„Eine heiße Tasse Tee, ein Füllfederschreiber und ein wenig Papier. Mehr benötigt es nicht für eine gute Geschichte.“
-Der Geschichtenschreiber-
In der Zwischenzeit hatten wir Gesine alles im Groben erklärt, was vorgefallen war. Zum Glück ging es uns beiden mittlerweile etwas besser.
Gesine hingegen erzählte von ihrer Arbeit. Sie kümmerte sich um alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
„ ...auch bin ich für die Trainereinteilung zuständig, da jedes Märchen besondere Herausforderungen bei der jeweiligen Rollenverteilung hat", erklärte Gesine freundlich. Xano erschien kurz darauf wieder am Platz.
„Wusstet ihr eigentlich, dass dieser Tisch auch einen Spitznamen hat?", fragte Xano uns, während er das Essen verteilte.
„Da bin selbst ich überfragt, mein Lieber."
„Dann kann ich es euch ja erzählen: Der Geschichtenschreiber war hier immer essen. Wie jeden Tag bestellte er sich an diesem Tisch, mit der Nummer 6, das Mittagsmenü. Er war so verwirrt, ob er immer an Tisch 5 oder 6 saß, dass er den Tisch mit der Nummer 6 einfach 5¾ nannte. So konnte er es sich merken. Seit diesem Tag trägt der Tisch mit der Nummer 6 bis heute den Spitznamen 5¾."
„Der Geschichtenschreiber ist aber schon etwas merkwürdig. Wer nennt denn einen Tisch 5¾?", merkte Charles unterschwellig an.
„Das hört er gar nicht gerne. Er nennt es lieber künstlerische Freiheit", antwortete Xano ruhig, aber bestimmt.
Ich schaltete mich ein, da ich verstand, was der Geschichtenschreiber meinte: „Verstehst du das etwa nicht Charles? Das ¾ ist eine Anspielung auf das Buch Harry Potter. Da gibt es nämlich einen Bahnhof, der ein geheimes Gleis mit dem Namen 9¾ hat."
„Ach. Sagt mir das doch gleich", beschwerte sich Charles.
„Esst lieber, ansonsten wird das Essen kalt. Auch werdet ihr die Energie im Märchendorf benötigen", forderte Xano uns auf.
Xano hat recht. Charles und ich hatten schon längere Zeit keine richtige Mahlzeit mehr. Jetzt, wo ich nicht mehr durch das Reden abgelenkt war, spürte ich meinen leeren Magen deutlicher. Die Vorspeise hatte nur meinen Appetit angeregt.
Meine Augen überflogen den Teller, der mir gerade gereicht worden war. Dampfende Salzkartoffeln, über die noch ein paar Kräuter wie Rosmarin und Petersilie gestreut waren, präsentierten sich wie ein Kunstwerk. Die Lammkeule, deren Knochen hervorschaute, lag anschaulich nebenan. Der sogenannte Queller lag daneben. Es waren kleine grüne Spargelstangen, die m Meer reiften. Zumindest hatte uns das alles Gesine vorher erzählt. Sie waren bekannt für ihren frischen Salzgeschmack, aufgrund ihres natürlich hohen Salzgehaltes.
Langsam atmete ich den Geruch durch die Nasenflügel ein. Das Essen roch verführerisch.
„Dann wünsche ich eine gesegnete Mahlzeit, liebe Kinder." Wir erwiderten den Wunsch von Gesine und begannen zu essen. Vorsichtig nahm ich eine kleine Gabelspitze von dem Queller und führte sie zum Mund. Ich hatte das Gefühl, das ganze Meer im Mund zu haben.
Sein Geschmack war er sehr bekömmlich und nicht so salzig wie gedacht. Als Nächstes probierte ich die Kartoffeln zusammen mit dem Fleisch. Auch dies ließ meinem Mund ein leichtes Schmatzen entspringen. Es war ein Hochgenuss für meinen Gaumen.
Währenddessen schwang Gesine das Glas etwas und betrachtete den Inhalt im Kerzenlicht für ein paar Minuten. „Ich hatte euch noch gar nichts von dem Fantreffen erzählt", erzählte Gesine, bevor sie einen Schluck Wein trank.
„Was denn für ein Fantreffen?", fragten wir gleichzeitig.
„Das Fantreffen ist eine weitere Möglichkeit für euch, Unterstützung zu gewinnen. Das Ganze wird etwa eine halbe Stunde dauern. Dieses Fantreffen wird einer von euch schon während des Interviews machen", erklärte sie uns wie ein strenge Lehrerin.
„Was genau muss ich dann dort machen?", wunderte ich mich. In der Zwischenzeit hatte ich eine weitere Gabel von dem leckeren Essen gekostet.
„Nicht viel. Du musst nur einen guten Eindruck hinterlassen. Ein paar Fotos mit den Fans, Autogramme geben und Geschenke von den Leuten annehmen." Ein heiteres Lächeln lag auf ihren Lippen. Nachdem sie einen weiteren Schluck aus dem Glas genossen hatte, fuhr sie mit ihrer Rede fort: „Euch wird nichts passieren, da sich die Leute hinter einen Zaun befinden. Auch haben wir Sicherheitsfachkräfte organisiert, damit unseren Schauspielern nichts passiert."
Dieses Fantreffen war für mich eine gute Chance, um Charles zu unterstützen. Wir beide sind schließlich auf die Hilfe der Leute angewiesen, daher müssen wir uns dort von unserer Schokoladenseite zeigen. Charles musste das Interview überstehen und dafür brauchte er mich. Die Unterstützung war zwar nicht körperlich, doch ich würde immer an ihn denken.
Im Hintergrund hatte in der Zwischenzeit ein neues Musikstück angefangen, woraufhin Gesine zu schwärmen begann: „Ach wie schön. Rondo alla turca von Mozart." Sie nahm dabei beide Hände zusammen, als ob sie beten würde.
„Wusste ich doch, dass dir mein Vorschlag gefällt", rief Xano erheitert, der bei uns vorbeischaute. Über seinem Arm hatte er ein weißes Tuch gelegt und in der anderen Hand hatte er eine Weinflasche.
„Ist ansonsten alles zu eurer Zufriedenheit?", fügte er noch zu seiner Aussage hinzu.
„Wenn du schon hier bist, mein lieber Prinz, könntest du mir auch ein weiteres Glas Wein einschenken."
„Das bereitet mir keine Umstände, Gnädigste." Er verbeugte sich leicht. Danach richtete er sich wieder auf, ging zu Gesine und schenkte ihr ein weiteres Glas Wein ein. Mit dem Tuch trocknete er im Anschluss den Hals der Flasche ab.
„Wir beiden würden gerne auch noch etwas trinken", meldete sich Charles zu Wort. Er deutete dabei auf mich und danach auf sich selbst.
„Ich werde die Getränke zusammen mit dem Dessert servieren", erklärte Xano. Als alle fertig gegessen hatten, räumte er den Tisch mit der Nummer 6 ab.
Wenig später brachte er die Getränke sowie den Nachtisch mit. Der Nachtisch wurde in einem kleinen Gläschen serviert. Die Zitronencreme war in abwechselnden Schichten, die man durch das Glas beobachten konnte, mit dem Kirschkompott in das Gläschen gefüllt worden. Darauf wurde eine Zitronenscheibe in die Creme leicht eingetaucht, sodass 2/3 der Frucht noch herausschauten.
Der Löffel war mit einer goldenen, geschwungenen Schrift „Gefangen im Märchendorf" signiert worden. Behutsam nahm ich den ersten Löffel von der Creme zusammen mit dem Kompott und führte ihn zu meinem Mund. Der Geschmack, der sich ergab, war eine Explosion aus Süße und Früchten. Die Creme schmeckte süß und säuerlich, bildete aber einen guten Kontrast zu den fruchtigen Kirschen. Wie schaffen es die Köche nur, so leckeres Essen zu kochen? Ich bin immer wieder überfahren von dem guten Essen. Jeder Bissen ist hier ein Genuss.
In der Zwischenzeit unterhielten sich Charles und Gesine über das Interview. Ich konzentrierte mich auf die süße Nachspeise. Dennoch hörte ich dem Gespräch mit einem Ohr zu.
„Wie läuft das dann später ungefähr ab?", fragte Charles nach.
„Ich werde euch in die Lounge, die sich vor der Bühne befindet, begleiten", erklärte Gesine. In der Zwischenzeit nahm sie sich auch einen Löffel von der Creme. Dann führte sie ihre Rede fort.
„Danach wird Hänsel zur Maske gebracht. Gretel wartet dann in der Lounge, bis sie von Hera abgeholt wird. Im Anschluss macht dann jeder seinen Teil, wie bereits besprochen."
Die Zeit, bis alle den Nachtisch aufgegessen hatten verging ansonsten wortlos.
Irgendwann holte Gesine ihre goldene Taschenuhr heraus, schaute auf die Uhr und weihte uns in den Zeitplan ein: „Wir sind noch gut in der Zeit. Bis das Interview aufgezeichnet wird haben wir noch eine Dreiviertelstunde. Aber wir sollten uns langsam auf den Weg machen."
„Wollt ihr uns etwa schon verlassen?", fragte Xano. Es lag etwas leicht Enttäuschtes in seiner Stimme.
„Wir müssen, leider, mein Lieber...", antwortete Gesine, doch das mein Lieber war dabei fast so leise wie ein Schmetterling, der sich auf einer Blume niederließ. Xano half ihr beim Aufstehen. „Sehr zuvorkommend. Wie immer." Kurz darauf verabschiedeten sie sich mit einem kleinen Kuss auf die linke und rechte Wange.
„Bis morgen", antwortete Gesine mit einem warmen Lächeln. Auch Xano hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen: „Ich begleite euch noch zur Tür."
Wir gingen den mittleren Weg zwischen den Tischen hindurch. Als wir an der Tür ankamen, hielt uns Xano diese auf.
„Danke dass ihr uns besucht habt. Ich wünsche euch viel Glück, aber am Hunger sollte es sicherlich nicht scheitern, denn gestärkt seid ihr jetzt", fügte er am Ende mit einem Augenzwinkern hinzu.
„Vielen Dank für alles, Xano", antwortete ich fröhlich. Er ist eine nette Person und vielleicht sehen wir ihn später noch einmal sehen. Wer weiß das schon?
Kurz darauf machten wir drei uns auf den Weg. Charles musste ins Interview und ich musste mich dem Fantreffen stellen. Gesine führte uns durch die Gänge. Sie kannte sich bestens aus und musste nicht eine Minute überlegen, welchen Weg sie gehen musste.
Ein wenig später kamen wir in die sogenannte Lounge. Sie war in warmen Farben gehalten. Auch die Einrichtung sowie das Licht spiegelte eine geborgene Atmosphäre wider. In einer Ecke befanden sich gepolsterte Sitzmöglichkeiten. Davor war ein kleiner, weißer Tisch aufgebaut, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen. An der Decke war ein Flachbildschirm in einem schrägen Winkel montiert, sodass man von dem Sofa aus auf das Flimmerbild schauen konnte. Ein Kunststoffständer war in der Nähe des Sofas an einer Wand angebracht, in dem verschiedene Werbeflyer für die Show „Gefangen im Märchendorf" gelagert wurden. Ein Essensprogramm und sogar Fragen von Teilnehmern waren darin enthalten.
„Mach es dir gemütlich, bis Hera erscheint", forderte mich Gesine auf, die daraufhin ihren Blick zu Hänsel wendete. „Wir gehen noch mal schnell in die Maske." Sie schob ihn leicht in die Richtung, in der sich ein weiterer Abschnitt des Raumes befand.
Wenige Augenblicke später war ich alleine. Ich beschloss kurz darauf, zum Stand zu gehen, auf dem die Prospekte und Flyer lagen. Ein paar weitere Hinweise oder Information würden uns beiden sicher im Märchendorf helfen. Mit langen Fingern fischte ich mir Flyer aus dem Stapel heraus und ging wieder zur Couch, um sie zu studieren.
Ich kam an eine interessante Stelle. Dort wurden ein paar Fragen von ehemaligen Teilnehmern beantwortet.
~
F: Ich wunder mich, wie diese Schwierigkeiten im Dorf aussehen könnten? Weshalb gibt es diese Regel?
A: Diese Regel musste in das Regelwerk eingebunden werden, da wir die Teilnehmer und natürlich auch die Teilnehmerinnen auf jegliche Gefahrenquellen hinweisen möchten. Sollte jemand durch diese Tatsache verunsichert sein, machen Sie sich keine Sorgen. Das Leben selbst kann genauso gefährlich sein
z. B. wenn jemand über eine rote Ampel läuft, muss er mit einem heranfahrenden Auto rechnen. Haben Sie daher Angst vor dem Leben? Ein kleiner Tipp: Gehen Sie einfach über die Straße, wenn es grün ist. Wenn Sie sich an die Regeln halten, dann sollte Ihnen nichts passieren.
F: Darf man andere Märchen besuchen? Ich würde gerne Aschenputtel sehen.
A: Leider ist dies nicht gestattet. Ansonsten können andere Teilnehmer ihr Märchen nicht richtig fertig spielen. Wir bedanken uns aber für dein Interesse für Märchen.
F: Wie schafft ihr es, das alles immer so zauberhaft herzurichten?
A: Wir haben eine Antwort darauf: Magie.
~
Diese Tipps sind nicht gerade das, was ich mir erhofft hatte und auf das Essensprogramm von gerösteten Froschschenkeln bis hin zur klassischen Currywurst bin ich auch nicht sonderlich scharf.
Ich blickte ein wenig von dem unnützen Flyer auf, da ich leise Geräusche wahrnahm. Ein Schatten erschien am Eingang und eine junge Frau im Rollstuhl erschien.
Ihr ganzer Körper war vom Oberkörper bis zu ihren Füßen mit grünlichen Schuppen bedeckt. Wobei ihre Beine keine mehr waren, sondern durch einen Fischschwanz ersetzt wurden. Ihre Haare waren lang, rötliche und glatt. Ihre Augen funkelten wie grüne Smaragde. Die Haut war etwas hell, wirkte aber nicht zu blass.
„Darf ich mich dazu setzen?", fragte sie mich. Ich rutschte etwas zur Seite. Die Meerjungfrau schnallte sich ab und setzte sich geschickt auf das Sofa. Beim genaueren hinschauen konnte man die Muskeln unter den Schuppen erkennen. Auch ihre Arme waren mit leichten Muskeln überzogen. Sie schien von sportlicher Natur zu sein.
„Ich bin Sam."
„Ich bin Coralina."
„Das ist aber ein ungewöhnlicher Name", stellte ich fest. Sie strich ihr langes, rötliches Haar hinter die Ohrmuschel und schien etwas zu lachen.
„Ja, das ist eine lange Geschichte." Sie wurde von einem Geräusch unterbrochen und wir beiden blickten uns um.
Es war Charles, der wieder aus der Maske kam. Ich hatte ihn zuerst gesehen. Seine Frisur war wieder etwas gerichtet worden, ebenso wie der Rest seines äußeren Aussehens. Er war bereit für das Interview. Die Meerjungfrau drehte sich auch um und schaute in seine Richtung. Beide schauten sich erschrocken an, als ob sie ein Gespenst sehen würden.
Charles und Coralina wurden kreidebleich im Gesicht. Keiner sagte ein Wort. Mein Partner streckte schließlich langsam seinen Zeigefinger in Richtung von Coralina empor und fragte stotternd: „Wa-s machst d-d-du denn h-ier?"