"Auch wenn ich vom Wege abkomme, versuche ich immer noch die schönen Blumen des Lebens zu pflücken."
-Rotkäppchen- (Gefangen im Märchendorf)
Charles und ich schauten uns immer noch an, bis Rotkäppchen etwas zu uns sagte. Allerdings verstand ich sie nicht und fragte aus diesem Grund etwas überrumpelt nach.
„Ich war gestern Abend auch bei dem Moderator. Das wird gleich im Anschluss ausgestrahlt“, wiederholte sie sich und hob etwas ihren Kopf. Hinter dem roten Stoff um ihren Kopf schauten die funkelten Augen hervor.
Ein Quietschen von einem Stuhl ließ mich zu meinem Partner blicken. Charles drehte sich wie ein verfolgtes Tier hin und her, beobachtete die Menschen, die nach und nach ihre Plätze verließen. Kurz darauf drehte er sich wieder zu uns und schüttelte den Kopf.
„Zum Glück ist die Dornenprinzessin weg. Ich habe schon freundlichere Pflanzen kennengelernt“, spottete er in den Raum.
Rotkäppchen zeigte in der Zwischenzeit mit ihrem Zeigefinger auf den großen Fernseher im Speisesaal. Der Moderator befand sich wieder in seinem weißen, bequemen Drehstuhl. Ihm gegenüber saß nun Rotkäppchen. Im Hintergrund hörte man die Leute erfreulich klatschen.
Bevor die Show losging, wollte sie uns noch schnell etwas erklärt:
Wir mussten uns versuchen, dort bei der Show zu verkaufen. Denn durch die Zuschauer konnten wir Hilfe erhalten, um schwierige Situation zu überwinden. Die Zuschauer stimmten dann immer wieder ab, werden Hilfe erhalten sollte. Unsere Aufmerksamkeit ging wieder zu dem Fernseher.
„Willkommen zurück, liebe Zuschauer. Wir haben heute die Ehre, eine weitere mutige Kandidatin kennenzulernen. Stell dich doch bitte den Zuschauern vor“, sprach der Moderator freudig und reichte dieser ein Mikrofon, das auf einem marmorfarbigen Tisch lag.
Die Kamera zoomte auf das Mädchen mit den roten Kleidern. Das Kind winkte und lächelte freundlich in die Kamera.
Dann fing es kurz darauf an zu sprechen: „Mein Name ist Rotkäppchen und ich bin 9 Jahre alt.“
Der Moderator nickte gut gelaunt mit seinem Kopf und führte das Interview fort: „Was weißt du denn über Märchen?“„Meine Eltern lesen mir immer Märchen vor, wenn ich Schlafen gehe“, erklärte sie dem Publikum, als ob dieses ihre beste Freundin gewesen wäre.
„Was ist dein Lieblingsmärchen?“, bat der Moderator das Mädchen weiter zu sprechen.
„Hm ...“, fing sie darauf hin an nachzudenken und schaute ein wenig Löcher in die Luft. „Eigentlich mag ich alle Geschichten gerne, die mir vorgelesen werden, da diese mich immer ins zauberhafte Reich der Träume schicken.“
Der Moderator drehte sich immer wieder hin und her. Die Füße von ihr waren jetzt etwas weniger zappelig als am Anfang jedoch schaukelten sie ab und zu noch.
„Welche Vorteile sprechen für dich in deiner Rolle als Rotkäppchen?“
Rotkäppchen schaute ihn überrascht an. Es schien als wollte sie anscheinend nicht darüber sprechen, doch sie hatte keine Wahl.
Wenn sie als Siegerin herauswollte, muss sie von den Zuschauern Unterstützung erhalten. Zumindest hätte ich das so gemacht. Darüber muss ich dringend mit Charles sprechen.
„Wenn ich ein Ziel habe, bin ich schwer davon abzubringen“, antwortete Rotkäppchen selbstsicher auf die gestellte Frage. Der Moderator war nun etwas lockerer. Er nahm einen Schluck Wasser und stellte das Glas wieder ab.
„Was machst du dann, wenn du mal vom Weg abkommst?“, fragte der Moderator wissensdurstig. Seine Augen leuchteten vor Freude und er lehnte sich mehr in die Richtung des kleinen Mädchens. Die Lautsprecher vom Fernseher gaben nur ein trockener Hustenreiz von jemanden im Publikum wieder.
„Auch wenn ich vom Wege abkomme, versuche ich immer noch die schönen Blumen des Lebens zu pflücken“, erklärte Rotkäppchen, während ihr strahlender Blick in die Kamera schaute.
Der Moderator schien sprachlos zu sein, da er verzweifelt versuchte, eine Frage oder passende Worte darauf zu finden.
Die Zuschauer fingen begeistert an zu klatschen. Rotkäppchen hüpfte vom Stuhl runter, machte ein paar Schritte in die Richtung der Zuschauer und verbeugte sich leicht, indem sie den Oberkörper nach vorne lehnte. Auch der Moderator erhob sich von der Stelle und legte vorsichtig eine Hand um das Mädchen, um sie wie eine Blume an sich zu schmiegen.
„Ich denke, wir haben uns alle ein Bild von dir machen können. Verabschieden sie sich nun zusammen mit mir von dieser kleinen Heldin. Sie hat einen Applaus und ihre Unterstützung redlich verdient.“
Rotkäppchen verschwand von der Bühne.
Der Fernseher wechselte daraufhin zum Standbild. Auf diesem war eine Fee abgebildet, die nach oben schaute. Ihre Beine waren angewinkelt. Die Farbe der Fee wechselte sich immer wieder ab. Unter dieser Märchenfigur war das Motto der Show abgebildet: „Es war einmal...“
Rotkäppchen war in der Zwischenzeit aufgestanden und eilte aus dem Speisesaal heraus. Mein Blick richtete sich wieder zurück zu meinem Partner, der gerade etwas nachdenklich mit seinen Fingern durch die Haare fuhr.
Die Zeit verfloss so langsam wie zähflüssiger Honig und irgendwann schien er meinen Blick zu bemerken.
„Was ist den Schwesterherz?“, fragte Charles in Gedanken. Er sprach das letzte Wort extra langsam aus, als ob er mit diesem Wort eine Gewisse freundschaftliche Distanz zwischen uns untermauern wollte.
Mein Kopf war verwirrt und ich versuchte meine verschwommenen Gedanken, die fest setzten, wie Fische im Netz.
So versuchte ich die aktuelle Situation neu zu Ordnen. Auch wenn wir nicht wirklich Geschwister sind, ist er neben Rotkäppchen anscheinend die normalste Person hier. Charles ist somit mein Anker an diesem verrückten Ort. Andersherum habe ich ihm nicht viel Halt geboten. Im Gegenteil. Gestern bin ich zusammengebrochen und er hat an meinem Bett gesessen. Irgendwas hat sich seit diesem Tag verändert - ich... habe ich vielleicht Gefühle für ihn? Nein, dass ist doch sicher Blödsinn, oder? Doch wie kann ich mir da sicher sein oder will ich mich nur erkenntlich zeigen, dass er mich anscheind immer wieder vor dem Wahnsinn rettet? Mein Blick ging wieder zu seinen geheimnisvollen Augen. Charles wartete auf eine Antwort.
„Ich möchte ehrlich zu dir sein, Charles. Du hast für mich so viel schon getan und daher möchte ich dir etwas zurückgeben. Leider weiß ich nicht was ich für dich tun kann. In mir tobt ein Sturm aus Angst und Hoffnung, wenn ich an das bevorstehende Märchendorf denke. Ich hoffe du kannst das verstehen“, versuchte ich meine kunterbunten, gemischte Gefühle in Worte zu fassen.
Er nickte nur Verständnis voll und fügte dann noch hinzu: „Es ist schon spät. Wir sollten auf alle Fälle das Training nicht verpassen. Ich möchte nicht, dass unsere zusätzliche Pause und damit die Freizeit vielleicht hinfällig wird.“
*
Als wir wieder vor der Trainingshalle standen, wartete Hera schon auf uns. Wir begrüßten sie, bevor unsere Trainerin etwas sagte: „Ich weihe euch jetzt in den Trainingsplan ein. Zuerst werden wir wieder auf das Laufband gehen und dort ungefähr eine halbe Stunde trainieren. Danach werdet ihr einen Parcours zusammen bewältigen mit einer anschließenden halben Stunden Pause. Heute Abend werden ihr dann zusammen Essen, um im Anschluss das Interview. Habt ihr noch irgendwelche Fragen?“
Ich verneinte die Frage, doch Charles hatte noch ein paar Fragen: „Warum tust du das eigentlich Hera? Was springt für dich dabei heraus?“
Heras Mundwinkel gingen leicht nach oben und formten sich zu einem Lächeln, was auf ihrem kalten Gesicht falsch aussah.
„Mir hat vorher noch niemand eine solche Frage gestellt. Aber ich werde sie trotzdem beantworten. Meine Arbeit hier ist es, euch zu dem Team zu machen, dass das Märchendorf am Ende gewinnen soll. Davon profitierten beide Seiten, da ich dafür eine großzügige Prämie erhalte und ihr zusammen das Preisgeld. Aber der Hauptgrund ist der, ich liebe die Arbeit mit den Teilnehmern. Es ist immer so schön zu sehen, wie wir alle drei zusammen geschmiedet werden, wie ein Eisen, was in den Flammen zu glühen beginnt. Da ihr die Ersten seid, die sich ein wenig für mich interessieren, gebe ich euch folgenden Rat und hört gut zu, denn ich sage es euch im Vertrauen: „Nur durch Mut, Teamfähigkeit, Wille, Kraft und vor allem durch Liebe lässt sich das Märchendorf gewinnen.“
Heute konnte ich Hera vertrauen, da war ich mir sicher. Denn ihr Gesicht strahlte etwas Erleichterndes aus, so als ob sie das schon länger uns sagen wollte.
Ich denke, sie hat wirklich Angst um mich. Meine Gedanken konnte ich während dem umziehen etwas ordnen. Charles und ich hatten wieder unsere beiden schwarzen Trainingsanzüge an. Als wir die Turnhalle betraten, konnten wir Aurora mit einem Prinzen tanzen sehen. Klassische Musik erfüllte den Raum.
„Was ist das nun wieder für ein Lied?“, fragte ich Charles mehr genervt, als ob ich wirklich darauf eine Antwort hören wollte.
„Das ist Clair de Lune von Claude Debussy. Zum Glück habt ihr ja mich, ansonsten wüsstet ihr gar nicht, was für ein toller Musikgeschmack die Reichen und Adeligen haben. Habe ich nicht recht, Schatz?“, erklärte die tanzende Prinzessin, die sich nun zu ihren Kumpanen wandte. Sie hörten beide daraufhin auf zu Tanzen.
Der Tanzpartner trug einen roten und stolzen Mantel. Sein weißes Hemd wurde mit goldenen Knöpfen zusammengehalten, die alle sicher und in Reihe und Glied standen. An seinen Schultern waren goldene Tressen angebracht. Er hatte blonde Haare und war etwas schlaksig.
Der Junge verbeugte sich vor uns und sprach dann: „Ich bin Vincent Weinstein. Schön, euch kennenzulernen. Meine Freundin habt ihr ja schon kennengelernt.“
Nach diesem Satz küssten sich die beiden liebevoll. Uns beiden stockte für eine Sekunde der Atem.
Moment! Dornröschen ist seine wirkliche Freundin? Dann lieben sie sich also wirklich. Laut Hera ist das ja ein wichtiger Teil, damit man das Märchendorf gewinnen soll.
„Wo seid ihr denn?“, fragte Hera, die am anderen Ende der Halle stand. Das war unsere Erlösung. Mein Blick löste sich von dem küssenden Paar.
Welche Chancen haben wir schon, wenn die Beiden sich wirklich lieben? Charles lehnte sich zu mir vor und flüsterte mir ins Ohr: „Dann müssen wir eben die anderen Elemente beherrschen. Wir müssen einfach ein unschlagbares Team werden. So wie echte Geschwister. Bruder und Schwester.“
Dieser Satz baute meinen Siegeswillen wieder etwas auf. Aber ich hatte auch gleichzeitig meine Bedenken. Wie sollen wir nur die Liebe besiegen? So viel wie ich wusste, ist die Liebe öfters siegreich. Und in den Geschichten kämpften nur die Bösewichte gegen die Liebe. Sind wir also in dieser Geschichte auch solche Bösewichte?
Der Gedanke daran ließ mich einfach nur erschaudern.