„They say if you dream a thing more than once, it's sure to come true.“
-Aurora-
Am Morgen stieg ich müde auf. Die Nacht konnte ich gut schlafen, obwohl das Stroh, mit dem die Bettdecke und Kissen gefüllt waren, an manchen Stellen mich gepikst hatten. Zuerst ging ich ins Bad und versuchte mich dort mit einer Katzenwäsche am Waschbecken heraus zu putzen, so gut es eben ging. Als ich die ersten Wassertropfen auf meiner Haut spürte, war ich etwas wacher.
Daheim wusch ich eigentlich nie mein Gesicht. Ich ging lieber direkt morgens unter die Dusche. Dennoch hatte mich die neue Situation hier verändert: Mein Körper wurde strapaziert und ich musste um mein Leben kämpfen. Wie konnte man da nur wieder rauskommen?
Völlig in Gedanken versunken, ging ich wieder zu meinem Bett und setzte mich darauf.
Was wohl meine Familie gerade machte? Meine Mutter würde wahrscheinlich die Tage nicht arbeiten gehen. Sie würde sich von ihrer Ärztin krankschreiben lassen, so wie es Mutti ständig nach unerwarteten schlechten Ereignissen tat. Sie hatte immer ihr kurzes braunes Haar wachsen lassen, da sie danach nie zum Friseur ging. Auch nahm sie öfter Tabletten gegen die schweren Bauchschmerzen. Mein Vater würde mir ein Geschenk kaufen, falls ich wieder nach Hause kommen würde. Er war zwar etwas kräftiger, hatte dafür aber ein gutes Herz. Als kleines Kind schaute ich in seine braunen Augen, da ich in den Himmel geworfen wurde. Es war ein schönes Gefühl gewesen, von seinen kräftigen Armen wieder aufgefangen zu werden. Die Luft durchströmte mich immer wieder wie der Wind das Meer.
Ein Klopfen an der Tür holte mich schreckhaft wieder in die reale Welt zurück, jedoch waren meine Gedanken völlig überfordert in dem Moment.
Es war Gesine, die im Türrahmen stand. Ihr Gesicht war wie immer in hellen, rötlichen Farben geschminkt und ein lila Abendkleid ließ sie wie eine Sängerin wirken, die zu lange in der Maske gewesen war.
„Gretel, wie hast du denn die erste Nacht in deiner schönen Unterkunft geschlafen?“, fragte sie mich in einem freundlichen Tonfall, doch am Ende fromten sich die Lippe zu einem offen Lächeln, sodass man die weißen Zähne sehen konnte.
In mir hatte sich Wut breit gemacht und ließ meinen Körper beben.
„Ich habe relativ schlecht geschlafen. Ich kann mich in diese Situation einfach nicht einleben und will heim“, schrie ich vor lauter Verzweiflung.
Ich rannte auf Gesine zu, doch sie blieb einfach nur an Ort und Stelle stehen. Als ich nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war, stellte sich jemand mir in den Weg. Ich hielt sofort an, als ich sah, wer es war. Seine braunen Augen schauten in meine. Auf seinen Lippen war ein leichtes Lächeln. Er packte mich vorsichtig mit seinen Händen an den Schultern, als ob ich jede Sekunde zerspringen könnte. Er lehnte sich mit seinem Kopf leicht nach vorne und flüsterte mir Folgendes ins Ohr: „Ich habe mit Gesine verhandelt. Wir haben heute Mittag eine halbe Stunde Freizeit.“
Langsam entwich mir die Wut, denn Charles hatte etwas beruhigendes in seiner Stimme. Nur ein unterdrücktes, inneres Feuer war noch in mir zu spüren.
„Kommt ihr beiden Geschwister. Wir werden jetzt zum Frühstück gehen. Hera wird euch dann anschließend zum Training abholen“, sprach Gesine zu uns, als ob wir kleine Kinder wären.
„Ich bin aber nicht seine Schwester.“
„In dem Märchen Hänsel und Gretel sind die beiden aber Geschwister und da ihr das Märchen spielen sollt, um den Preis zu gewinnen, müsst ihr daher Geschwister sein und ihre Namen annehmen“, erklärte Gesine mit gerümpfter Nase und behielt den belehrenden Tonfall bei.
„Ok. Ich habe es verstanden“, sprach ich die Worte in einem genervten Tonfall aus. Aber Gesine reagierte anders auf den Tonfall, als ich es erwartete, sie verzog kein Stück ihr Gesicht.
*
Kurz darauf standen wir in der Schlange vor dem Büfett und erblickte dort ein kleines Mädchen, welches einen weinroten Mantel trug. Auf dem Kopf hatte es sich die rote Kapuze tief in die Stirn gezogen. Irgendwas hatte dieses Kind an sich, was ich aber nicht genauer hätte benennen können. Als wir unser Essen geholt hatten, setzten wir uns zu ihr an den Platz. Es hatte Sommersprossen im Gesicht, mandelbraune Augen und ihre Haare waren ungefähr Schulterlang. Sie wirkte sehr verängstigt und war ungefähr 10 Jahre alt. Also noch ein Kind - ein verängstigtes Kind. Gerade wollte ich sie nach ihrem Namen fragen, als mich eine liebliche, unbekannte, weibliche Stimme unterbrach: „Na, Rotkäppchen! Du weißt was mit dir am Ende passiert?“
„I-ich wer-de vom Wolf ge-gefressen“, stotterte das Mädchen als Antwort nur und starrte auf das Brot, das vor ihr auf dem Teller lag. Ich musterte die unbekannte Person von Kopf bis Fuß. Sie hatte blonde, wallende Haare, die wie die Sonne schienen. Die Augen waren so blau wie das tiefe, klare Meer, in denen man wie ein Stein sinken konnte, die leicht rötlichen Wangen wirkten wie die zarte Rosenknospen, die gerade dabei waren aufzugehen.
Ansonsten wurde ihr rosiger, zarter Körper von einem hellblauen, seidenen Kleid geschmeichelt. Auf ihrem Kopf trug sie eine kleine Krone wie einen Heiligenschein.
„Und ich werde ewig schlafen, bis ich von meinem Prinz gerettet werde. Ich kriege den Preis, da ich über Märchen alles weiß.“
Sie verbeugte sich und nahm dabei die oberen Enden des Rockes um ihn leicht mit zwei zusammengeführten Fingerspitzen anzuheben und dann sanft in die Knie zu gehen. Anschließend setzte sie sich zu uns an den Platz.
Auf ihrem Tablett hatte das Mädchen ein Stück Apfelkuchen, der mit Puderzucker bestreut war. Ihre Hand nahm geschmeidig die Kuchengabel und streckte dabei ihren kleinen Finger kerzengerade von dieser weg. Wie ein warmes Messer durchschnitt die Kuchengabel den Apfelkuchen, dessen fruchtiger Inhalt zum Vorschein kam.
„Und hast du auch einen Namen?“, fragte ich sie, ein wenig verdutzt, aber es schwankte auch ein wenig Neugierde aus der Frage heraus.
„Mein Name lautet Aurora. Ihr könnt mich aber auch Dornröschen nennen. Eigentlich rede ich ja nicht mit den Fußvolk, aber heute mache ich eine Ausnahme. Ihr könnt euch dankbar zeigen“, erklärte sie uns während ihr Blick sich nicht vom Teller löste. In mir kam wieder die angestaute Wut von heute Morgen hervor. Ich wurde etwas deutlicher in meiner Wortwahl: „Ist das dein Ernst? Ich bin nicht arm.“
„Ach? Und was sagt dann eure Kleidung über euch aus? Hänsel, Gretel sowie Rotkäppchen kamen aus einfachen Verhältnissen. Das weiß doch wirklich jeder.“
„Und selbst wenn ich, Gretel aus einfachen Verhältnissen komme, erlaubt euch das nicht euch als die Siegerin zu erklären.“ Sie schaute mich daraufhin an und musste anfangen zu kichern als ob ich einen Witz gemacht hätte. Rotkäppchen und Hänsel verfolgten das Gespräch von ihren Plätzen aus.
„Schön. Einfach schön. Was weißt Du schon über Märchen? Ich habe daheim eine ganze Reihe von Märchenbüchern, die ich gelesen habe und Dornröschen ist mein Lieblingsmärchen“, prahlte Aurora siegessicher.
Meine Zähne knirschen wie der blanke Neid.
Wie konnte man nur so eingebildet sein? In meiner Wut sprach ich die Worte aus, die ich vielleicht nicht hätte sagen sollen: „Du wirst nie den Preis gewinnen, da ich mich viel besser in Märchen auskenne als du.“ Sie schaute mich mit einem bösen Blick an. Doch ich hielt ihrem Blick stand und so harrten wir ein paar Sekunden aus. Ihr Kopf wendete sich schließlich irgendwann wieder dem Mahl zu.
„Selbst wenn deine Behauptung stimmen sollte, dann weißt du genauso wie ich, dass du niemals wahre Liebe finden wirst. Ich werde von einem Prinzen gerettet und geliebt. Das ist meine Bestimmung.“
Mein Mund wollte sofort auf diese Aussage etwas antworten, doch ich wusste nicht was ich darauf sagen sollte. Ich war völlig getroffen von diesen Worten, die sich immer wieder in meinem Kopf wiederholten. Niedergeschlagen widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder meinem Essen zu. Mein Magen war dafür dankbar.
Nachdem wir alle gegessen hatten saßen wir noch wortlos am Platz bis Aurora zuerst vom Platz aufstand.
„Ich werde mich dann auf den Weg zum Tanz machen. Doch ich als Prinzessin wünsche euch viel Glück, denn ihr werdet es benötigen.“
Rotkäppchen bedankte sich bei ihr und wünschte ihr ebenfalls Glück.
„Danke. Aber bei meinem Wissen über Märchen werdet ihr es benötigen.“
Und so schritt Dornröschen von uns weg.
*
Nach 5 Minuten zog mich jemand am Ärmel. Es war Charles, der mich anschaute, als ob er ein Gespenst gesehen hätte. Mein Kopf drehte sich mit, als er in eine Richtung zeigte. Mein Hals schnürte sich zu, da meine zitternden Augen das Bild erkannten.
Auf dem Fernseher war wieder der Reporter in einem weißen Drehsessel zu sehen. Ihm gegenüber war ein weiterer weißer Drehsessel aufgebaut, in dem Dornröschen saß.
„Herzlich willkommen zur Sendung „Gefangen im Märchendorf“. Ich habe heute ein echtes Talent, welches in den nächsten Tagen ins Märchendorf gelassen wird, um dort ihre Rolle zu spielen. Kannst du uns deine Rolle vorstellen?“, fragte der Moderator.
Das Mädchen lächelte, bevor sie die Frage beantwortete: „Ich bin Dornröschen. Mein richtiger Name lautet eigentlich Aurora.“
Der Moderator sprach freudig weiter: „Das stimmt. Nur wenige Leute wissen den echten Namen von Dornröschen. Die meisten Märchenfiguren haben ja einen Namen, von denen man aber nur meistens den Spitznamen weiß. Kommen wir aber nun wieder zu den Fragen zurück. Warum solltest ausgerechnet du den Preis von 1 Millionen Dollar gewinnen?“ Aurora fing kurz darauf an zu kichern. Ihre Lippen formten ein strahlendes Lächeln auf ihrem Blüten reinen Gesicht, bevor sie auf die Frage antwortete: „Das ist eine einfache Frage, für die ich meine adelige Weisheit nicht lange benötige. In meiner Kindheit habe ich schon über 50 Märchenbücher gelesen. Daher ist das Thema Märchen für mich schon immer etwas Besonderes gewesen.“
Die Zuschauer applaudierten und der Moderator nickte beeindruckt. Er stand auf und nahm die Hand von Dornröschen, so als ob er einen Handkuss auf ihrem Handrücken hinterlassen wollte. Doch er deutete es nur an. Aurora stand auf und machte einen leichten Knicks und ging von der Bühne. Der Applaus ging langsam zu Ende als sie vom Bildschirm verschwand.
„Morgen möchte ich euch Hänsel und Gretel vorstellen, ...“
Wie vom Blitz getroffen, schauten sich Hänsel und Gretel an.