- Start: 30.10.2019 - 17:55 Uhr
- Ende: 30.10.2019 - 18:53 Uhr
Sie hatte nicht zu der Party gehen wollen.
In Tränen aufgelöst saß die schwarze Katze auf den Stufen vor dem Gebäude. Ihr Make-Up rann ihre blassen Wangen hinunter. Mit zitternden Fingern nestelte sie an ihrem roten Halsband herum und ließ die Hände dann unverrichteter Dinge in den Schoss sinken.
"Hey ... alles gut?"
Mit einem erschrockenen Schniefen sah sie auf. Ein Mann stand ihr gegenüber. Dunkelbraune Haut, lange, schwarze Haare, von roten Strähnen durchzogen. Groß und so muskulös, dass er dick wirkte. Wie ein Panzer in Menschengestalt.
"N-nichts", erwiderte das zierliche Mädchen im Katzenkostüm. Sie stand auf und tastete nach der Tür in ihrem Rücken, ohne den Blick von dem Fremden zu nehmen.
"Entschuldige." Abwehrend hob er die Hände. "Ich wollte dich nicht erschrecken."
Sie ließ die Hand langsam sinken und sah auf. Sie war nicht gerade klein und trug außerdem High-Heels, die bereits unangenehm drückten. Trotzdem überragte der Mann sie noch um einen Kopf. Er sah außerdem alt aus, sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte Vierzig. Und täuschte sie sich, oder schimmerten seine Augen im Licht der Straßenlaternen.
"Ist wirklich alles in Ordnung? Ich meine ... du sitzt hier draußen vor der Party und weinst."
"Ich ..." Sie senkte den Blick. "Ich bin nur wütend. Pascal, dieses Arschloch ..."
"Dein Freund?", fragte er sanft, als sie nicht weitersprach.
"Jetzt nicht mehr!" Ihre Stimme bebte vor Zorn. "Ich hab mit ihm Schluss gemacht." Gegen ihren Willen schluchzte sie wieder los. Sie spürte Hände, die ihre Oberarme streichelten und ließ sich nach kurzem Zögern in eine tröstende Umarmung ziehen.
"Wie heißt du?"
"Melanie."
"Ich bin Brandon. Freut mich, dich kennenzulernen, Melanie."
Er hatte eine schöne Stimme. Rau, bestimmend und verführerisch. Außerdem roch Brandon gut. Männlich. Herb, aber nicht unangenehm nach Zigarettenrauch. Nicht wie Pascal und die anderen Jungs, die irgendwelche teuren Deos auflegten. Melanie ertappte sich bei dem Gedanken, wie schnell sie doch einen Besseren gefunden hatte.
Verdammt, was dachte sie da? Sie wusste von Brandon nur eines: Dass er definitiv zu alt war und sich nicht mit einer Fünfzehnjährigen abgeben würde - oder überhaupt dürfte.
Er ließ sie los und hob ihr Gesicht an. Unendlich sanft tupfte er mit Händen, die sie an Bärenpranken erinnerten, die Tränen von ihren Wangen.
"Jetzt ist meine Schminke wohl hin." Sie lachte unglücklich.
"Ach, nein ... warte, ein paar Tupfer hier ... und hier ..."
Es machte ihr erstaunlich wenig aus, dass er ihr Gesicht berührte. Unauffällig - das hoffte sie jedenfalls - sog sie seinen Geruch tiefer ein. Ob er in der Nähe wohnte? Ob er eine Frau hatte?
"So. Jetzt bist du eine richtige Halloweenkatze." Brandon war fertig.
Melanie tastete nach ihrer Tasche, bis ihr einfiel, dass sie den Spiegel ja zuhause vergessen hatte. Ausgerechnet an Halloween! Sie war ein echter Schussel.
"Vertrau mir, es sieht perfekt aus. Wunderschön, gruselig und ... sexy."
Hoffentlich deckte das Make-Up ihre Wangen noch ab, damit er nicht sah, wie sie rot anlief! Melanie kaschierte ihr Aufkeuchen mit einem falschen Husten.
"Wenn du mir nicht glaubst, müssen wir leider auf die Party und einen Spiegel suchen!", drohte Brandon grinsend.
Melanies Herz schlug etwas höher. Oh ja! Pascal sollte sehen, dass sie seinem untreuen Hintern nicht hinterhertrauerte!
"Du kannst mir ja sonst was erzählen!", behauptete sie. Sie war stolz auf sich. Ihre Stimme klang absolut unbeeindruckt und beherrscht. Als hätte sie noch Kontrolle über sich ... nur ihre verräterischen Knie waren weich, als sie Brandon in die dunklen, fast schwarzen Augen sah und versuchte, einen herausfordernden Gesichtsausdruck beizubehalten.
"In diesem Fall ..." Brandon bot ihr einen Arm an - was für ein Gentleman! - und öffnete die Tür des Clubs für sie.
Bunte Lichter zuckten über der vernebelten Tanzfläche und die Musik schlug ihnen fast schon körperlich entgegen. Sich zu unterhalten war hier drinnen schwierig, wie Melanie wusste. Seit einem halben Jahr kam sie regelmäßig hierher, genau wie viele ihrer Klassenkameraden. Die Disko war ein Treffpunkt für Schüler zwischen 16 und 18, denn nur hier kamen sie an Alkohol. Mit 15 musste Melanie immer noch von Freundinnen schnorren, aber ab 16 könnte sie hier endlich richtig die Sau raus lassen.
Suchend sah sie sich um. Sie war mit Pascal hergekommen, aber irgendwo mussten doch auch ihre Freundinnen sein. Sie war sich sicher, in den vergangenen Wochen mit ihnen über die Halloweenparty gesprochen zu haben.
Brandon lotste sie direkt zu den Toiletten und hielt ihr auch noch die Tür zur Frauentoilette auf. Er ließ die Tür auch nicht zufallen, während Melanie in den Vorraum mit Waschbecken und Spiegeln ging und ihr Gesicht begutachtete.
Von der süßen Katze, als die sie heute das Haus verlassen hatte, war nichts geblieben. Der schwarze Fleck um das linke Auge war verschmiert und ebenso das rosa Näschen. Doch was Brandon getan hatte ... die linke Gesichtshälfte glich nun einem Totenschädel mit einer schwarzen Augenhöhle. Von ihrem Mundwinkel zogen sich angedeutete Zahnreihen über ihre Wange. Die verschmierte weiße Schminke auf der rechten Seite hatte er durch blutig aussehende Streifen des verlaufenen Lippenstifts ersetzt. Sie sah aus wie eine halbskelettierte Katze, deren heiles Gesicht blutige Tränen vergossen hatte. Wie erstarrt betrachtete Melanie ihr Spiegelbild.
"Gefällt es dir, Kätzchen?"
Das letzte Wort jagte einen warmen Schauer über ihren Rücken und ließ ihren Bauch kribbeln. Sie nickte, ohne den Blick vom Spiegel losreißen zu können. Schließlich drehte sie sich doch um und bemerkte erst jetzt im hellen Licht, dass Brandons dunkles Hemd tiefe Risse aufwies. Er ging offenbar als Werwolf - sie bemerkte spitze Zähne in seinem Mund, die breiter auseinanderstanden als bei einer typischen Vampirverkleidung. Die zerrissene Kleidung und der Backenbart passte ebenfalls dazu. Falls der Bart nur angeklebt war, so sah er täuschend echt aus. Brandon schien Halloween ernst zu nehmen. Die Augen hatte er vermutlich mit Kontaktlinsen verdunkelt. Es gab doch welche, die das Licht reflektierten ...
Er streckte ihre eine Hans mit angeklebten, schwarzen Krallen entgegen. "Ich finde, deiner Verkleidung gebührt ein Tanz."
Das Kribbeln verstärkte sich. Hatte sie eben wirklich an dieser breiten Brust gelegen und sich trösten lassen? Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und ergriff seine Hand. Ein Tanz. Wenn Pascal sie sah ... Aber vor allem wäre sie etwas länger in der Nähe dieses freundlichen Mannes.
"Rein freundschaftlich, versteht sich." Er zwinkerte ihr zu. "Ich möchte nicht, dass du mich noch für einen Perversling hältst. Ah, sieh da - sie kann lächeln!"
Er strahlte und Melanies gezwungenes Grinsen verwandelte sich in ein echtes. Sie war selbst schuld, wenn sie sich mehr erhoffte. Brandon war bestimmt dreimal so alt wie sie. Es gab nichts, was sie ihm bieten könnte. Aber sie war damit zufrieden, mit ihm zu reden und Zeit zu verbringen. Das reichte.
Er zog sie mitten auf die Tanzfläche, ohne sich um die Blicke zu kümmern, die ihnen folgten. Melanie, die sonst eher am Rand tanzte, spürte Nervösität aufkeimen. Auf keinen Fall wollte sie sich blamieren. Aber wirklich gut tanzen konnte sie auch nicht.
Brandon legte ihre Hände auf seine Schultern und umfasste dann ihre Taille mit so zartem Griff, dass sie es kaum fühlte. Es war noch viel Abstand zwischen ihnen. Dann setzte er sich im Takt der Musik in Bewegung und zog sie mit sich. Fast von selbst folgte ihr Körper seiner Führung und Melanie entspannte sich. Sie konnte tanzen!
Als das Lied wechselte, folgte eines mit einem schnelleren Beat. Brandon ließ sie los, wirbelte sie durch den Raum, fing sie, wann immer sie glaubte, gleich völlig allein in der Menge zu stehen. Sie merkte, dass sie zu schwitzen begann. Ihr Herz schlug schneller und Haare klebten in ihrem Gesicht. Atemlos folgte sie dem schnellen Rhythmus und wagte sich an kompliziertere Bewegungen. Nachdem das Lied mit hämmerndem Bass seinen Höhepunkt erreicht hatte, stützte sie isch keuchend gegen Brandon. Sie war völlig fertig. Aus dem Augenwinkel sah sie Pascal, der sie mit offenem Mund anstarrte. Stolz hob sie den Kopf und tat, als hätte sie es nicht gesehen, doch Schadenfreude flutete ihr Herz.
Das nächste Lied war ungewöhnlich ruhig für die Disco. Das gab ihr die Gelegenheit, sich auszuruhen und durchzuatmen. Sie lehnte sich an Brandon, ohne sich darum zu kümmern, dass sie schon halb mit ihm kuschelte, und ließ sich im Takt der Musik wiegen. Seine Hände lagen beruhigend und warm auf ihrem unteren Rücken. Sie konnte sein Herz gleichmäßig in seiner Brust pochen fühlen. Das Verlangen, diesem gemächlichen Schlag besser zu lauschen wurde immer stärker. Zögerlich drehte sie den Kopf und lehnte ihr Ohr verstohlen gegen seine Brust.
War er denn überhaupt nicht außer Atem? Für jemand seines Alters besaß er ein unglaubliches Durchhaltevermögen.
Sie erwartete, dass er sie zurückstieß, doch dann senkte er sein Kinn sanft auf ihr Haar. Ihr Herz schlug nur noch wilder und ein Teil von ihr brüllte sie an, was zur Hölle sie hier machte. Es war verrückt. Sie war verrückt! Wenn seine Hände nur noch ein Stück tiefer rutschten, würde sie ihn vermutlich hier vor allen Leuten bespringen!
Sie versuchte, die aufwallenden Hormone zu bekämpfen. Sie würde am Ende nur enttäuscht sein.
"Wie sieht es aus ... hast du Durst?" Seine Stimme vibrierte in seiner Brust und sie löste sich eilig aus der Umarmung. Ja, etwas Wasser. Das würde ihr helfen, einen klaren Kopf zu bekommen! Sie nickte. Zu sprechend wagte sie nicht.
Auf dem Weg zur Bar kramte sie in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie.
"Lass gut sein, ich zahl schon."
"Ich ... danke."
Er bestellte für sie beide Wasser. Während er nur nippte, stürzte sie ihr Glas in einem Zug herunter. Gleich darauf schämte sie ich und fühlte, wie ihre Wangen erneut zu brennen begannen.
"Möchtest du noch was?" Er schob ihr sein Glas rüber. "Keine Angst, ich habe nichts Ansteckendes."
Wann hatte er es nur geschafft, sie so um den Finger zu wickeln? Kleinlaut nahm sie das Glas an und drehte es heimlich, als er den Blick durch die Menge schweifen ließ. Als sie von der Stelle trank, die vorher seine Lippen berührt hatten, kribbelte es in ihrem Bauch immer stärker. Das war fast wie ein Kuss, richtig?
"So spät schon." Brandon richtete sich mit einem Mal auf. "Ich muss los."
Wie bitte? Das fühlte sich wie ein Schlag vor den Kopf an. Sie wollte nicht, dass diese Nacht endete. Sie sollte niemals enden!
Er warf ihr einen Blick zu. "Möchtest du noch feiern oder ... kann ich dich irgendwo absetzen?"
Hell yes! "Die Party ist sowieso lahm."
Er ergriff ihre Hand, damit sie sich in der tobenden Menge nicht verloren. Melanie hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen. Um sie her wogte sie Menge, ein Spiegelbild des Sturms in ihrem Inneren. Du interpretierst zu viel hinein ... es könnte aber auch gefährlich sein ... vertrau ihm nicht ... du kennst ihn nicht ...
Draußen ließ er ihre Hand immer noch nicht los. Vielleicht hatte er vergessen, dass er sie noch hielt. Es fühlte sich gut an.
"Wo wohnst du denn? Weißt du ... ich fühle mich etwas für dich verantwortlich."
Sie nannte ihm ihre Adresse und versuchte, die unanständigen Bilder zu verdrängen, die ihr Kopf ihr ausmalte. War das überhaupt normal, sich so für einen Älteren zu interessieren? Bei den Jungs in ihrem Alter war das niemals so gewesen.
Der Lärm aus der Diskothek wurde lauter, als die Tür hinter ihnen erneut geöffnet wurde. Brandon beschleunigte seine Schritte. Melanie musste sich beeilen, um auf ihren Stöckelschuhen mitzuhalten.
"Wo hast du denn geparkt?", fragte sie und unterdrückte das Keuchen. Ihre Füße schmerzten.
"Hey!", brüllte jemand hinter ihnen. Eine Frauenstimme.
Brandon wurde noch schneller. Jetzt zerrte er Melanie förmlich hinter sich her. Sie versuchte, einen Blick nach hinten zu werfen und strauchelte.
"Vorsichtig, Kätzchen." Brandon fing sie auf. Oh Himmel, war er stark! Melanie fühlte sich in seinen Armen wirklich wie ein Kätzchen.
...
Hilflos ...
Sie drückte gegen seine Brust und wollte sich absetzen lassen. Brandon hielt sie fest und ging weiter. Melanie zappelte. "Lass mich runter!"
"Asmodai!"
Jetzt konnte Melanie auch die braunhaarige Frau sehen, die ihnen folgte. Ihre Locken bauschten sich die eine Löwenmähne um ihr herzförmiges Gesicht. Schminke oder eine Verkleidung trug sie nicht.
"Lass das Mädchen gehen!", verlangte sie.
Brandon stöhnte, blieb stehen und drehte sich um. Beinahe spöttisch ließ er Melanie auf den Boden, hielt jedoch weiter ihre Hand. Sie verstand nicht, was los war. Allerdings wollte sie seine Hand auch nicht loslassen.
"Keinen Schritt weiter", knurrte Brandon mit tiefer Stimme.
Die Braunhaarige hielt tatsächlich an. Ihr Blick fing Melanies auf. "Komm weg von ihm, Mädchen. Komm herüber."
Brandon schob sich halb vor Melanie. "Du sollst das lassen, Elizabeth. Es ist aus, versteh das doch endlich." Zu Melanie gewandt flüsterte er: "Es tut mir wirklich schrecklich leid. Meine Exfrau. Sie ist noch immer nicht darüber hinweg."
Melanie sah vom einem zum anderen. Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Hieß das, Brandon war Singel?
"Geh nicht mit ihm. Er ist ein Monster!", rief Elizabeth ihnen zu. "Du musst auf mich hören, Mädchen."
"Ich bringe die liebe Melanie jetzt nach Hause. Danach können wir uns gerne unterhalten", antwortete Brandon. Täuschte sich Melanie, oder funkelten seine Augen spöttisch? "Morgen können wir in aller Ruhe reden, Elizabeth."
"Melanie!" Die Braunhaarige sah Brandon überhaupt nicht an. "Egal, was er dir erzählt hat, du darfst ihm nicht glauben. Auf keinen Fall darfst du mit ihm gehen! Nicht, wenn dir dein Leben lieb ist."
"Sie übertreibt gerne", murmelte Brandon. "Tut mir wirklich leid." Laut rief er: "Deine Eifersucht ist hier wirklich nicht angebracht. Ich werde dich bestimmt nicht durch eine Schülerin ersetzen, Lizzy."
Schade, dachte Melanie, ehe sie sich daran hindern konnte.
"Melanie! Komm zu mir."
Brandon grinste sie an und zog sie sanft mit sich. Melanie folgte ihm.
"Melanie!"
Sie kamen an der Kreuzung an und Brandon zückte einen Schlüssel. Hinter ihnen begann Elizabeth zu rennen, doch sie wagte sich nicht näher als vielleicht zwanzig Meter heran. Die Lichter eines Autos blinkten. Während sie darauf zugingen, legte Brandon den Arm um Melanie und zog sie fest an sich. Sie zögerte nicht, ihren eigenen Arm um seine breite Taille zu schlingen.
"Asmodai! Lass sie los, sie ist doch noch ein Kind! Melanie!"
Elizabeths Geschrei verhallte auf der nächtlichen Straße ungehört. Melanie stieg in Brandons silbernen Wagen und das war das letzte, was jemals ein menschliches Wesen von ihr sehen würde.