„Das Leben ist ein Märchen: genau so grausam.“
-Erhard Blanck-
Der Speisesaal füllte sich in kürzester Zeit mit Menschen, die alle versuchten einen Sitzplatz zu finden. Wirre Gespräche, lautes Gelächter, rascheln von klapperndem Besteck vermischten sich und ließen alles hier wie eine Autobahnraststätte wirken. Der Geruch der verschiedenen Essen, welche von saftigen Rühreiern mit Speck bis hin zu honigsüßen Pfannkuchen reichte, erinnerte mich an die kurzen Urlaubstage, die ich mit meinen Eltern im Süden von Deutschland verbracht hatte.
Meine Eltern. Ich will endlich wieder heim und gleichzeitig nicht als Heulsuse vor den ganzen Leuten dastehen. Unterdrück deine Tränen und iss einfach.
So biss ich einfach in das Brot mit Käse hinein und versuchte meine Trauer etwas herunterzuschlucken. Langsam konnte ich den ersten Bissen hinunterwürgen und so tat ich es mit dem zweiten. Immer mehr rutschte das unangenehme Gefühl den Hals herunter und landete im Magen, der nur darauf wartete sich zu füllen. So langsam hatte ich das traurige Gefühl durch meinen Appetit ersetzt.
Nach wenigen Minuten hatte ich den kompletten Teller leer und so saß ich da mit einem kleinen Loch im Bauch. Neben mir saß ein dicklicher Junge, der einen Teller mit Toastscheiben und überbackenen Eieren hatte. Der Duft von warmen Toast und Eiern wehte in meine Nase und ließ meine Aufmerksamkeit auf das Essen von dem Jungen lenken. Alles um mich herum war weg oder bewegte sich sehr langsam. In diesem Moment gab es nur mich und das Essen. Meine Finger fingen an zu zucken und immer mehr lehnte ich meinen Oberkörper in die Richtung des Frühstückes.
„Trink doch noch deine Milch“, sprach Hera zu mir, die eine Hand an meiner Schulter hatte.
Mein Blick wanderte in die Augen von Hera.
„Entschuldige. Ich wollte eigentlich...“, versuchte ich mein Verhalten wieder zurecht zu biegen. Dann fügte sie noch hinzu: „Denk‘ bitte dran, dass wir noch in die Sporthalle gehen.“
„Ist gut“, antwortete ich mit einem leichten Lächeln.
Nachdem wir die Mahlzeit beendet hatten, gingen wir wieder zurück in den Flur, wo sich die Halle hinter der Glasscheibe befand.
Unsere Trainerin Hera betrachtete unsere Körper genau und lief um uns herum, bevor sie zu uns sprach: „Wir werden jetzt ein paar Übungen machen, um euch auf eure Rollen im Märchendorf vorzubereiten. Doch zuerst werdet ihr umgezogen. Kommt mit.“
Wenige Minuten später befanden wir uns in einer Umkleide. Diese erinnerte mich an meine Kindheit, als ich früher beim Turnen war und mich davor umgezogen habe. Wir wurden voneinander getrennt, da es dort zum Glück einzelne Umkleiden für Männer und Frauen gab. Ich war darüber froh, und doch war ich sehr nervös. Was uns wohl gleich erwarten würde?
So stand ich wenig später in der Frauenumkleide und wurde von zwei Mädchen in schwarzen Dienstmädchenuniformen begrüßt. Mir wurden die Kleider wenig später ausgezogen und ich bekam dafür einen schwarzen Trainingsanzug und passende Sportschuhe. Somit war ich für das Training bereit und machte noch ein paar Sprünge auf der Stelle, um mich aufzuwärmen.
Als ich durch die eiserne Tür hindurch ging, stand ich in einer riesigen Trainingshalle mit verschiedenen Trainingsgeräten. Das Quietschen von Sportschuhen war zu hören. Auf einer Seite konnte ich einen gigantischen Spiegel entdecken und gegenüber befand sich eine Glasscheibe. Das war die Turnhalle, die ich vorher gesehen habe.
Wir waren nicht die Ersten, die in dieser Halle waren, denn viele weiter Personen waren schon dort. Manche kämpften gerade mit Schwertern aus Holz, andere tanzten zu angenehmer Klaviermusik und mussten immer wieder bestimmte Bewegungen wiederholen, die fast schon etwas Hypnotisches an sich hatten. Ich schaute genauer hin und konnte zwei Füße in der Luft entdecken, die sich an mir falsch herum vorbei bewegten. Ich schüttelte meinen Kopf und sah dann ein Mädchen mit einem algengrünen Trainingsanzug, der ihr rotes Haar etwas versteckte. Aber wo sind denn die Beiden geblieben? Ich sollte mich weiter umschauen.
Unter all den Leuten konnte ich dann schließlich auch Hera entdecken, die sich in der Nähe eines Flurs zu befinden schien. Daneben stand schon Charles, der auch einen gleichen schwarzen Trainingsanzug trug wie ich. Ich war froh, etwas vertrautes zu entdecken und so machte ich mich auf den Weg zu den beiden.
Mein Herzschlag wurde schneller, da ich wusste, dass ich jetzt bei dem Training sehr gut fokussieren musste. Je mehr ich mitnehme, desto bessere Chancen habe ich es später im Märchendorf. Ja, es ist besser, wenn ich mitmache, dann kann ich eventuell später mir noch Gedanken um einen Plan für den Heimweg machen.
Kurz bevor ich die beiden erreichte, lächelte Charles. Er war erleichtert, als er mich erblickte. Auch meine Mundwinkel gingen von seinem ansteckenden Lächeln nach oben. Er war mein Partner und nur gemeinsam konnten wir das durchstehen. Wir mussten lernen, aneinander zu vertrauen und dieses Lächeln war der erste Schritt dazu. Das spürte ich.
„Schön, dass ihr beiden nun hier seid. Dann können wir ja jetzt mit dem Training beginnen. Ich werde euch nun zu den Laufbändern bringen", erklärte Hera mit einer leichten Vorfreude in der Stimme.
Wir verließen die große Halle durch den Flur und gingen in eine Nebenhalle. Dort befanden sich Laufbänder, die in den Boden eingearbeitet waren und immer wieder mit Wänden abgetrennt wurden. Somit konnte man nicht erkennen, was die andere Person neben einem machte. An der Wand waren schwarze Taucherbrillen angebracht. Von diesen gingen mehrere Leitungen an einen Computer, der auf einem Tisch in der Nähe des Laufbandes stand.
„Ich werde euch nun die Station vorführen“, sprach Hera. Sie nahm die schwarzen Taucherbrillen und setzte sich diese auf. Was mir erst jetzt auf viel, man konnte nicht hindurch sehen. Die flache Seite von der Brille war komplett mit schwarzen Kunststoff abgedeckt.
„Ihr werdet ein digitales Bild in der Brille sehen, welches euch wie echt vorkommen wird. Genauso wird sich das Bild mit eurem Blick mitbewegen, was alles noch einmal realer wirken lässt. Das alles wird von dem Computer erzeugt, an dem die Brillen angeschlossen sind. Wenn ihr nun die Brillen aufhabt, werdet ihr einen Pfeil erkennen können. Dieser zeigt euch den Weg zum Laufband“, erklärte Hera uns die Station, während sie auf eines der Laufbänder ging.
„Sind Sie bereit?“, ertönte eine Computerstimme aus dem Nichts.
„Ja“, antwortete Sie darauf und rannte los.
Ich beobachtete unsere Trainerin genau: Manchmal machte sie Sprünge, duckte sich weg oder schritt ein wenig nach links oder nach rechts.
Das ist sehr beeindruckend und etwas belustigend. Sie schien zumindest zu Wissen, was sie tut. Das ist gut. Damit können wir wertvolle Tipps erhalten.
Nach 10 Minuten blieb das Laufband stehe, Hera setzt daraufhin die Brille wie einen Motorradhelm ab und schüttelte etwas ihre blonden Haare, die sich wieder etwas über die Schulter legten. Eine Haarsträhne pustete sie sich aus dem Gesicht.
„Ihr habt jetzt gesehen, was passiert, jetzt seid ihr dran mit der Übung“, erklärte uns Hera freundlich, wobei ihr Blick über uns hinweg ging, als wären wir zwei Schaufensterpuppen, die billige Kleidung an hatten.
Charles ging zügig auf das linke Laufband, ohne mich weiter zu beachten, wobei er die Brille fest an sich drückte. Ich ging zum rechten Laufband und blickte in die Richtung von meinem Partner. Nur eine weiße Holzwand trennte uns voneinander. Doch es wäre mir lieber gewesen, wenn wir es gemeinsam gemacht hätten.
Bevor ich die Brille aufsetzte, begutachtete ich diese noch mal genauer. Nachdem ich diese dann doch aufsetzt hatte, konnte ich meinen Augen nicht trauen.
Wo bin ich denn in dem Waldgebiet gelandet? Ach ja, stimmt, das hatte Hera ja erklärt. Aber das sah aus wie die reale Welt. Ein paar Schritte vor mir war ein blauer Pfeil zu erkennen, der immer wieder auf den Boden zeigte.
Mit langsamen Schritten näherte ich mich dem Standpunkt, bis er schließlich verschwand.
„Sind Sie bereit?“, fragte eine Stimme. Ich stellte mich in einen sicheren Stand um besser zu rennen und bejahte die Frage. Der Untergrund bewegte sich erst langsam und wurde immer schneller. So nahm ich immer mehr Tempo auf.
Die Umgebung passte sich immer mehr einen zertrampelten Holzpfad an, den ich gerade bewanderte. Links und rechts neben mir war alles voll mit verwachsenen Bäumen und Büschen, deren Blätterwerk so eng zusammengewachsen war wie ein nagelneuer Wollpullover. Das Licht schien sich ein wenig durch die Baumkronen zu kämpfen und im Wald pfiffen die Vögel verschiedene Lieder.
Ein spitzer Ast kam auf der linken Seite zum Vorschein. Sofort drehte ich meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Geschafft! Ein Baumstamm, der wie ein Hochgeschwindigkeitszug auf mich zugerollt kam, konnte ich aus der Ferne beobachten. Fast hatte mich der Baumstamm berührt, sprang ich wie ein Pferd in die Luft und konnte nur noch die schleifenden, polterten Geräusche des Baumstammes hinter mir hörten, der einfach weiter zu rollen schien. Ich drehte mich wieder nach vorne, haarscharf sauste ein Ast an mir vorbei. Meine Augen blickten nach Oben, entdeckte einen Ast, sprang auf die andere Seite. Der Zweig bohrte sich in den Boden herein. Puh. Glück gehabt.
Ein Schrei eines Mannes war zu hören. Charles. Was hat er nur?
„Wenn ihr von etwas getroffen werdet, solltet ihr das ein wenig spüren. Die Anzüge sind besonders, denn sie können euch leichte Schmerzen geben. Ihr habt noch drei Minuten zu laufen“, sprach Hera viel zu ernst, als ob das ein nur ein Scherz sein sollte. Hätte Sie uns das nicht vorher sagen können?
Ein leichter Schmerz an der Schulter, brachte mich in die virtuelle Wirklichkeit zurück. Verfluchter Ast.
Mir lief der kalte Schweiß herunter. Ich merkte, wie meine Beine eigentlich nicht mehr wollten.
Doch ich biss meine Zähne zusammen, denn ich musste weiter machen.
Immer mehr Hindernisse stellten sich in meinen Weg. So musste ich springen, ducken und rennen immer öfter abwechselnd.
Am Ende des Waldes sah ich einen Fluss, doch dieser hatte nur ein paar Steine, die aus dem Wasser ragten. Am anderen Ufer konnte ich eine satte hellblaue Fahne erkennen, die in die wie eine Golffahne in den Boden gesteckt wurde. Der Stoff flackerte im unsichtbaren Wind. Was sollte das denn jetzt werden?
Als ich an den Fluss kam, merkte ich, dass die Geschwindigkeit des Laufbands weniger wurde. So musste ich früher springen, um auf den Stein zu gelangen. Wo ist der nächste Stein? Ah, dort ist er.
Bei dem ganzen Spiel hier musste man sich gut koordinieren um nicht ins Wasser zu springen oder zu fallen. Schließlich schaffte ich es somit durch alle Steine zu kommen, blieb beim letzten Stein hängen und fiel nach vorne in Richtung des Ziels. Als ich die Fahne mit meinem Oberkörper berührte, sah ich auf dem Bildschirm nun das Wort ENDE. Die Welt verschwand wieder und tauchte alles in Dunkelheit.
Mir wurde die Brille abgenommen und ich konnte in das Gesicht von Hera blicken. Sie versuchte mich anzusprechen, doch ich bekam nicht mehr viel von dem Rest mit, weil sich die Welt drehte. Meine Augen wurden immer schwerer.
„Sam“, hörte ich noch eine Stimme rufen, bevor sich die Welt in reale Finsternis verwandelte.