- Start: 26.10.2019 - 16:44 Uhr
- Ende: 26.10.2019 - 17:06 Uhr
Atemlos rannte Anima durch den dunklen Wald. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, zerkratzen die Haut ihrer Arme, rissen an ihrem Kleid.
"Ilia!", rief sie. Ihre Stimme hallte verloren durch den Wald.
Doch der Wolf hielt in seiner sinnlosen Jagd inne und drehte mit einem hungrigen Knurren den Kopf. Sein Rückenfell sträubte sich und seine Augen glühten für einen Moment gelblich auf. Er änderte die Richtung und jagte mit weiten Sprüngen los.
Die Vampirin Ilia lief leichtfüßig zwischen den dunklen Wurzeln hindurch. Sie drehte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass der Wolf noch hinter ihr war.
Sie stutzte. Er war fort.
Leicht durch den geöffneten Mund atmend blieb sie stehen und drehte den Kopf. Ihre schwarzen Schwingen zuckten. Dann hörte sie etwas.
"Anima!"
Die Vampirin sprang auf und rannte los, schneller als zuvor. Angst ließ ihre Augen flackern.
Anima hielt kurz inne. Sie rang nach Atem. In alle Richtungen erstreckte sich der Wald schwarz und verlassen. Der Wind zerrte an ihrem blauen Kleid. Der einzige Farbfleck in der Dunkelheit.
Sie suchte panisch nach einem Lichtblitz von Ilias rotem Umhang oder ihren blonden Haaren. Denn davon abgesehen waren der Wolf und die Vampirin komplett schwarz.
Doch kein Licht war zu sehen, nicht einmal die Sterne oder der Mond drangen bis unter die Tannen vor.
"Ilia!" Anima rannte wieder los.
Der Wolf stürmte durch niedriges Gestrüpp, bei jedem Sprung hörte man seinen knurrenden Atem, rau und laut vor Gier. Seine Pranken rissen die Erde auf, seine Augen glühten wie der Mond über ihnen.
"Anima!" Ilias Stimme war voller Angst. Sie sah sich mit gehetzem Blick um, suchte den Wald ab und folgte in der Fährte des gewaltigen Wolfes. Immer wieder sprannte sie die Flügel auf und trug sich mit ihnen zu einem weiten Sprung durch den Wald. Die Bäume standen zu dicht, um zu fliegen. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Stiefel trommelten auf den Boden.
"Anima! Wo bist du?"
"Ilia?" Anima drehte den Kopf. In diesem Moment sprang eine Wolke aus Schwärze aus dem Wald, nur die Augen leuchteten im zottigen Fell auf.
Anima stieß einen spitzen Schrei aus und fiel nach hinten, zwischen die Wurzeln eines Baumes.
Ilia riss die Augen auf, als sie den Schrei hörte. Sie rannte vorwärts, betete, dass sie nicht zu spät kommen würde.
Dabei wusste sie, dass sie nicht schnell genug sein würde.
Mit schwerem Keuchen beugte sich der Wolf über sie. Sein Atem stank nach Verwesung und Blut. Aus seinem Pelz stieg der muffige Duft von Tannenharz, das während der Jagd dort hängen geblieben war.
Seine Augen richteten sich auf die Gestürzte mit ihren langen, schwarzen Haaren und den ozeanblauen Augen, die flehend zu ihm aufsahen.
Anima streckte zitternd eine Hand aus. "Bitte ... Mustafa ... ich weiß, du bist da drin."
Der Wolf richtete den Blick auf die Hand. Seine Lippen zogen sich leicht zurück. Geifer tropfte von den langen Zähnen dahinter.
"Mustafa ... ich bin es ..."
Ein Ohr zuckte. Langsam richtete der Wolf seinen Blick auf Anima. Die gelben Augen glühten fiebrig wie der Vollmond.
Dann drückte er die Nase vorsichtig gegen Animas Hand. In seinen Augen veränderte sich etwas. Die geschlitzte Pupille weitete sich, bis sie sich plötzlich oben und unten zusammenzog und rund wurde. Das Gelb dunkelte zu warmem Braun ab. Menschliche Augen. Das Rückenfell legte sich an und die Leftzen schlossen sich vor dem Gebiss.
Mit leise flüsternden Schritten kam die Vampirin an. Ilia stoppte wie angewurzelt, sodass es fast aussah, als wäre sie aus dem Boden gewachsen. Nur der Wind, der ihre Haare tanzen ließ, verriet ihre vorherige Geschwindigkeit.
Ungläubig sah sie zu dem Werwolf, der den Kopf in Animas Schoss senkte und sich zutraulich kraulen ließ. Er schloss die Augen und statt eines Knurrens brummte er leise.
Anima drückte den Kopf des Wolfes an sich. "Er ist wieder da. Er weiß, wer er ist."
Vorsichtig kam Ilia näher. Das Auge des Wolfs öffnete sich einen Schlitz und fixierte sie. "Wir wissen nicht, wie lange er in diesem Zustand bleiben kann. Mein Geruch könnte seine Instinke wieder wecken." Sie streckte vorsichtig eine Hand nach Anima aus. "Komm da weg."
Doch die Schwarzhaarige drückte sich nur umso fester an den Wolf. "Ich bleibe bei ihm. Meine Stimme beruhigt ihn."
"Anima, das ist gefährlich!"
"Du selbst hast mir gesagt, dass ich mich nicht länger wie eine verzogene Stadtgöre verhalten soll!", zischte die Dunkelhaarige. "Ich bin kein Kind mehr, Ilia, ich bin es leid, dass man mich bevormundet. Und jetzt rette ich den Mann, den ich liebe, verstanden?"
Ilia ließ die Hand sinken. Ihre roten Augen wurden blasser, dann färbten sie sich smaragdgrün.
Das Wolfsauge schloss sich und der Werwolf ließ sich auf die Erde sinken.
"Ich fürchte, ich habe dich unterschätzt, Anima", sagte Ilia entschuldigend.
"Das wäre mir genauso passiert." Anima lachte leise. "Vor ein paar Wochen hätte ich selbst nicht geglaubt, dass ich mal einem Werwolf hinterherlaufe."
"Ihr seid aber auch ein süßes Pärchen." Ilia betrachtete den gigantischen Werwolf und die wunderschöne Frau mit einem schiefen Grinsen.
"Ehrlich!" Anima stöhnte gespielt. "Keiner meiner Freunde hat mir bisher so viel Ärger gemacht wie Mustafa!"
Der Wolf öffnete die Augen und fiepte leise.
"Ist ja gut." Anima streichelte sein Kopffell. "Die anderen waren sowieso Idioten."
Ilia atmete durch, nickte und drehte sich um. "Ich gehe zu den anderen. Richard stirbt bestimmt vor Sorge. Und Anima ... bleib bitte wachsam."