„Setze dich deiner tiefsten Angst aus. Danach hat die Angst keine Macht mehr über dich und die Angst vor Freiheit schrumpft und verschwindet. Du bist frei."
- Jim Morrison-
„Was hast du ihr denn ins Ohr geflüstert?"
Nur ein warmes Lächeln brachte ich über meine Lippen. „Ich habe ihr gesagt, dass ihr Make-up verwischt ist."
„Aber aus welchem Grund?"
„Damit wir unter uns sind. Ich hatte dich schließlich während der Pause gefragt, ob du vor etwas Angst hast und darauf hast du mir noch keine Antwort gegeben."
„Ich wüsste wirklich nicht, wovor ich Angst haben sollte", antwortete er salopp, doch in seinen Augen konnte ich ein anderes Bild entdecken. Ein Bild, das immer noch aus Kälte und Unsicherheit bestand und die bittere Wahrheit verbarg sich dahinter, versteckt vor äußeren Blicken.
Er wollte jedoch nicht mit der Wahrheit rausrücken und so spielte ich das Spiel ein wenig mit, um das Eis zu brechen.
„Na gut. Wie wäre es denn mit dem Märchen Hänsel und Gretel?"
Ich trommelte währenddessen mit meinen Fingernägeln zur Klaviermelodie auf der Tischplatte herum.
Sein Blick flüchtete begleitet von meinem nervösen Trommeln wieder zu seinem Teller.
„Bitte. Lass uns einfach weiter essen", antwortete Hänsel beiläufig, jedoch sprachen seine zittrigen Hände eine andere Sprache. Zügig nahm er die Gabel und versuchte, sein Essen einfach weiter zu vereinnahmen.
Wie eine Chamäleonzunge schnappte ich mir seine Hand, hielt sie fest und gab ihm einen feurigen Blick, dem er sich nicht widersetzte. Er wirkte wenig überrascht.
„Du kannst nicht immer wieder vor etwas davonlaufen, sondern du musst dich auch mal deiner Angst stellen. Bitte. Tu es für deine Schwester."
Die Gabel rutschte aus seiner Hand und landete mit einem Scheppern im Teller, als ob es ein kleiner Urknall gewesen wäre, der sich zu unserem eigenen kleinen Sonnensystem gebildet hatte. Niemandem außer uns beiden schien dies aufzufallen.
Vorsichtig ließ ich sein Handgelenk wieder los. Sein Blick war auf den Teller gerichtet. Charles schnaufte niedergeschlagen durch die Nase.
„Jetzt kann ich es dir auch erzählen. Eigentlich wollte ich dich nicht mit meinen Sorgen überhäufen, aber dafür ist es jetzt zu spät."
Ich nickte, dass er weiter fortfahren sollte.
„Du kannst das nicht verstehen, aber meine große Schwester ist mit siebzehn Jahren von daheim verschwunden, als ich noch acht Jahre alt war. Das hat mich damals sehr getroffen und jetzt soll hier irgendjemand meine Schwester spielen, als sei damals nichts geschehen. Das geht doch nicht!" Seine Augen wurden daraufhin etwas feucht, er kämpfte gegen die Tränen an. Sein Gesicht drehte sich weg von mir: „Ach, verdammt noch mal ist das ..."
Ich reichte ihm meine Serviette: „Hier."
Ohne ein weiteres Wort nahm er diese an und wischte sich die Tränen damit ab.
„Das mit deiner Schwester tut mir leid und was das hier zwischen uns beiden ist, weiß ich auch nicht so genau. Ich hatte auch nicht vor, dich in Schwierigkeiten zu bringen", versuchte ich ihn zu trösten.
Sogleich fuhr ich fort: „Wenn; wenn du willst, kann ich dir etwas von meinem Leben und meinen Sorgen erzählen. Vielleicht hilft dir das weiter?" Charles nickte wortlos mit dem Kopf und so fing ich einfach an zu erzählen was mir gerade in diesem Moment einfiel: „Als ich zehn Jahre alt war, ist mein Kater gestorben. Mir ging es zu dieser Zeit nicht gut, da ich meinen einzigen besten Freund verloren hatte. Ansonsten hatte ich wenige Freunde. Wir sind nämlich damals nach Köln umgezogen. Ich dachte mir, wie soll das Leben weiter gehen? Jetzt, da ich meinen besten Freund verloren hatte. Zu dieser Zeit hatte ich mir meinen Kummer immer von der Seele gesungen. Egal was es war. Ein besonderes Lied hatte ich für mich und meinen Kater allein in meinem Zimmer gesungen. Ich wollte ihn für immer in meinem Herzen behalten."
Es kamen Bilder von meiner Kindheit wieder hoch. Auch die Bilder vom Kater waren wieder da. Der Moment, wo er beerdigt wurde, lief wie ein Film vor meinem inneren Auge ab, der jedoch unterschiedlich starke Farbfragmente hatte. Vor lauter traurigen Erinnerungen floss eine Träne über meine Wange. Mein Herz fing daraufhin an zu schmerzen. Der stechende Schmerz von damals kam wieder zurück und stach wie eine Nadel in mein Herz.
Ich schloss einfach meine Augenlider und fing an zu singen. Es war ein Lied über den Verlust von Menschen, Liebe, Einsamkeit.
Erinnerungen an die letzten Schuljahre, die ich alleine im Pausenhof mit einem Buch verbrachte, wurden noch intensiver, als ob ich mich wieder dort befinden würde. Ebenso wie ich daheim die Zeit mit meinem Kater verbracht hatte und ihm dabei immer das Lied vorgesungen hatte, während ich ihm ein wenig über das sanfte schwarze Fell gestreichelt hatte. Ich hatte mich damals gefragt, ob mich jemand vermissen würde, wenn ich mich einfach in Luft auflösen würde, doch diesen Gedanken hatte ich nie in die Tat umgesetzt.
Sosehr der Schmerz von damals wieder in mir loderte, so verging mit jeder Note, die wir uns dem Ende des Liedes näherten, irgendwann das Holz, das die Flammen in meinem Herzen am Leben hielten und so schließlich kurz vor dem Ende des Liedes nur noch Glut und Asche übrig war.
*
Ich öffnete wieder die Augen und erschrak durch das, was ich da sah. Charles' Mund war leicht geöffnet. Auch die anderen Personen im Saal hatten sich in meine Richtung gedreht, ohne etwas zu sagen. In dem Saal hätte man eine Stecknadel auf den Boden fallen lassen können und jeder hätte es gehört.
Meine Wangen glühten. Ich habe noch nie vor so vielen fremden Leuten gesungen. Aber Charles braucht mich jetzt und dafür musste ich mich nun den Ängsten stellen, um ihm zu zeigen, dass man weiter machen muss.
Ich stand somit vom Stuhl auf und verbeugte mich. Die Leute waren immer noch still und verfolgten stillschweigend meine Bewegung. Meine Hand reichte zu meinem Getränk, hob es langsam in die Höhe und prostete ihnen zu: „Gegen das Vergessen."
„Gegen das Vergessen", antwortete der Saal.
Kurz darauf fing jemand an zu klatschen. Mein Blick ging in die Richtung, in der die Hände zusammenkamen. Es war Charles.
Jemand anderes im Saal fing noch an zu klatschen und so klatschten immer mehr Leute. Schließlich applaudierte der ganze Saal. Ich verbeugte mich ein weiteres Mal und fügte schließlich noch hinzu: „Es war mir eine Freude, sie unterhalten zu können. Aber jetzt gebe ich wieder dem Pianisten die Show."
Der spielte daraufhin wieder weiter. Auch die Leute widmeten sich wieder ihrem Essen. Es schien, als wäre nichts gewesen.
Ich setzte mich wieder hin und führte das Gespräch fort.
„Das Leben zeigte mir aber, dass es auch wieder schöne Zeiten gibt. Nach dem Umzug fand ich durch die Schule im Ort neue Freunde. Ich hatte damals eine beste Freundin, die auch eine Katze hatte. So vergingen die Jahre und wir spielten immer zusammen. Sie ist bis heute meine beste Freundin. Eines Tages hatte die Katze Mädchen bekommen. Auch ich durfte mir eine Katze aussuchen. Ich nannte sie Sunny. Sie hatte weiße, rote und schwarze Flecken. Sunny lief ständig um meine Beine und benötigte mehrfache Streicheleinheiten. Wir wurden Freunde und dann ..."
„Sam."
Ich blickte in sein Gesicht und entdeckte ein freundliches Lächeln: „Du hast es für mich gemacht. Das habe ich gespürt. Jeder andere hätte die Situation, als dich die Leute angeschaut haben, genutzt, um Werbung für das Märchen zu machen. Sam, du hast aber nur an mich gedacht. Das zeigt deine wahre Größe."
Meine Wangen wurden daraufhin etwas warm und ich hoffte, dass das Make-up alles gut vor meinem Partner verbarg.
„Danke für das Kompliment."
Es vergingen Minuten des Schweigens, da niemand etwas sagte. Wir schauten uns nur glücklich an und aßen ein paar weitere Bissen.
Doch es war nicht dasselbe wie davor, es hatte sich so viel verändert zwischen uns in diesem Moment. Ich konnte dafür keine Worte finden: Irgendwie anders.
*
„Eine Frage hätte ich noch: Warum hast du eigentlich an deine Schwester gedacht, als wir bei den Balken waren?"
Charles schaute von dem Teller hervor: „Sie war sehr sportlich unterwegs. In der Turnhalle ist sie immer am Barren gewesen."
Ich blickte ihn nur an und nickte ab und zu mit dem Kopf.
„Auch hatte sie die große Liebe gesucht. Sie suchte sich immer neue Freunde, die dann nach ein paar Monaten wieder weg waren, und ja."
Ich schaute ihn etwas verwundert und überfahren an.
„Was meinst du mit und ja?", fragte ich ihn verwirrt.
„Du hattest mich doch gefragt, ob ich das Märchen Hänsel und Gretel kenne. Meine Antwort lautet: Ja, ich kenne es aber nur Bruchteile der Geschichte. Als kleiner Junge hatte ich immer Angst vor dem Märchen. Deswegen habe ich es nie komplett am Stück gelesen."
„Kannst du mir das vielleicht erzählen?"
„Es ist besser, wenn du so wenig wie möglich darüber weißt."
„A-aber warum?", fragte ich ihn. Meine Augen hatten mit Sicherheit etwas angsterfülltes. Er antwortete auf die Frage nicht, sondern schaute bekümmert auf sein Essen.
„Werden wir ...?"
„Es ist nicht so, wie du denkst, wenn wir alles richtig machen. Lass mich mit dem Anfang beginnen, dann sind wir da auf dem richtigen Weg. Ich werde dir dann sagen, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Aber denk bitte an folgende Worte: Du musst es tun, denn nur du kannst uns beide retten."
„Was muss ich tun und vor wem oder was muss ich uns retten?"
„Ich kann es dir nicht sagen. Denk einfach an die Worte, wenn wir im Märchendorf sind. Das ist alles, was ich davon weiß."
Ich vertraue Charles in diesem Punkt. Er scheint immerhin Bruchteile der Geschichte zu kennen. Aber aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, will er die Wahrheit über das Märchen vor mir verschweigen.
Wir aßen die Vorspeise auf. Als ich und mein Partner den Teller leer gegessen hatten, kam Xano wieder an den Platz.
„Und, ihr beiden Turteltäubchen? Hätte nicht gedacht, dass deine Freundin hier so gut singen kann", witzelte er, während er die Vorspeise abräumte.
„Äh, ... ich bin seine Schwester."
„Na und? Was spricht denn dagegen? So ein bisschen Liebe hat noch niemanden geschadet?", konterte Xano. Hänsel und Gretel schauten sich wie vom Blitz getroffen verlegen an.
„Hahaha - ihr Kinder von heute glaubt ja auch alles." Xano haute dem Jungen leicht in den Nacken, um seine Aussage zu verdeutlichen.
„Wer würde schon in dem Märchen Hänsel und Gretel nach wahrer Liebe suchen?", fragte er sich selbst kopfschüttelnd. Der Prinz mit den langen Haaren verließ daraufhin mit den abgeräumten Tellern den Platz.
Gesine kam kurz darauf zum Tisch mit der Nummer 6.
„Entschuldigt, dass ich so spät erscheine, in der Trainingshalle gab es ein Problem mit dem Schwimmbecken für die Meerjungfrauen. Das musste ich erst klären." Sie setzte sich wieder an den Platz.
„Habe ich was verpasst?", fragte sie verwundert, wobei sie eine Augenbraue leicht nach oben zog.
Wir mussten kurz darauf anfangen zu kichern. Charles beantwortete ihre Frage: „Gretel hat nur den ganzen Saal allein mit ihrer Stimme unterhalten." Die Frau hielt ihren seidenen Handschuh vor den offenen Mund.
„Ach Kindchen. Was machst du denn für Sachen?" Sie trank daraufhin einen Schluck ihres Weines. Als sie das Glas wieder hingestellt hatte, Lächelte sie charmant und fügte hinzu: „Aber ich wäre gern dabei gewesen."