Kapitel 12
Sally kam auf Ana zu. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie leise. „Hoffen wir es“, murmelte Ana. „Wo sind eigentlich deine Freundinnen?“, fragte Ana, als sie die leeren Bänke entdeckte. „Ach, sie sind zu einer Hausparty gegangen.“ „Wurdest du denn nicht eingeladen?“, fragte Ana überrascht. „Doch schon, aber Hauspartys sind nichts für mich.“ Sally zuckte mit den Schultern und sah sich im Diner um. Ana lächelte sanft. Sally war wie sie. Sie stammte ebenfalls aus reichem Elternhaus. Sie weigerte sich aber, alles von ihren Eltern entgegen zu nehmen. Sie jobbte nebenbei. Sie war richtig gut in der Schule und oben drein auch noch Schülersprecherin. „Was möchtest du denn jetzt machen?“, fragte sie schließlich Sally. „Genau das wollte ich dich fragen. Wenn du für mich eine Schürze hast, kann ich helfen.“ Ana starrte sie entgeistert an. „Das ist doch nicht dein ernst“, rief sie. „Wieso nicht? Ich langweile mich sonst nur.“ „Du willst wirklich kellnern? An deinem freien Tag?“ Sally lächelte. „Klar, warum nicht?“ „Du wirst nicht aufgeben, bevor ich ja sage, nicht wahr?“ Nun grinste Sally. „Also gut. Komm mit. Du kannst hinter der Theke arbeiten. Du nimmst einfach die Bestellungen entgegen, reichst es uns durch das kleine Fenster und nimmst sie auch wieder von uns entgegen. Anschließend rufst du entweder Celine, Ronny oder Nick, damit sie die Bestellung bringen.“ „Das ist ja einfach.“ Ana nahm aus einem der unteren Schränke der Theke eine Schürze und reichte es Sally. „Ach und Sally?“ „Ja?“ Sally sah auf, während sie sich hinten eine Schleife band. „Danke, dass du gesungen hast.“ Sie sah zur Bühne. Einer der Touristen stand auf der Bühne und hinter ihm war Reed, der einfach nur Musik machte. „Ich höre einfach nur auf das, was du gesagt hast.“ „Reed ist kein schlechter Mensch. Außerdem ist er sehr talentiert.“ „Das ist mir auch aufgefallen. In der Schule läuft er auch immer mit Kopfhörern durch die Gegend. Zumindest, wenn er mal da ist.“ Nun runzelte Ana die Stirn. „Kommt er denn nicht regelmäßig zur Schule?“ Sally schüttelte ihren Kopf. „Warum wurde er denn dann nicht von der Schule verwiesen?“, fragte Ana leise. „Weil er sehr klug ist.“ „Woher weißt du das?“ „Er hatte die höchste Punktzahl in der Jahrgangsprüfung.“ „Oh wow.“ Ana klang ehrlich überrascht. Aber das war gut zu wissen. „Viele behaupten, er hätte die Lehrer bedroht oder auch bestochen.“ „Und was ist mit dir?“ Sally schüttelte langsam ihren Kopf. „Nein. Ich kenne ihn nicht besonders gut, aber so jemand ist er definitiv nicht.“ Sie klang so sicher, deswegen wusste Ana, dass Sally etwas verschwieg. „Okay, genug geredet. Dann mal an die Arbeit.“ Ana gab noch Ronny Bescheid und ging anschließend wieder in die Küche. „Was war denn los?“, fragte Lilian. „Frag lieber nicht. Wir müssen uns beeilen. Die Bestellungen haben sich angehäuft.“
Nach zwei Stunden, gegen dreiundzwanzig Uhr erklärte Ana den Karaoke Abend für beendet. Die Hälfte der Gäste bezahlten und gingen dann nachhause. Einige lobten Reed und Ana sah, dass ihm das unangenehm war. Aber er hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Nachdem auch der letzte Gast gegangen war, trat Ana zu Reed. „Und wie fandst du es?“, fragte sie ihn. „Gut.“ „Nur gut?“, Ana zog ihre Augenbraue in die Höhe. „Es hat mir gefallen.“ Ana lächelte zufrieden. „Dann komm mal mit.“ Sie ging voraus und er folgte ihr ins Büro. Sie nahm aus ihrem Geldbeutel einen fünfzig Dollarschein. „Bitte sehr.“ Reed nahm es entgegen und steckte es in seine Gesäßtasche. „Also, wie sieht es aus? Hast du Lust jeden Samstag herzukommen?“ „Das würde ich gerne tun.“ „Dann brauche ich noch deine Unterschrift für dein Arbeitsvertrag.“ Sie holte aus einer Schublade zwei Zettel raus. „Du hast bereits einen angefertigt?“, fragte Reed überrascht. „Ja.“ Sie legte es vor ihm auf den Tisch. „Hast du ein Stift?“ Sie reichte ihm eins. Sie hatte es geschafft. Sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, damit Reed eine glänzende Zukunft haben wird. Er unterschrieb den Vertrag, Ana kopierte es und gab das Originale Reed. „Willkommen beim Skyline Diner.“ Sie reichte ihm die Hand. Er schlug ein. „Danke für die Chance, Ana.“ Sie lächelte sanft. „Ich habe dir bloß meine Hand gereicht, du hast sie selbst ergriffen. Vergiss nicht was ich dir gestern gesagt habe. Jeder hat sein eigenes Leben in seinen Händen. Lass es dir von niemandem nehmen.“ Zum ersten Mal sah Ana Reed lächeln. „Es ist jetzt spät. Geh nachhause und ruh dich aus.“ Reeds Lächeln verrutschte ein wenig aber er hatte sich schnell wieder im Griff. „Mach ich. Gute Nacht.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und lief aus dem Büro. Ana ordnete seinen Arbeitsvertrag ein und ging dann ebenfalls aus dem Büro. Nick und Celine hatten bereits Feierabend gemacht. Ronny säuberte noch alle Tische und räumte dann ihre Schürze auf. „Hat er unterschrieben?“, fragte Ronny. „Hat er.“ „Du bist eine wundervolle Person Ana. Aber ich hoffe, dass sein Vater kein Problem wird.“ „Soll er es doch versuchen. Der Junge steht ab jetzt nicht mehr alleine“, brummte Ana und band ihre Haare erneut hoch. Ronny lächelte und gähnte. „Also ich bin fix und fertig. Ich werde jetzt auch gehen.“ „Gute Nacht, Ronny.“ Ana ging in die Küche. Alles war bereits aufgeräumt. „Wow, das ging ja schnell“, sagte Ana erstaunt. „Die Kleine hat mir geholfen. Sie wollte partout kein Nein akzeptieren.“ „Ja, das klingt nach Sally. Ist sie gegangen?“ „Ja und das werde ich jetzt auch tun. Gute Nacht Ana.“ „Gute Nacht Lilian.“ Ana ging wie sonst auch zur Kasse und zählte die Einnahmen. Dann brachte sie es in das Safe.
Sally sah erneut auf ihr Handy. Wo blieb denn das Taxi? Sie stand bereits seit fünfzehn Minuten vor dem Diner und wartete auf ein Taxi, das sie gerufen hatte. „Auf was wartest du?“ Sie sah auf und starrte in Reeds Gesicht. Sie saß auf der Mauer und wandte ihr Blick wieder auf ihr Handy. „Auf ein Taxi“, antwortete sie schließlich. „Okay.“ Er lief an ihr vorbei, blieb aber nach ein paar Schritten stehen. „Soll ich dich nachhause bringen?“ Sie sah ihn überrascht an. Eigentlich hatte sie gehofft, dass Nick ihr diese Frage stellen würde, aber er war ziemlich schnell verschwunden. Daraufhin hatte sie Lilian in der Küche geholfen. „Danke, aber mein Taxi kommt bestimmt bald.“ Er musterte sie. „Verstehe.“ Er drehte sich erneut um. Nun runzelte Sally die Stirn. „Was verstehst du?“, rief sie ihm nach. „Du hast Angst, dass ich dir etwas antun könnte.“ „Das stimmt doch überhaupt nicht“, sagte sie entrüstet. Das entsprach auch der Wahrheit. Angst hatte sie bestimmt nicht vor ihm. Er sah sie an. „Warum willst du dann nicht, dass ich dich nachhause begleite?“ „Ich wüsste nicht, warum du mich begleiten wollen würdest.“ „Es ist spät und du musst durch einen schlechten Viertel. Da sind Leute, die dir nichts Gutes wollen würden. Auch die Taxifahrer sind nicht besonders Vertrauenswürdig.“ Daran hatte sie nie gedacht. Bisher war sie entweder mit ihrem Auto gekommen oder sie wurde abgeholt. „Also gut.“ Sie sprang von der Mauer runter und trat neben ihn. Sie kam ihm knapp über die Schulter. Obwohl sie nicht besonders klein war, war er dennoch größer als sie. „Ich habe kein Auto, wir werden also laufen müssen.“ „Kein Problem“, antwortete Sally und lief los. Sie spürte Reeds Blick auf sich, bevor er aufholte und neben ihr lief. „Wirst du Samstags immer auftreten?“, fragte sie schließlich, um die unangenehme Stille zu unterbrechen. „Hab vorhin unterschrieben.“ Sie lächelte sanft. „Das freut mich. Miguel war nicht annähernd so gut wie du.“ „Wenn du meinst.“ Abwesend rieb sich Sally über die Arme. Es war kühl und sie fröstelte ein wenig. Reed hatte es mit bekommen, denn kurz darauf reichte er ihr seine Jacke. „Was soll ich damit?“, fragte sie überrascht. „An deine Wand hängen und bewundern. Was wohl, anziehen.“ Er hielt es ihr offen. Sie rollte mit den Augen, schlüpfte aber rein. Sofort wurde sie von seinem Duft umhüllt. Die Jacke war ihr viel zu groß. Man sah nicht einmal ihre Hände. „Ist dir nicht kalt?“, fragte sie ihn. Er schüttelte den Kopf. „Wie bist du eigentlich darauf gekommen, Musik zu machen?“ „Meine Mum hat gerne gesungen. Wahrscheinlich hat sie ihre Vorliebe für Musik mir vererbt.“ Dass er ihr das erzählen würde, hätte sie nie gedacht. „Es ist schön, wenn man etwas macht, was einem gefällt.“ „Was gefällt dir denn?“ „Mir?“ Noch nie hatte jemand sie gefragt, was ihr gefiel. „Da hier sonst niemand ist, ja.“ „Ich schreibe gerne“, sagte sie nach einer Weile. „Klingt interessant. Und was schreibst du?“ „Versprich mir, dass du nicht lachen wirst.“ „Ich verspreche nie was.“ Sally holte tief Luft. „Okay. Ich schreibe gern Fantasy Romane.“ „Das verstehe ich nicht.“ „Was denn?“ „Warum ich da lachen sollte. Wenn dir das gefällt, solltest du es auch tun. Egal was andere davon halten.“ „Vermutlich hast du Recht“, murmelte Sally. „Du willst also Autor werden“, stellte Reed fest. Sie sah ihn perplex an. „Nein, natürlich nicht. Ich werde Jura studieren und…“ „Und bei deinem Vater arbeiten, der dir dann alles vererbt“, fiel er ihr ins Wort. Wenn das jemand anderes aussprach, klang das richtig erbärmlich. „So ist es zumindest geplant.“ Sally bemerkte, dass Reed näher zu ihr trat. Sie sah sich um und merkte, dass sie in dem Viertel waren, von dem Reed gesprochen hatte. Sie bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, zu Fuß hier durch zulaufen. „Entspann dich.“ „Was tust du?“, flüsterte sie, als Reed seinen Arm um sie legte und sie an sich drückte. „Wenn du nicht willst, dass dich jemand erkennt, versteck dein Gesicht hinter der Jacke und lass dich führen.“ Gab er zurück und beschleunigte seine Schritte. „Werden sie nichts sagen?“, fragte Sally. „Momentan glauben sie, dass du meine Freundin bist. Wär also nett, wenn du einen Arm um mich legst und dich entspannst. Ich tue dir nichts.“ „Okay.“ Reed spürte, dass sie sich entspannte. Er warf mörderische Blicke zu den Gaffern. Sie ließen Reed immer in Ruhe, da sie seinen Vater kannten. In dieser Hinsicht, war es praktisch sein Sohn zu sein. Nach fünf Minuten ließ Reed sie wieder los. Sie hatten den Viertel zurückgelassen. „Warum haben sie dich in Ruhe gelassen?“, fragte sie ihn. „Weil sie meinen Vater kennen. Hot Springs besteht nicht nur aus guten Gegenden.“ „Aber du kennst die Menschen“, es klang wie eine Frage, war aber eine Feststellung. „Was glaubst du wo ich wohne?“ Daraufhin konnte Sally nichts erwidern. „Also, hier fängt dein Viertel an. Von hier kommst du sicher alleine zurecht.“ Reed tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn und drehte sich um. „Reed?“ „Was gibt’s?“ Er sah sie über die Schulter an. „Komm am Montag in die Schule.“ „Warum?“ „Warum nicht?“ „Antworte nicht mit einer Gegenfrage.“ „Gute Nacht Reed.“ Sie lief los. Reed kratzte sich am Nacken und ging dann wieder den Weg zurück. Er hoffte, dass niemand sie erkannt hatte. Sally schloss leise die Haustür auf und ging rein. „Wo warst du?“, donnerte ihr Vater los. Sie zuckte zusammen. „Gott Dad, du hast mich erschreckt!“ Sie hielt eine Hand flach an ihre Brust gedrückt und spürte ihren Herz wie wild klopfen. „Antworte jetzt.“ „Ich war beim Skyline Diner. Du kannst ruhig Ana fragen. Darf ich jetzt auf mein Zimmer?“ Sie wollte schon zu den Treppen gehen, aber ihr Vater fuhr fort. „Und wessen Jacke ist das?“ „Was für eine…“ Sie sah an sich runter. Sie trug immer noch Reeds Lederjacke. „Ein Freund hat mich nachhause begleitet, da es spät geworden ist.“ Ihr Vater musterte sie noch eine Weile. „Geh jetzt ins Bett. Morgen kommen wichtige Personen zum Frühstück.“ Sally nickte und ging zur Treppe. „Ach und ich will nicht mehr, dass du diesen Freund weiterhin triffst.“ „Aber…“ „Sara Lee Smith, ich dulde keine wiederrede!“ Jedes Mal wenn ihr Vater ihren ganzen, unausstehlichen Namen aussprach, meinte er es todernst. Aber diesmal würde sie ihn ignorieren. Wie Ana gesagt hatte, jeder hat sein Leben selbst in den Händen. „Okay.“ Erschöpft ging sie in ihr Zimmer und warf sich auf ihr Himmelbett. Sie sah an ihrem Schrank ein Kleid hängen. Es war Marineblau und hatte Ärmel aus Tüll. Um die Taille war ein goldener Gürtel. Ein Kleid aus der Kollektion ihrer Mutter. Dieses Kleid sollte sie also morgen anziehen. Sie stand auf und sah sich in ihrem Standspiegel an. Sie sah lächerlich aus in der viel zu großen Lederjacke, aber es passte zu dem Rest ihres Outfits. Sie zog es aus und hängte es in ihr Kleiderschrank, dann nahm sie ihre Schlafsachen und ging ins Bad.