuvor."
"Drachen?", fragt Finoa mit einem Schaudern.
"Schlimmer, das behaupteten jedenfalls Sol und Lunis." Ich sehe auf meine Pfoten. "Deswegen wollten sie uns ja nicht helfen ..."
"Oh je." Finoa senkt den Kopf. "Ich wollte dich ablenken und nicht wieder daran erinnern."
"Schon gut." Ich erhebe mich. "Vielleicht sollten wir auch nicht zu viel Zeit mit der Betrachtung der Sterne verbringen. Immerhin kann es sein, dass man sich den Zorn der strahlenden Alphas zuzieht, wenn man sie zu lange anstarrt."
Finoa lacht leise. "Ihr Wölfe seid verrückt. Aber du hast recht, gehen wir. Ich muss nach dem Hengst sehen."
Ich schließe einen Moment die Augen. Ob ich auch Ben Donnerhuf später inmitten der Sterne sehen werde? Oder Attila oder Finoa - dürften auch sie sich dem großen Rudel im Himmel anschließen, oder haben die Sternwölfe, die schon uns Kanonikos kaum akzeptieren, keinen Platz für sie?
Wehmütig sehe ich zum blassen Schein des großen Planeten. Ach, Jupiter ... es gibt noch so vieles, was ich dich fragen muss!