„Es war einmal ...“
-Das Märchendorf-
Der Ausgang führte uns zu einem Aufzug, der fast vollständig aus Glas bestand. Ich betätigte die Ruftaste neben den Schiebetüren und mit einem metallischen Schleifen öffneten sich diese.
Als wir kurz darauf im Fahrstuhl standen, gingen die Türen automatisch zu und das Glasgebilde fuhr langsam mit einem leichten elektrischen Surren nach oben.
„Schau mal dort hin, Charles“, äußerte ich meinem Partner und zeigte auf eine neue Welt, die sich uns hinter der Glasscheibe offenbarte.
Wir konnten ein umzäuntes Waldgebiet sehen. An den oberen Enden der meterhohen Zäune befand sich Stacheldraht und es hingen gelbe, dreieckige Schilder mit jeweils einem schwarzen Blitz in der Mitte, die vor Elektrizität warnten, daran. Leichte Nebelschwaden kamen aus dem Waldgebiet und verhüllten diese. Blaue Funken sprangen immer wieder vom Zaun weg in den milchigen Dunstschleier hinein.
Doch da war noch mehr, denn zwischen den Bäumen ragte ein Turm in die Höhe, so hoch, als wollte er den Nebelschwaden entkommen.
Wie eine Krone thronte auf dem Gemäuer ein kegelförmiges Dach, das mit blauen Ziegeln bestückt war.
Aus der Ferne konnte man einen kleinen, schlichten Marmorbalkon erkennen, der sich im obersten Stockwerk des Gebäudes befand, das aus hellen, verwitterten Steinen bestand.
Dieser Moment war beeindruckend und beängstigend zugleich.
„Das muss das Märchendorf sein", sprachen wir beide gleichzeitig, während wir dem Spektakel weiter zuschauten.
Kurz darauf konnte ich noch ein Reh entdecken, welches sich aus dem Wald wagte. Es war von dem Nebel fast umhüllt und senkte den Kopf Richtung Boden, als es beim Zaun angekommen war. Wahrscheinlich wollte es etwas fressen.
Panisch flogen Vögel in alle möglichen Richtungen aus dem Wald heraus, jedoch verschluckte der Glaskäfig dabei jedes Geräusch. Ein Wolf sprintete aus einem Gebüsch hervor und versuchte das Reh zu fassen. Es schreckte hoch und flüchtete wieder in den Wald.
Angriffslustig blickte der Wolf in den Nebel hinein, doch die Beute war verschwunden. Erfolglos trottete er in den Wald zurück.
„Wohlfühlsalon erreicht. Bitte steigen Sie aus."
Der Fahrstuhl kam daraufhin zum Stehen und die beiden Schiebetüren öffneten sich. Der Anblick, der darauf folgte, ließ mein Herz höherschlagen. Vor uns breitete sich ein einladender Salon aus, der in roten und goldenen Farben gehalten war. An den Wänden hingen Bilder von mittelalterlichen Burgen. In einer Ecke war noch ein Regal, welches fast überfüllt von gebundenen Büchern war. Der Raum wurde von einem Kronleuchter an der Decke beleuchtet.
Als wir uns in die Mitte des Raumes begaben, konnten wir einen Kamin sehen. Er befand sich hinter einer Glasscheibe.
Dennoch spürte ich die wohlige Wärme durch die Scheibe hindurch und neugierig betrachtete ich den Raum weiter.
In der Mitte des Salons war ein reichlich gedeckter Tisch und als Sitzmöglichkeit befand sich dort ein pfirsichrotes Sofa was an den Rändern mit goldenen, auf den Stoff genähten Quasten verziert worden war.
Auf der Tischplatte gab es eine schneeweiße Schüssel mit Gebäck sowie goldenes Geschirr und ein darauf abgestimmtes Teeservice. Ein Teelicht stand in einer gläsernen Halterung unter der Teekanne, das den Inhalt der Kanne warmhielt. Ein entspanntes Knistern erfüllte die Stille.
Piep. „Macht es euch bitte bequem und fühlt euch wie im Märchen", sprach die Computerstimme wieder. Piep. „Gesine wird euch dann in einer halben Stunde abholen."
Wir setzten uns auf das rote Sofa. Die Polsterung war sehr weich und ich fühlte mich wie im Paradies. Charles hob die Teekanne vom Feuerchen. Er befüllte daraufhin zwei Teetassen mit dem dampfenden Tee, dessen Farbe mich an den Sonnenuntergang erinnerte.
„Möchtest du noch etwas Zucker in deinen Tee?", fragte Hänsel. Ich nickte zur Bestätigung. Er reichte mir kurz darauf eine Tasse.
Ich bedankte mich, während meine Nase den angenehmen Geruch inhalierte. Mir wurde dabei ganz warm ums Herz und ich nippte langsam am Tee, der herrlich nach Zimt und Waldfrüchten schmeckte. Wir saßen so ein paar Minuten da, genossen den Tee und schauten in die entspannten Flammen hinter der Glasscheibe.
„Charles, ich möchte dir etwas mitteilen", unterbrach ich die Stille. Er schenkte sich daraufhin einfach nur eine weitere Tasse Tee ein und führte sie zu sich hin. Nun gut. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
„Hera meinte, dass wir das Märchendorf nur durch wahre Liebe gewinnen können. Dornröschen und ihr Freund lieben sich ja. Und wir beide ... nun ja. Wir sind ... wir sind beide nur ein Team."
Ich schaute ihn aus dem Augenwinkel an. Sein Blick war immer noch auf seine Tasse gerichtet. Plötzlich setzt er diese ab und nahm sich ein Stück Gebäck aus der weißen Porzellanschale. Mit langsamen Bissen aß er den Keks auf, ohne mich dabei auch nur anzuschauen.
„Und, da hatte ich so meine Bedenken, ... ob wir nicht die Bösewichte in dieser Geschichte sind? Das hat mich die ganze Zeit nicht in Ruhe gelassen." Mit gesenktem Blick schaute ich auf meine Tasse, die noch halb voll war.
„Ich weiß nicht, ob wir die Bösen in dieser Geschichte sind. Auch weiß ich nicht, ob es so etwas in dieser aktuellen Geschichte überhaupt geben wird. Was ich allerdings weiß, ist, dass uns dies alles die Zukunft zeigen wird."
Charles drehte seinen Kopf zu mir und sah mich mit seinen tiefen, rehbraunen Augen an.
„Es tut mir leid, dass ich dir nicht weiter helfen kann. Und selbst wenn wir die Bösen in dieser Geschichte sein sollten, versuchen wir das zu tun, was die Bösen am besten können ..." Charles hielt kurz inne und wartete auf eine Antwort von mir.
Was sollten denn die Bösen besser können als die Guten? Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Ich zuckte mit den Achseln.
„ ... den Guten zuvorkommen. Dafür haben wir aber hart an uns gearbeitet und uns unsere jetzige Pause verdient. Aber wie gesagt, ich kann dir deine Sorgen nicht nehmen."
Ich weiß nicht, was ich noch zu dem Thema sagen soll. Beruhigt haben mich die Aussagen nicht hundertprozentig, aber damit kann ich leben.
Mein Magen knurrte und zog leicht. Ich hielt meine Hände schützend vor meinen Bauch.
Es ist ja schon eine gefühlte Ewigkeit her, wenn ich da an meine letzte Mahlzeit denke. Vielleicht probiere ich auch einen Keks, wenn ich schon einmal im Wohlfühlsalon bin, dann kann ich mich ein wenig entspannen.
Also schnappte ich mir einen Keks aus der Schale. Auf diesem war mit Schokolade eine Fee gezeichnet worden. Kurz darauf hatte ich hineingebissen und sofort entfaltete sich ein Geschmack von Erdbeere in meinen Mund. Dieser war sehr frisch und hatte die schaumige Füllung des Gebäcks etwas Leichtes und Lockeres.
So musste es wohl im siebten Himmel sein. Verträumt blickte ich zu dem Bücherregal. Ich konnte von dem Sofa die Bücherrücken lesen und da fiel mir ein Titel besonders ins Auge. Er lautete: Eine zauberhafte Geschichte der traurigen Feen.
Das erinnerte mich an die Schrift, die an der Wand geschrieben ist. Mein Blick schweifte so schnell wie ein Blitz zu meinem Partner. Er versucht zwar, etwas lockerer zu wirken, doch sein Körper ist immer noch verkrampft. Was er wohl vorhin vor der „Brücke" hat?
Seine Augen funkelten immer noch etwas im Licht vom Kronleuchter. Hatte er etwa eventuell geweint, aber warum nur? War es etwa die Angst vor dem Märchendorf, die mich auch gestern bedrückt hatte? Und was sollte ich nun tun? All diese Fragen konnte ich nicht beantworten und doch schienen sie mich zu quälen. Das Einzige, was ich in diesem Moment tun konnte, war, das Gespräch zu suchen. Mir war nur nicht klar, wie ich das anstellen sollte.
Er hielt seine Hände um die Tasse Tee, um sie zu wärmen. Meine Hände schien wie von Zauberhand langsam seine etwas größeren Hände zu umschließen, die eine unangenehme Kälte verstömten. Vorsichtig umschloss ich diese, als würde eine Mutter ihr Kind in den Arm nehmen.
Für einen kurzen Moment wollte er sich daraus befreien, doch dann ließ er es zu. Nur sein Blick war immer noch leicht verängstigt.
„Sag jetzt nichts", erklärte ich Charles. Sein Blick blieb unverändert. Ich musste aufgrund der Situation schmunzeln, konnte aber noch ein Auflachen verhindern.
„Charles, wir sind wie Geschwister, zumindest in entfernterem Sinne. Auch wenn wir es nicht sind, mache ich mir dennoch Sorgen um dich. Du siehst aus, als hättest du vor etwas Angst?"
„Hänsel und Gretel, kommt ihr bitte mit mir. Die halbe Stunde ist um."
Wir drehten uns in die Richtung, aus der die Stimme kam. Es war Gesine, die am Eingang des Fahrstuhls stand. Sie hatte heute ein blaues Kleid an, welches mit verschiedenen goldenen Stickereien verziert war. In ihr Haar hatte sie eine blaue Blüte gesteckt. Dazu trug sie noch weiße Handschuhe.
„Gesine, schön dich zu sehen." Sie hob die weißen Handschuhe in die Höhe und winkte uns zu - sie drehte dabei immer wieder den Handteller hin und her, während die Finger starr waren.
„Ich hole euch zu eurem Abendessen und anschließenden Interview ab. Es wird ein luxuriöser und amüsanter Abend. So viel kann ich euch verraten."
Wir beide erhoben uns von dem Sofa. Kurze Zeit später standen wir im gläsernen Aufzug. Zwischen Hänsel und mir hatte sich Gesine gestellt. Mit leichtem Surren ging die Reise in die Höhe. Meine Augen linsten vorsichtig zu Charles hinüber, der seinen Blick nur auf das Märchendorf gerichtet hatte.
Anscheinend hatte ich bei ihm einen wunden Punkt entdeckt. Auch ich blickte noch mal auf das mächtige, beängstigende Märchendorf.