- Start: 01.11.2021 - 11:35 Uhr
- Ende: 01.11.2021 - 12:14 Uhr
"Halloween ist eine der größten Unannehmlichkeiten der modernen Zeit", sagte Elizabeth. "Schlimmer ist eigentlich nur Weihnachten, und da sind die Vorfälle im Allgemeinem harmloser."
"Das heißt, wir können mit echten Monstern rechnen?", fragte Kassie. Sie und die sieben anderen Mitglieder des frischgebackenen Teams folgten ihren älteren Mentoren durch die Straßen. Elizabeth, Elaine und Sam führten die neuen Wächter durch eine ruhige Vorstadt. Überall wimmelten verkleidete Kinder herum, in den Vorgärten leuchteten Kürbisse und Deko, Skelette, Spinnweben oder Geister hingen in den Bäumen. Es war fast dunkel.
"Und zwar mit einer Menge echter Monster", bestätigte Elizabeth. "An Halloween sind die Wände der Welten dünn. Na, wisst ihr noch, woran das liegt?"
Zac hob die Hand.
"Wir sind hier nicht mehr in der Schule", wies Elaine den kleinen, etwas dicklichen Anführer des Teams zurecht.
"Ähm, also ...", begann Zacharias leise. "Weil die Menschen so viel Vorstellungskraft haben, ist mehr Phantasma-Kraft im Umlauf."
Elizabeth nickte dem Jungen zu. "Genau wie die Ketten, die dich, Mo und Pyrrha in der Realität überleben lassen, ermöglicht es die viele freie Fantasie an Halloween, anderen, eigentlich unmöglichen Wesen, in der Realität zu überdauern."
Zac strich über die besagte Kette. Seine Gestalt, genau wie die von zwei anderen im Team, war durchscheinend. Sie waren Geister, nur deshalb sichtbar, weil Karma ihnen Körper aus beweglichem Glas geschaffen hatte. In der Realität konnten Geister nicht existieren, jedenfalls nicht ohne eine Phantasma-Blase. Und eine solche trugen sie als Kette um den Hals.
Karma brauchte natürlich ebenfalls eine, da auch Magie in der Realität eigentlich nicht funktionierte, und der Rest des Teams war schließlich ebenso ausgerüstet worden. Elizabeth, Elaine und Sam hatten ihnen erklärt, dass diese Blasen ein Risiko darstellten.
Nun erfuhren sie langsam, warum.
"An diesem Tag fallen tatsächlich mehrere Ideen zusammen", fuhr Elizabeth fort. "Es ist Halloween, aber auch Samhain. Das verstärkt den Effekt. Beide beruhen auf dem Glauben, das Geister umgehen, und dieser Glaube fußt auf zwei verschiedenen Glaubensfundamenten, was ihn stabiler macht."
"Und dann ist da noch das offensichtliche Problem", ergänzte Sam. "Verkleidungen. Erkennt mal einen richtigen Zombie zwischen all den Vampiren, Geistern und Filmfiguren!"
Die acht Ghost Racers sahen sich auf der Straße um. Manche Kostüme waren sichtlich billig, man glaubte fast, den Preiszettel noch zu sehen. Doch viele Menschen auf den Straßen hatten sich auch wirklich angestrengt, um ein einzigartiges Kostüm herzustellen.
"Und zuletzt ist das hier Salem", sagte Elaine ruhig. "Schauplatz der Hexenprozesse und ein Knotenpunkt, weil sich so viele Horrorserien und Filme hiermit beschäftigen."
"Wenn ich das also richtig verstehe", murmelte Kassie, die sich Notizen machte, "ist das hier eine Art Zentrale für übernatürliche Aktivität."
"Die Realität wird hier so dünn, dass faktisch alles möglich ist." Elaine nickte.
"Das ist dann allerdings auch wieder von Vorteil", meinte Sam grinsend. "Denn das heißt, dass wir auch gedächtnislöschende Objekte einsetzen können."
Sie hielten an einem offenen Feld inmitten der Stadt an. Elaine kontrollierte die übernatürliche Aktivität auf ihrem Sender. Der Bildschirm der kleinen Armbanduhr leuchtete rot auf.
"Müssen wir uns darum kümmern?", fragte Kassie mit besorgtem Blick zur Anzeige.
"In Zukunft wird das sogar eine eurer Hauptaufgaben", erklärte Lizzy. "Ihr werdet jedes Halloween diesen Standort übernehmen und aufpassen, dass sich keine Monster an den Menschen hier gütlich tun. Dieses Jahr helfen wir euch und führen euch in alles ein, aber ihr habt ja bereits bewiesen, dass ihr mit Horror umgehen könnt."
"Nie wieder freies Halloween", murmelte Mo wehmütig.
"Aber um eure Frage zu beantworten: Nein, um diesen speziellen Ausschlag der Daten müssen wir uns nicht kümmern. Habt ihr alle eure Tarnung bereit? Macht euch fertig!"
Die acht jungen Wächter zuckten zusammen und griffen in die Plastiktüten, die sie mit sich genommen hatten. Sie zogen Masken, Hexenhüte und Umhänge hervor. Innerhalb von zwei Minuten hatten sie die Verkleidungen über ihre Zivilistenkleidung gezogen. Auch ihre Mentoren tarnten sich. Sam setzte sich eine Batman-Maske auf, Lizzy förderte eine rote Perücke und Hörner hervor, Elaine trug mit wenigen Strichen etwas Vampirschminke auf.
Keine der Verkleidungen war besonders überzeugend, und die drei älteren Wächter kontrollierten kritisch, dass ihre Protegés überzeugend wie gewöhnliche Jugendliche aussahen. Sam drückte ihnen Bierdosen in die Hände, die zum Leidwesen der Ghost Racers leer waren.
Jemand trat aus den gut gefüllten Straßen zu ihnen. Ein Mann im Vampirkostüm, der zielstrebig auf die Gruppe zuhielt.
Kassie spürte, dass ihr Sender vibrierte. Sie hatte diesen stummen Alarm eingestellt, wenn die messbare Fantasie in der Umgebung zu sehr anstieg. Je näher der Verkleidete kam, desto schlimmer wurde das Warnsignal.
War er verkleidet?
"Elizabeth ... da drüben ..."
"Ah, ja. Vladimir!" Elizabeth hatte sich umgedreht und den Vampir erblickt. Sie winkte und dieser trat zu ihnen.
Er war blass und hager. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Das Blut an seinem Kinn war zu hell, also offenbar aufgemalt, und auch der schwarze Umhang mit rotem Innenfutter sah nach Plastik aus.
Doch seine Augen waren ungewöhnlich dunkel. Seine Fingernägel zu lang. Und diese perfekt angepasste Verkleidung widersprach dem billigen Aussehen der Accesoires.
"Kinder, das ist Vladimir", stellte Sam den Fremden vor. "Er ist ein Ghul."
"Ein ... ein echter Ghul?", fragte Kassie mit zitternder Stimme.
Was erwarteten ihre Mentoren von ihr? Sollte sie das glauben? Vladimir erschießen? War das ein Test?
"Ein echter", sagte Vladimir und verbeugte sich.
"An Halloween haben Wächter nämlich noch eine Aufgabe", sagte Elaine, während die acht jungen Menschen nervöse Blicke tauschten. "Die Realität ist so dünn, dass man mächtige Kreaturen gefahrlos durch Realitas schmuggeln kann. Von einem Tor zum anderen."
"Ich würde sofort umfallen, wenn nicht Halloween wäre", erklärte der Ghul ihnen und offenbarte schwarze Zähne beim Lächeln. "Ihr braucht mich übrigens nicht zu fürchten. Ich bin ein Informant der Wächter, ein Verbündeter. Und deshalb kann ich nicht in meiner Welt bleiben."
"Das ist ... eine Art Zeugenschutzprogramm", erklärte Sam den geschockten Kindern. Nicht alle Monster sind böse."
"Okay, also ... wohin bringen wir ihn?", fragte Zac, der sich gefasst hatte.
"Es gibt ein anderes Tor in Salem, allerdings fehlt uns noch eine Person." Elaine sah sich um und deutete dann auf einen fernen Turm. "Seht ihr denn? Dort liegt das Tor, eines der berühmtesten Tore. Dadurch kam damals ein Geist, der die Paranoia hervorrief, welche die Hexenprozesse auslösten. Es war eine Art unsichtbarer Dämon, und bis die damaligen Wächter ihn verbannt hatten, waren unzählige Unschuldige - und einige echte Hexen - tot."
Die jungen Wächter starrten den Turm an.
"Jedenfalls wurde das Portal danach versiegelt und ist von unzähligen Bannkreisen geschützt", fuhr Elaine fort. "Wir brauchen also noch einen Hexer, der uns den Weg dorthin öffnet."
"Und gleichzeitig sicherstellt", murmelte Sam düster, "dass nichts in diese Welt entkommt."
"Wieso macht ihr denn ein Tor auf, wenn dahinter ein rachsüchtiger Dämon wartet?", fragte Kassie.
"Zunächst einmal ist das eine sehr gut gesicherte Welt", sagte Lizzy. "Vladimir ist dort sicher vor allen Wesen, die sich an ihm rächen wollen. Das dürften einige sein, denn er hat uns auf ein Nest aggressiver Weltenwanderer aufmerksam gemacht, die sich in seiner Welt eingerichtet hatten. Die dürfen ihn niemals finden."
"Und zweitens?"
"Zweitens ... Es ist Halloween! Und die Nacht des Teufels ist nicht vollständig, wenn nicht irgendwo ein Portal zu uralten, lovecraftschen Göttern und finsteren Dimensionen geöffnet wird. Wenn wir es nicht machen, dann wird es irgendwo anders passieren. Irgendwelche Zivilisten werden aus Versehen ein dämonisches Ritual beginnen. Und dort haben wir dann keine Kontrolle."
"Das heißt also ..."
"Das ist sozusagen Selbstverteidigung." Lizzy nickte.
Kassie sah auf ihren rotleuchtenden Sender. "Meine Güte, ist das verwirrend. Kann ich den Alarm hier eigentlich zurücksetzen? Ich meine, wenn sich jetzt eine richtige Gefahr nähert, werde ich wegen Vladimir nicht gewarnt!"
"Du hast gerade das Problem an Halloween perfekt zusammengefasst", lobte Sam sie. "Es ist so viel Chaos unterwegs, dass man es gar nicht mitbekommt, wenn irgendetwas Bösartiges darunter ist."
"Und das ist jedes Jahr so?"
"Jedes einzelne Jahr." Sam grinste. "Deswegen treten wir Salem ja auch an euch ab."