Es gibt ein indisches Märchen von einem Spiegel. In dem jeder etwas anderes sieht - nämlich sich selbst. Ich kenne Spiegel, in denen man stets nur dasselbe sieht, ganz gleich, wer in sie hineinschaut.
-Wieslaw Brudzinski-
Gesine zog mich nun den langen Flur entlang, wo wir immer wieder an dreiarmigen Leuchtern vorbeikamen. Der Boden des Flurs war mit karamellbraunen Fliesen ausgelegt, die unsere Schritte wie das Ticken einer Uhr klingen ließen. Schließlich standen wir vor einer hellen Tür aus Ahornholz, die Gesine mit einem „et voilà" öffnete.
Der düstere Raum, den wir betraten, war voll mit bunten Klamotten, so weit das Auge nur reichte. Ich war überwältigt von der Auswahl und schaute weiter umher. An einer Wand waren ovale Spiegel und halbrunde Tische montiert. Vor diesen standen auch schwarz gepolsterte Stühle, die mich mehr an meinen Friseur erinnerten.
„Das ist unsere Maske!", sprach Gesine so stolz, als würde sie gleich davon platzen. Sie führte mich, immer noch an der Hand haltend, zu einem der Stühle.
Ich fühlte mich die ganze Zeit, als wäre ich ein kleines Mädchen, das ohne ihre Mutter nicht wüsste, wohin es gehen sollte. So setzte ich mich ohne Widerworte auf einen der Stühle und erschrak etwas, nachdem ich mich nach links gedreht hatte.
Neben mir saß ein blondes Mädchen, welches blaue Augen hatte. Ich schätzte sie auf vielleicht schon siebzehn Jahre und auf alle Fälle war sie älter als ich. Sie schautete mich mit ängstlichen Augen an, die nur zu sagen schienen: „Bitte rette mich von hier."
Aber was kann ich nur tun?
Vielleicht einfach die Hand von ihr halten oder doch lieber mit ihr sprechen?
Vielleicht ihr gut zureden oder sie doch in den Arm nehmen?
Was kann ich nur tun?
Während sie mich anschaute, fingerte sie mit den angekauten Fingernägeln immer wieder am Ärmel ihres grauen Pullovers herum. Ich wollte ihr helfen, aber meine Lippen wollten nicht gehorchen. Wir sprachen beide kein Wort miteinander und so starrte ich einfach nur zurück, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können.
Neben uns erschienen zwei Frauen, die wie französische Dienstmädchen gekleidet waren. Sie trugen schwarze langärmlige Kleider mit einer umgebunden weißen, verspielten Schürze. Am Ende des Rockes fielen ein paar schwarze Schuhe mit niedrigem Absatz auf. Ihre goldenen Haare waren zu einem Zopf gebunden.
Meine Augen schauten nur gespannt wie die Sehne eines Bogens auf das Schauspiel. Gesine flüsterte den beiden etwas ins Ohr. Was hatten sie nur vor?
Beide nickten und holten daraufhin zwei Wägen, die Scheren, Tuben, Schminke, Bürsten und allerlei andere Dinge von einer Maske beinhalteten.
„Dann lass uns anfangen, euch in passende Rollen zu stecken. Zuerst fangen wir mit den Kleidern an", sagte eine der Bediensteten während sie in die Hände klatschte.
Die Frauen brachten uns zu den beiden Raumtrennern, die sich in unserer Nähe befanden. Wir beide trauten uns weder etwas zu sagen noch uns zu wehren, da uns die Angst immer noch in den Knochen steckte.
Sie fingen an verschiedene Kleidungsstücke für uns zu holen, die wir daraufhin anprobieren mussten.
*
Kurz drauf trug ich ein dunkles, schokoladenbraunes Kleid, welches mir über die Knie ging. An manchen Stellen war es mit viereckigen Flicken versehen, die nicht wirklich farblich zueinander passten. Manche schimmerten wie helle Sterne und andere waren so bedeckt wie eine finstere Wolke in der rabenschwarzen Nacht. Zum Schluss bekam ich noch eine weiße Schürze, die um meine Hüfte gebunden wurde. Sie war jedoch ganz praktisch, da man dort verschiedene Dinge verstauen konnte. An den Füßen trug ich zum Abschluss einfache, geschlossene Sandalen von der gleichen Farbe wie mein Kleid.
„Könnte ich nicht lieber das ...", versuchte ich dem Dienstmädchen verzweifelt mitzuteilen, während ich auf ein perlweißes, mit Federn geschmücktes Kleid zeigte, dessen Stoff so sanft aussah, als ob es einem Schutzengel gehören könnte.
Sie war jedoch viel zu eifrig bei der Sache und fiel mir ins Wort: „Wir sind nun fertig mit dem Ankleiden. Gehen wir nun wieder zurück zum Platz."
Ich folgte zögernd, gehorchte ihr aber und so gelangten wir wieder an den Sitzplatz.
Dort traf ich das blonde Mädchen von vorhin. Sie trug nun anstelle des grauen Pullovers ein lavendelfarbenes Kleid, welches mit einem weißen Blumenmuster verziert worden war und war allerdings barfüßg.
Meine braunen Haare wurden gekämmt und zu zwei Zöpfen gebunden, die seitlich über meine Schulter gingen. Ich konnte im Spiegel, der sich vor mir befand, meine Sitznachbarin sehen, die gerade die Haare gebürstet bekam, bis sie wie ein Sonnenschein glänzten. Im Anschluss wurden ihr noch weitere blonde Haare an die Spitzen der natürlichen Haare mit einer Art durchsichtigem Kleber befestigt, der in die Haarspitzen eingearbeitet wurde. Kurz darauf entstand ein grelles Licht, woraufhin ich wegschauen musste, um nicht geblendet zu werden.
Das Beeindruckendste an ihr war nun, dass ihre gesamten Haare ziemlich lang waren - sogar so lang, dass ein Viertel der Länge auf dem Boden auflag.
Die Dienstmädchen trugen uns noch Make-up auf. Während des ganzen Prozesses fühlte ich mich wie eine Puppe, die gerade frisch aus der Fabrikatur kam. Sogar eine Haube, die so weiß wie Schnee war, bekam ich zum Abschluss aufgesetzt. Als ich mich schließlich im Spiegel betrachtete, erschrak ich innerlich, denn ich sah aus wie ein zwölf jähriges Mädchen, welches aus einem ärmlichen Haushalt stammte.
Meine Wangen waren leicht rötlich hervorgehoben und wirkten dadurch kindlicher, wobei der Rest meines Gesichts eher in einem dunkleren Farbton gehalten wurde und dadurch so wirkte, als ob ich länger in der Sonne gelegen hätte. Ich drehte meinen Kopf wieder zur Seite, denn auch meine Sitznachbarin schien fertig zu sein. Das blonde Mädchen hingegen war kreidebleich im Gesicht, als ob sie tagelang die Sonne nicht gesehen hätte. Ein leicht rötlicher Ton ruhte ihren Lippen.
„Lasst euch Ladys begutachten", drang es von der Nähe der Tür hervor. Die beiden Dienstmädchen führten uns zu ihr. Gesines geschmeidige Finger fuhren über meine Schulter und flossen wie ein Strom den Rücken entlang, bis sie das Ende des Kleides erreichten. Gesines Lippen formten sich zu einem Lächeln.
Urg, diese eklige Spur vom Finger. Bitte lass dieses Gefühl bald vorbei sein.
„Ihr beide seht bezaubernd aus. Kommt mit, ich bringe euch auf eure Zimmer", erklärte sie begeistert. Uns wurden daraufhin mit einem weißen Stofftuch die Augen verbunden. „Nicht spicken. Das wird eine Überraschung werden!“
Was für Zimmer? Wohin bringt ihr uns und was habt ihr dann vor?
Finger glitten in meine Hände und führten mich weiter. Auch das Mädchen mit den goldenen Haaren war bei mir, da ich sie immer wieder unregelmäßig schluchzen hörte. Die Tür schien ins Schloss zu fallen und wurde hinter uns mit einem langgezogenen Quietschen geschlossen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die wir durch die Gänge und Wege gezogen worden waren, bekamen wir irgendwann die Augenbinden abgenommen.
Das Licht des Flures schien in meine Augen. Ich konnte mich langsam durch mehrfaches Blinzeln an die Helligkeit gewöhnen. Wir standen vor zwei massive Holztüren, auf denen golden, rechteckige Schilder mit den Zahlen 205 und 206 befestigt waren.
„Du, mein Mädchen gehst in die Nummer 206", forderte die fröhliche Lady die Blondine auf. Diese öffnete daraufhin langsam und vorsichtig die Tür und schritt hinein. Ich konnte einen Blick in ihr Zimmer erhaschen. Es war in den Farben Weiß und Lila gehalten. An der Wand befand sich auch ein gigantisches Bücherregal, das aber auch noch verschiedene Staffeleien und Kerzen beinhaltete. Mehr konnte ich von dem Flur aus nicht erkennen.
„Und du gehst in dieses Zimmer." Ich schaute auf die Tür mit der Nummer 205 und öffnete die hölzerne Tür. Als ich den ersten Blick in das Zimmer wie von einem Armenhaus werfen konnte, zuckte mein Körper wie ein Blitz zusammen.
„Nicht erschrecken. Du musst dich doch in deine Rolle einfinden. Das geht halt nur, wenn du die entsprechende Umgebung hast. Ich verrate dir auch ein kleines Geheimnis: Wenn du es schaffst, im Märchendorf zu gewinnen, dann wirst du den Geldpreis, den es zu gewinnen gilt, mit nach Hause nehmen." Das flüsterte mir Gesine, die hinter mir stand, mit einer kindlich hohen Stimme ins Ohr.
Meine Beine schlurften fast schon alleine in die Mitte des Raumes. Mein neues Zuhause? Die Tür wurde hinter mir geschlossen.
Ein großer Kloß bildete sich in meinem Hals, den ich versuchte runter zu schlucken. Es fühlte sich so an, als wären meine Knochen aus Blei. Es drehte sich alles und mein Magen krampfte. Ich fiel auf die Knie und meine Tränen liefen wie ein Wasserfall meine Wangen herunter. Ich hatte Heimweh und wollte einfach nur nach Hause in die schützenden Hände meiner Eltern.
Der Gedanke an meine Mutter und meinen Vater ließ mein Herz zerspringen. Langsam wurden meine Augen müde und ich weinte so lange, bis ich schließlich auf dem Boden liegend einschlief.