„Ich werde dich niemals allein lassen. Niemals.“
-Coralina-
Coralina war immer noch sprachlos. Ihre Augen und Lippen zitterten leicht. Ich hingegen blickte nur schweigend zwischen den beiden hin und her.
Nach einer gefühlten Ewigkeit senkte sie schließlich ihren Blick.
„Da denke ich an nichts und schon sehe ich meinen Bruder wieder“, gab sie nur zur Antwort.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“, antwortete Charles darauf.
Seine Stimme schien nicht mehr zu schwanken. Seine Hände hatte er sicher neben seine Hüfte gestemmt.
„Und die wäre?“, Coralina hob leicht den Kopf.
„Warum hast du mich damals verlassen?“ Charles Schwester atmete daraufhin tief ein und hielt den Atem ein wenig bevor sie weitersprach: „Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Alles. Diese ganze Situation. Ich musste einfach weg.“
Charles musste daraufhin scharf Luft holen, wobei seine Gesichtszüge etwas blass wirkte. Seine Hände hatten sich zu Fäusten gebildet. Ein Wutanfall erwiderte daraufhin die Aussage: „Damals, als unsere Mutter gestorben ist, da hast du an ihrem Grab folgende Worte zu mir gesagt: „Ich werde dich niemals allein lassen. Niemals.“ Diese Worte hatte ich nie vergessen. Du warst damals wie eine zweite Mutter für mich und hast alles für mich getan. Doch ich bin enttäuscht worden, seit dem Tag, an dem du einfach von daheim verschwunden bist, hast du mich, deinen Bruder im Stich gelassen.“
Coralina rückte ein Stück zur Seite. Sie klopfte mit der flachen Hand auf den frei gewordenen Platz: „Setz dich bitte.“
Charles ging mit tapsigen Schritten zum Platz und setzte sich neben seine Schwester, die gerade anscheinend versuchte, die passenden Worte zu finden. Es verging ungefähr eine Minute, bis sie etwas fragte: „Charles glaubst du, das die Seele unsterblich ist? Ich glaube daran und ...“
Coralina führte ihre Hand zu seiner linken Seite des Körpers und legte sie darauf: „... Ma wird immer in unseren Herzen bleiben.“
Ein leichtes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Sie erwiderte das Lächeln und nahm ihre Hand wieder zu sich.
„Aber du musst auch verstehen, dass sich das Herz auch nach Liebe sehnt. Daher bin ich immer auf der Suche nach dem richtigen Partner, aber das sind nur meine Sehnsüchte. Natürlich habe ich auch genauso wie du Ängste z.B. habe ich große Angst, ohne jemals geliebt zu werden diese Welt zu verlassen“, erklärte sie ihm. Ein allzu helles Bild des Fernsehers ließ unsere Blicke in die Richtung des Fernsehers schweifen. Auf diesem war das Logo von der Sendung Gefangen im Märchendorf abgebildet und daneben zählte ein Countdown hinunter. Wir haben nur noch 5 Minuten.
„Weißt du, was meine größte Angst ist?“, fragte Charles sein Schwesterherz. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Das ich wieder allein gelassen werde. Das ich von meiner Familie im Stich gelassen werde.“
„Ich werde dich nie im Stich lassen!“, funkte ich mit entschlossener Stimme dazwischen, erhob mich eifrig von meinem Sitzplatz und ging entschlossenen Schrittes zu meinem Partner. Wir umarmten uns daraufhin, es war mehr eine freundschaftliche Geste, einfach für ihn da zu sein.
„Egal, was dort passieren wird, ich werde immer für dich da sein“, flüsterte ich ihm ins Ohr.
Ein schönes Gefühl. Wir beiden haben es bis hierhin viel durchgemacht. Diese mollige Wärme gibt uns wieder Kraft weiterzumachen, denn nur so können wir schließlich wieder erfolgreich aus dem Märchendorf herauskommen. Jeder von uns hat bis jetzt seine niedergeschlagen Moment gehabt. Obwohl es noch nicht angefangen hat.
Wir lösten uns schließlich von der Umarmung und schauten beide wieder auf den Bildschirm, bereit für das, was kommen möge. Es waren nur noch 2 Minuten, bis das Interview losging.
„Mach's gut, Sam. Ich werde mich dann auf den Weg machen“, ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen.
„Zeig ihnen, was wir alles zusammen gemeistert haben. Ich werde solange zuschauen, bis ich zum Fan Treffen gehen muss“, feuerte ich ihn an. Auch ich war voller Tatendrang. Es tat gut, Charles wieder aufgemuntert zu sehen.
„Ich werde meine Schokoladenseite zeigen, zeig bitte auch deine, wenn du bei den Fans bist“, erklärte Hänsel mit freudiger Stimme. Auch meine Mundwinkel gingen nach oben. Es war ein erleichterndes Lächeln. Ich wollte zwar in diesem Moment nicht direkt an das Märchendorf denken, aber ich musste. All unsere Ängste und Träume würden wir gemeinsam im Märchendorf durchleben. Alle Ängste und Träume von Hänsel und Gretel mussten wir durchleben.
„Hänsel wir müssen los“, befiehlt Gesine wartend am Eingang. Hänsel hob noch einmal die Hand zur Verabschiedung. Gretel tat es im gleich. Kurz darauf machten sich beide auf den Weg zum Interview. Die kleine Meerjungfrau und Gretel setzten sich auf das Sofa, um die Show im Fernseher zu verfolgen. Die Aufzeichnung der Sendung schien zu starten.
Die Kamera fuhr in die Richtung des Reports, der wieder in seinem weißen Drehstuhl saß.
„Herzliche Willkommen zurück zur Sendung Gefangen im Märchendorf. Ich habe heute die Ehre euch einen weiteren mutigen Kandidaten vorstellen. Bitte stell dich den Zuschauern vor. Sie sind gespannt, was du zu erzählen hast.“
Seine offenen Arme zeigten in die Richtung von Charles. Der Junge saß lächelnd im weißen Drehstuhl auf der Gegenseite. Seine Arme hatte er locker auf die Oberschenkel gestützt, die Beine waren leicht übereinandergelegt. Insgesamt war seine Körpersprache sehr entspannt.
„Ich bin Hänsel aus dem Märchen Hänsel und Gretel“, gab er freundlich zur Antwort. An seiner rechten Wange war ein kleines Mikrofon angebracht worden, damit ihn auch die Zuschauer verstehen konnten. Auch der Moderator besaß so ein Mikrofon.
„Da du gerade von Gretel gesprochen hast. Ihr beide gehört zusammen. Was denkst du über deine Partnerin? Habt ihr gute Chance zusammen zu gewinnen?“, fragte er mit glänzenden Augen. Der Gesprächspartner nahm sich einen Schluck von seinem Wasser bevor er sein Gespräch fortführte.
„Meine Partnerin ist die beste Gretel, die ich mir hätte vorstellen können. Wir sind ein unschlagbares Team geworden“, gab er lächelnd zur Antwort. Sein Blick fest in die Kamera gerichtet.
Ein freudiges Grinsen bildete sich auf meinen Lippen. Mein Herz erfreute sich der inneren Wärme. Mit Sicherheit waren meine Wangen in diesem Moment auch etwas gerötet. Er verkaufte sich gut. Aber mit diesem Kompliment hatte ich wahrlich nicht gerechnet.
Mein Blick ging wieder Richtung Fernseher. Neben dem Moderator stand ein Mann im Anzug. An seinem Hals trug er eine elegante rote Fliege. Weiße Handschuhe bedeckten seine Hände. In diesen hielt er ein silbernes Tablett, auf dem ein Briefumschlag lag.
„Meine Damen und Herren, wir erhalten gerade wichtige Informationen, die für die Show entscheidend sind“, erklärte er, nachdem der Moderator den Briefumschlag an den oberen beiden Ecken vorsichtig anfasste. Stolz zeigte er ihn in die Richtung der Zuschauer.
Was sich darin wohl befindet?
„Ah, ich habe unglaubliche Neuigkeiten für euch“, sagte er mit einem breiten Lächeln, nachdem er den Inhalt des Briefes gelesen hatte. Ich war gespannt, was es war. Waren es vielleicht neue Regeln? Oder hatte es etwas mit uns beiden zu tun? Innerlich brodelte ich vor Neugierde.
„Wir haben einen neuen Rekord im Parcours. Hänsel und Gretel haben den ersten Platz mit einer neuen Bestzeit belegt.“ Die Zuschauer applaudierten in diesem Augenblick.
„Gretel mach dich bitte bereit. Wir müssen zum Fan-Treffen“, sprach eine bekannte Stimme. Mein Kopf drehte sich in die Richtung, aus der die weibliche Stimme kam. Es war Hera, die auf mich wartet. Ihre Arme waren verschränkt und sie lehnte mit dem Oberkörper leicht gegen die Wand.
Ich stand vom Sofa auf, lief los und blieb doch auf halben Weg stehen. Mein Blick ging in Richtung von der kleinen Meerjungfrau. Coralina hatte sich nach hinten gelegt. Der Fischschwanz ragte dabei in die Luft und die Flosse tänzelte immer wieder hin und her.
„Tschau, Coralina.“ Ihr Blick ging von dem Fernseher zu mir und ein leichtes Lächeln bildete sich zum Abschied. „Mach es gut, Sam.“
Hera und Sam machten sich auf den Weg zum Fan Treffen.
„Eigentlich wollte ich ja mit euch Essen gehen. Allerdings meinte Gesine, dass sie das besser macht. Dafür sollte ich einen von euch zum Fan Treffen begleiten. Leider wollte ich das Ganze nicht so, aber da Gesine meine Chefin ist, hatte ich keine Wahl“, erklärte Hera. Sie verzog dabei keine Miene, doch es lag etwas Niedergeschlagenes in ihrer Stimme.
„Denk dran, dein schönstes Lächeln draufzulegen. Die Fans erwarten eine süße und nette Gretel. Das dürfte euch noch mal extra Punkte geben“, gab sie nach ein paar Minuten von sich. Sie gab mir kurz darauf einen schwarzen Stift. Ich bejahte die Aussage von ihr und versuchte mich in der Zwischenzeit positiv darauf einzustellen.
Als wir beide vor einem kleinen Tor standen, mussten wir einen Moment warten. Zwei Männer in schwarzer Kleidung und dunklen Sonnenbrillen standen an den beiden Angeln des Tores. Ernste Mienen waren auf ihren Gesichtern zu sehen. Hera holte ihren Dienstausweis heraus und zeigte ihn den Männern. Diese nickten und gingen zum Tor, um es zu öffnen.
Aufgeregtes Geschrei war von draußen das Signal zu höre, dass es jetzt losgehen würde.
Vor mir breitete sich ein gut beleuchteter roter Teppich aus, der ins Freie führte. Viele Menschen waren hinter einem mittelhohen Zaun versammelt, der in einem Halbkreis aufgestellt war. Auch Sicherheitsleute waren in der Nähe. Ich trat mit einem freundlichen Lächeln ins Licht des Scheinwerfers.
„Da kommt sie. Da kommt sie“, rief ein Mädchen. Die Menge hob verschiedene Schilder in die Höhe mit unterschiedlichen Aufschriften. Ein paar konnte ich von meinem aktuellen Aufenthaltsort, welcher auf einer leichten Erhöhung war, lesen.
„Ihr seid einfach zuckersüß.“
„Seid ihr eigentlich zum Vernaschen? Denn ihr beiden seid so süß.“
„Sweetheart 🍫🍭❤️“
Die meisten Mädchen trugen braune Kleider. Auch hatten sie die Haare geflochten. Manche besaßen auch Lebkuchenherze, die um ihren jeweiligen Hals lagen. Die Jungs hingegen waren mit Bundhosen unterwegs.
Ich winkte der Menge freundlich zu und ging die paar Stufen hinunter, die noch vor mir waren. Dabei wippte ich leicht meinen Rock hin und her. Ein paar Pfiffe waren zu hören. Als ich den Zaun erreichte, streckten mir die Leute in der ersten Reihe Postkarten entgegen. Diese hatten Bilder von Lebkuchen auf der Vorderseite gedruckt. Ich ging zu den ersten Leuten hin und gab Autogramme: Gretel 🖤
Auch erste Gespräche führte ich mit den Fans.
„Du bist ja noch süßer, als ich gedacht habe“, sang eine Frau in Lobgesängen.
„Vielen Dank. Sie sehen aber auch nicht schlecht aus“, gab ich freundlich zur Antwort.
„Was ist deine Lieblingsschokoladensorte?“, fragte ein 15-Jähriger. „Also ich bevorzuge klassische Sorten. Aber Nuss ist mein absoluter Liebling.“
Er reichte mir kurz darauf eine Tafel Schokolade mit Nüssen und flehte mich daraufhin an: „Bitte. Lass sie uns zusammen probieren. Ich habe sie selbst gemacht.“
Ich brach diese in zwei Stücke und gab eins dem Jungen wieder. Wir steckten die Stücker dann zeitgleich in den Mund.
„Hm ... Die ist köstlich“, gab ich mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen von mir.
Ich ging zur nächsten Person. Ein alter Mann mit Vollbart kam nun an die Reihe: „Ich bin schon immer ein Märchenfan gewesen. Ich bin so glücklich, dass ich dich Gretel noch sehen darf. Bitte würdest du mein Märchenbuch unterschreiben?“
Ich zückte meinen Stift und unterschrieb auf der ersten Seite. Auch ein kleines Herz malte ich noch daneben. „Viel Glück in der Show. Ich werde dir die Daumen drücken.“ „Vielen Dank. Ich wünsche ihnen noch viel Spaß“, gab ich zur Antwort.
In meinen Blickwinkel vielen zwei kleine Mädchen, die am Rand der ersten Reihe standen. Ich tänzelte mich zu ihnen hin und setzte mich anschließend in die Hocke. „Hallo ihr zwei. Alles klar bei euch?“, gab ich freundlich von mir. „Das ist ja fast wie ein Abenteuerland“, sprach das Mädchen aufgeregt. Sie hatte zwei blonde Zöpfe, trug dazu ein braunes Kleid und um ihren Hals hatte sie ein Lebkuchenherz auf dem Gretel geschrieben stand. Ich reichte meine Hand durch den Zaun um das Kind zu begrüßen, dass sie auch freundlicherweise annahm.
„Du bist sehr nett. Ich möchte dir was schenken, da du in meinem Lieblingsmärchen mitspielst“, sprach sie freundlich zu mir. Ihre Hände nahmen das Lebkuchenherz um ihren Hals und reichte es mir. Ich nahm es an und hängt es um meinen Hals.
„Dankeschön, das ist sehr freundlich von dir“, sagte ich im freundlichen Ton.
Mein Blick ging zu dem anderen kleinen Mädchen. Es hatte ein blaues Kleid an. Auf diesem war in geschwungener Schrift *Dreamteam* Aufgedruckt und in ihrer Hand hielt sie einen münzförmigen Dauerlutscher. „Und was ist mit dir?“, fragte ich sie mit einem Lächeln.
„Du bist doof“, gab es nur zur Antwort. Eigentlich wollte ich etwas darauf sagen, doch da hatte ich plötzlich den Lutscher im Mund.
„Na warte, Schwester. Niemand tut Gretel etwas an. Rache ist süß“, sprach das Mädchen mit dem braunen Kleid wutentbrannt. Das Mädchen rannte daraufhin ihrer flüchtenden Schwester hinterher.
„Nur in deinen Träumen“, antwortete diese, während sie wegrannte.
Ich stand wieder auf, winkte den Leuten lächelnd zu, wobei ich lieber den Lutscher angeekelt aus dem Mund genommen hätte.
Ein wenig schüchterner zeigte ich meine Zähne zusammen mit dem Lutscher. Jetzt fall nicht aus der Rolle. Das ist schlecht für die Unterstützung.
So ging ich getrieben von den Worten, die Stufen wieder hoch. Von überall schoss das Blitzlichtgewitter auf mich ein und meine Augen hatten am Anfang Probleme, sich an das krelle Licht zu gewöhnen.
Um den Zuschauern ein wenig mehr zu gefallen, fing ich an, mit den Haaren zu spielen. Das Klicken der Fotos wurde mit Fan Gebrüll begleitet. Ich hatte meine Sache hier gut gemacht, da war ich mir sicher.