Als ich noch Märchen gelesen habe, dachte ich solche Dinge könnten niemals passieren, und hier bin ich nun und lebe mein eigenes.
-Lewiss Caroll-
Langsam öffnete ich meine Augenlider. Um mich herum war es schwarz. Nein, das beschrieb es nicht genau, eher grau, denn ein winziger Lichtstrahl schien durch einen Spalt und erleuchtete ein wenig die Finsternis um mich herum.
Meine Sinne schienen sich langsam, aber sicher, an die neue Situation zu gewöhnen und so konnte ich etwas besser die neuen Eindrücke verarbeiten. Es war immer noch trotz des Lichtstrahls zu duster, um hier etwas erkennen können. In meinem Kopf war es immer noch etwas schwindelig, als wäre ich gerade in einem Karussell gewesen.
Als ich langsam wieder klar denken konnte, bemerkte ich, dass ich mich in einer sitzenden Position befand. Ich hatte sofort Bilder von Horrorfilmen oder Krimis im Kopf, in denen junge Menschen entführt und an einen Stuhl aus Holz gefesselt wurden. Ich spürte, wie die Panik immer mehr Besitz von mir ergriff.
Um dem irgendwie entgegenzuwirken, fing ich an, diese negativen Gefühle und Gedanken mit langsamem, rhythmischem Ein- und Ausatmen zu kontrollieren. Somit konnte ich zwar meine Angst etwas im Zaun halten, doch dadurch fiel mir auf, wie eisig kalt mein Körper war. Es fühlte sich so an, als ob das Blut in meinen Adern nur noch langsam dahinfloss, als wäre alles eingeschlafen.
Vielleicht sollte ich probieren, meine Beine und Arme zu bewegen?
Zuerst versuchte ich, meine steifen Arme langsam und vorsichtig zu regen. Zu meiner Überraschung schienen diese nicht gefesselt worden zu sein. Glück gehabt. Dasselbe machte ich mit meinen Beinen, womit ich auch erfolgreich war. Meine Befürchtungen hatten sich also nicht bewahrheitet.
Ich atmete einmal tief durch und bemerkte, dass eine Art dickes Band um meinen Bauch gebunden war, was mich aber nicht weiter in meiner Bewegungsfreiheit beeinträchtigte.
Aber wo bin ich denn jetzt genau? Im Moment gab es nur diese eine Frage. Ich musste meine Umgebung untersuchen, um diese Frage zu beantworten. Zuerst versuchte ich, meine Umgebung zu erfühlen. Unter meinem Po war etwas Weiches, das aber bei Druck leicht nachgab. Meine Finger tasteten sich weiter, an einer Art gebogenem Holzbrett nach oben und spürten harte, hölzerne Kanten, die hinter meinem Rücken weitergingen. Vorsichtig streckte ich mich nach vorne und konnte auch hier ein paar hölzerne Kanten spüren, die ein Art Blumenmuster oder etwas ähnliches am oberen Ende hatten. Eine Fläche konnte ich erhaschen, nachdem ich mich noch weiter nach vorne gebückt hatte. Da meine Hände inzwischen alles in meiner Nähe abgetastet hatten, versuchte ich, das Erfühlte in ein Bild zu übertragen. Ich schien auf einem edlen Stuhl aus Holz mit Polsterung zu sitzen und vor mir befand sich wohl ein Tisch mit ein paar Schnitzereien.
Ein Klack riss mich aus meiner Erkundungstour der Umgebung.
Was ist das nur für ein Geräusch?
Ich spitzte die Ohren und versuchte, dieses irgendwie zuzuordnen. Da ist es schon wieder.
Klack, Klack, Klack.
Die Geräusche von hohen Absätzen, die sich an einem Zweiachteltakt zu orientieren schienen, wurden immer lauter. Ich traute mich nicht zu atmen. Die trommelnden Schritte lähmten mich. In meiner Fantasie stellte ich mir eine jugendlich unbeschwerte Person vor, aber ...
... das konnte doch nicht wahr sein.
Ich spürte, dass sich meine Nackenhaare aufrichteten und ich schaute wie in Trance auf den Lichtkegel. Diese heiteren, schnellen Schritte schienen immer näher zu kommen und mein Körper zitterte vor Angst. Das Knarren einer Tür war zu hören und als ich in die Richtung schaute, wurde ich geblendet.
„Ach, wen haben wir denn da?", sprach eine unbekannte, fröhliche Stimme.
Langsam konnte ich wieder meine vom Licht geblendeten Augen öffnen und beobachtete die Person, von der die gesprochenen Worte kamen.
Vor mir stand eine schlanke Frau. Sie war ungefähr vierzig Jahre alt und trug ein weites, pinkfarbenes Kleid, was nicht sehr viel Haut zeigte. Die blonden Haare waren hochgesteckt und mit rosa Perlen verziert worden. Ihre Augen und Lippen waren mit darauf abgestimmten gleichen oder passenden heiteren Farben geschminkt.
Sie ging zu den Fenstern und schob die Vorhänge zur Seite und der Raum wurde noch mehr erleuchtet. Ich war so sehr von der merkwürdigen, fröhlichen Frau verwundert, dass ich ihre Tätigkeiten weiter studierte.
Danach ging sie zu einem Plattenspieler, der in der Nähe einer Vitrine stand, in der verschiedene Bücher und Statuen aufgestellt waren. Sie legte eine Schallplatte auf und kurz darauf war klassische Musik zu hören. Ich war so angespannt vor Angst, dass mich das Lied störte.
„Was ist das denn für ein Lied?", fragte ich sie, da ich so hoffte ein Gespräch aufzubauen und dadurch etwas mehr über meine Lage zu erfahren. Ich hatte wirklich keinen blassen Schimmer, wie ich überhaupt in diese Situation gelangt war.
„Na, na, junges Fräulein. Das ist La Follia von Corelli. Hach, ich liebe dieses Musikstück", schwärmte sie, während ihr Körper sich leicht zu der Musik hin und her bewegte.
„Was hast du mit mir vor?", fragte ich weiter forsch nach. Sie ging auf mich zu und kniff mir leicht in die Wange und sprach: „Dieser Ton gehört sich nicht für eine junge Dame, die sich hier wie ein Geschenk präsentiert. Aber ich werde dich nun von dem roten Band um deinen Bauch erlösen. Schließlich haben wir nicht den ganzen Tag Zeit."
Wenig später hatte die Frau mich von dem Band befreit, das nun ungeachtet auf dem Boden lag. Ich war irritiert und wütend, traute mich daher nicht zu sprechen, außerdem rieb ich mir etwas die Wange, um den Schmerz schneller verschwinden zu lassen. Aua. Die Frau setzte sich an den Bürotisch, nahm sich die schneeweiße Teekanne und schenkte den Inhalt in zwei Tassen ein, die farblich perfekt auf die Kanne abgestimmt waren.
„Möchtest du Zucker in deinen zauberhaften Beruhigungstee? Du wirst sehen, der wirkt wahre Wunder", fragte sie bestimmt, aber dennoch in einem höflichen Ton.
Ich nickte, da mir die Angst vor den möglichen Folgen den Hals zuschnürrte. Sie gab zwei Würfelzucker in meinen Tee und reichte ihn mir. Zügig nahm ich ihn entgegen und nippte leicht an der Tasse, um mich etwas zu beruhigen. Der Tee schmeckte und tat meinen Stimmbändern gut.
„Mein Name lautet Gesine und deiner?"
„Sam", antwortete ich nur.
„A-ha. Und wie alt bist du?"
Meine Augenbrauen zuckten leicht zusammen, denn ich wusste nicht, wohin diese Fragerei führen würde. Genauso wusste ich nicht, was das hier werden sollte. Ich stellte die Tasse wieder auf den passenden Untersetzer ab, um sie anzuschauen.
„Ich bin vierzehn Jahre alt", erklärte ich und schaute mich nun doch etwas beruhigter im Raum um. Anscheinend hatte Gesine über die Wirkung des Tees nicht gelogen.
Das Zimmer, in dem ich mich befand, schien ein vornehmes Arbeitszimmer zu sein. Der ganze Raum war mit goldenen Bögen und Schleifen verziert worden. An der Wand hing ein Bild von Mozart und die Regale und Vitrinen an den Wänden waren mit Ordnern, Büchern und Skulpturen bestückt.
„Ach! Schon so spät. Jetzt müssen wir uns aber beeilen. Du hast viel zu lange geschlafen", plauderte Gesine. Ich drehte meinen Kopf zu ihr zurück und sah, wie sie die Uhrzeit von einer goldenen Taschenuhr ablas.
Bevor ich etwas erwidern konnte, stand Gesine zügig auf und zog mich an der Hand auf die Beine, ging voraus und wollte Richtung Tür laufen.
„Halt! Warum müssen wir uns denn beeilen?", versuchte ich Gesine zu fragen, die vorausgeschritten war, während mein Atem leicht stockte.
„Na, du musst dich doch für deine Rolle im Fernsehen vorbereiten", antwortete sie, während sie nur kurz nach hinten schaute.
Es klang nach einer etwas besseren Alternative als die vorherige Option mit der Wange und daher ließ ich mich einfach von Gesine durch die Tür hindurch führen. Ich soll also ins Fernsehen und dort eine Rolle spielen. In was bin ich da nur reingeraten?