Das Leben eines jeden Menschen ist ein von Gotteshand geschriebenes Märchen.
-Hans Christian Andersen-
Als ich meine Augen öffnete, wurde ich von etwas Hellem geblendet. So schnell ich konnte, schloss ich meine Augenlider reflexartig wieder und drehte meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung. So konnte ich dem hellen Störenfried aus dem Weg gehen.
Meine Wirbelsäule schmerzte etwas, da ich auf einer unangenehmen Unterlage zu liegen schien. Aber da wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nicht auf einer Unterlage, sondern auf dem Boden des mir zugewiesenen Zimmers mit der Nummer 205 lag.
Schwindel mischte sich etwas unter meine klaren Gedanken und hinterließ ein wenig Kopfschmerzen, die jedoch nicht so sehr hämmerten, sondern eher ein Unwohlsein wie ein Kreidequietschen hinterließen.
So ruhte ich mich etwas auf die Seite gedreht aus, bis ich mich dafür entschied, meine gesammelte Kraft fürs Aufstehen zu verwenden.
Ich hatte immer noch die Augenlider geschlossen und versuchte, den Schwindel etwas zu verdrängen, der meine Gedanken benebelte.
Da das alles zu nichts führte, beschloss ich aufzustehen, um das Zimmer zu erkunden. Langsam versuchte ich, mich aufzurichten, da ich aber Probleme mit meinen Beinen hatte, die sich wie Wackelpudding anfühlten, musste ich mir irgendwie anders weiterhelfen.
So blickte ich mich hilfesuchend im Zimmer um und bemerkte, dass es sehr altertümlich und bäuerlich eingerichtet war. Als ich gestern hineingetreten war, hatte ich vor lauter Angst nicht genau meine ärmliche Einrichtung begutachten können.
Der Lichtstrahl kam von einem kleinen Sprossenfenster, das wie durch ein Kreuz in der Mitte in vier kleinere Fenster eingeteilt war - doch es war vergittert.
Direkt neben dem Fenster, befand sich noch eine weitere Tür, die ein aufgemaltes Herz in der oberen Hälfte hatte. Vermutlich eine Toilette. Die schaue ich mir später an. Mit diesen Worte schaute ich mich weiter um. In der einen Ecke des Raumes befand sich ein einfaches dunkles Bett aus Holz. Die weiße Bettdecke, das Kissen und die Unterlage waren mit goldenem Stroh gefüttert, das an manchen Stellen vorsichtig herausschaute.
Ein alter, massiver, hölzerner Kleiderschrank stand in der gegenüberliegenden Ecke, der an manchen Stellen Flecken aufwies. In dem Regal daneben waren alte Kochbücher und Kinderbücher so eingeräumt, dass man den Buchdeckel erkennen konnte.
Auch eine hellgrüne Zimmerpflanze, an der ein wenig grüner Efeu herunterhing, war in dem Regal zu finden, die das Zimmer etwas mit Leben füllte. Dazwischen war an der Wand ein künstlicher Kamin eingebaut, der für zusätzliches Licht im Raum sorgte.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein viereckiger Holztisch mit einem Stuhl, der aus demselben dunklen Holz geschnitzt war. Mein Blick blieb daraufhin bei den Möbeln hängen.
Ich muss auf den Stuhl, damit ich mich in eine angenehme Position bringen kann. Mein Rücken bringt mich ansonsten noch um.
Ich hielt mich mit beiden Händen an dem Holztisch fest und zog mich hoch. Sobald ich oben war, schwang ich mein Hinterteil wie einen nasser Sack auf die Sitzfläche und pustete erst einmal die verbrauchte Luft aus. Das wäre geschafft.
Müde schaute ich auf die Tischplatte, in der Hoffnung, dort Essen und Trinken zu finden. Vor mir auf dem Tisch lag aber nur ein bedrucktes Stück Papier. Was da wohl draufsteht?
Daraufhin las ich die ersten Zeilen des Textes aufmerksam durch. Es handelte sich hierbei um einen Überblick über die Show Märchendorf. Diese Show heißt also Märchendorf, das ist schon mal gut zu wissen. Ich wurde des Weiteren für die Teilnahme an der Fernsehshow „Gefangen im Märchendorf" beglückwünscht. Ich las den nächsten Abschnitt des Zettels.
Folgende Regeln und Hinweise sind zu beachten:
- Das Gewinnerteam der Show „Gefangen im Märchendorf“ gewinnt eine Million Dollar und man darf auf alle Fälle wieder nach Hause.
- Das Ziel der Teilnehmer ist es, die Rolle in dem entsprechenden Märchen richtig fertig zu spielen. Sollten zu viele Fehler begangen werden, bekommt man als Team Schwierigkeiten.
- Sollten zu viele Regelverstöße oder Fehler während der Show auftreten, scheidet man aus.
- Man hat auch gewonnen, wenn man als letzte Rolle übrig bleibt.
- In den nächsten drei Tagen bekommt man ein persönlicher Trainer zur Seite gestellt, der einen in die entsprechende Rolle einlernen wird. Dieser holt die jeweiligen Teilnehmer immer von dem Zimmer ab und bringt sie auch wieder auf das Zimmer.
- Essen und Trinken gibt es morgens und nachmittags in den Trainingsräumen. Die Portionen und die Lebensmittel werden von dem jeweiligen Trainer bestimmt.
- Im vierten Tag werden die Teilnehmer in das Märchendorf gelassen, um dort die Rolle dann zu spielen.
- Viel Erfolg-
Ich schaute vom Papier weg, stand vorsichtig auf und öffnete die zweite Tür im Zimmer. Ein kleines Bad befand sich dahinter, in dem nur eine Person Platz hatte. Es war mit einem Plumpsklo ausgestattet sowie mit einem modernen weißen Porzellanwaschbecken. Angewidert betrachtete ich den Rest des Raumes. Es fanden sich noch Toilettenpapier sowie ein Stück Seife in dem Raum.
„Immerhin“, flüsterte ich zu mir selbst. Ich ging daraufhin erschöpft zum Bett, legte mich noch einmal hinein und schaute Richtung Decke, während mein Kopf auf dem Kissen sich ausruhte. Es war angenehmer als der kalte Boden.
Ich sortierte nochmal meine Gedanken:
Gestern wurde ich höchst wahrscheinlich entführt und soll in einer Märchenshow auftreten. Das ist ein gigantisches Problem, denn mit Märchen kenne ich mich nicht aus. Ich kenne einfach keine Märchen und was für eine Rolle ich spiele, weiß ich auch nicht. Aber nicht nach Hause zu können möchte ich auch nicht. Nein! Ich will nicht...
Immer schneller wurde meine Atmung, die ich mit kurzen Luftstöße zu bewältigen versuchte. Mein Herz pumpte wie wild in meiner Brust, die sich so anfühlte, als würde sie gleich von der Last erdrückt werden, die in ihrem Herzen ruhte.
*
Nachdem ich es irgendwann doch noch schaffte meine Atmung langsam wieder zu normalisierte, versuchte ich einen klaren Kopf zu bekommen. Ich sollte auf alle Fälle meinen Fokus auf das Training legen, denn nur so habe ich die Möglichkeit mitzuspielen und schließlich zu Gewinnen. Ein Klopfen an der Tür ließ mich aufschrecken und wenig später saß ich nun auf der Kante des Bettes.
Die Tür wurde daraufhin aufgeschlossen und zwei Frauen kamen rein. Eine davon war Gesine, die heute ein lila Kleid trug, welches im Gegensatz zu gestern sehr körperbetont war. Ihre blonden Haare waren wieder hochgesteckt und mit rosafarbenen Perlen verziert worden. Die andere unbekannte Frau war leicht muskulös, ihr Auftreten war dominant und schaute mich mit einem prüfenden Blick an. Sie hatte blaue Augen, die so blau und tief wie das Meer waren, was durch dunkles Make-up hervorgehoben wurde. Ihr strenges, junges Gesicht war ein Kontrast aus Hell und Dunkel, die blonden Haare gingen ihr zur Schulter und waren in einem Bob im Sleek Look geschnitten. Auf ihrem Kopf befand sich ein winziger tintenschwarzer Hut, an dem eine kleine rote Rose befestigt war. Dazu trug sie einen kohleschwarzen Anzug.
Gesine stellte mir die neue Frau vor: „Guten Morgen Sam. Das ist Hera. Sie wird dich in den nächsten Tagen auf die Rolle vorbereiten.“
Hera streckte mir daraufhin die blasse Hand entgegen. Ich nahm diese mutig an und sagte, dass mein Name Sam lautete. Sie erwiderte daraufhin die Begrüßung und nannte ihren Namen.
„Ich werde dich jetzt zum Fotografen bringen, aber vorher bringe ich dich noch zu unserer Trainingshalle, damit du einen kleinen Blick erhaschen kannst“, erklärte Hera nun etwas lockerer, behielt jedoch ihre angespannte Art bei. Immerhin werde ich informiert, wohin man mich bringt. Mir wurden daraufhin wieder die Augen verbunden. Nachdem die Augenbinde abgenommen wurde, staunte ich nicht schlecht, was ich zu Gesicht bekam. Vor mir war eine riesige Trainingshalle, die hinter durchsichtigen Glas gehalten wurde. Die Halle war mit vielen verschiedenen Trainingsgeräten, wie Böcken oder verschiedenen Bänken/Kästen ausgestattet. Dort führten gerade zwei Mädchen vor einer gigantischen Spiegelwand in schneeweißen Kleidern einen Tanz zusammen auf, drehten sich dabei immer wieder um die eigene Achse, durchaus sahen sie aus wie ein tanzendes Paar Vögelchen. Auf der anderen Seite der Halle wurde von zwei stattlichen Männer gefochten, die aber nur einen Degen in der Hand hielten und die andere Hand hinter den Rücken hatten.
„Gesine wird noch deinen Partner für das Märchendorf abholen. Danach können wir zum Fotografen“, erklärte Hera mir geradewegs Richtung Trainingshalle blickend. Meine Augen schauten wieder nach vorne. Mir fiel ein Stein von Herzen, dass ich dieses Abenteuer nicht allein durchstehen musste. Ich nutzte die verbliebene Zeit, um Hera nach ihrem Alter zu fragen, da sie doch viel jünger wirkte als Gesine.
„Wie alt bist du?“, fragte ich meine Trainerin. Hera drehte ihren Kopf und schaute mich mit ihren kalten blauen Augen an. Ein leichtes Lächeln bildete sich völlig unerwartet auf ihren Mundwinkeln, als ob sie über einen Witz schmunzeln musste: „Ich bin 21 Jahre alt.“
Ich nickte langsam, aber sicher zur Bestätigung und hörte auf einmal Schritte aus der rechten Seite zusammen mit einem aufschlagen einer Tür kommend.
Aus der Ferne konnte ich Gesine sehen, die zusammen mit einem Jungen händchenhaltend lief, der genauso wie ich vor kurzem die Augen verbunden hatte. Seine Haare waren kurze kastanienbraune Haare und waren in einem typischen Jungschnitt geschnitten. Die Figur war schlank, dennoch konnte ich leicht Muskeln erkennen. Er trug eine dunkelbraune Hose mit farblich passenden Hosenträgern und ein weißes Hemd darunter. Kurz darauf standen uns die beiden gegenüber. Gesine nahm daraufhin die Augenbinde ab und sprach: „So. Da seht ihr euch heute das erste Mal. Gebt euch doch die Hand zur Begrüßung.“ Der Junge reichte mir die Hand vorsichtig und ich erwiderte die Begrüßung mit einem Händedruck.
„Ich bin Sam“, sprach ich zu ihm und versuchte, meine Nervosität über die ganze Situation zu bewahren, mehr Sicherheit auszustrahlen. Er nickte nur daraufhin und erklärte, dass sein Name Charles lautet.
„Wir müssen nun zum Fotografen, damit wir Bilder von euch beiden haben. Danach gehen wir zum verdienten Frühstück“, äußerte sich Hera und löste damit die komische Situation auf. Was es wohl zum Frühstück geben wird?
Wir folgten ihr auf dem Weg zum Fotografen und waren nach ein paar Minuten in einem weißen Raum. Dort waren Scheinwerfer, Kameras und ähnliche Dinge sowie eine Leinwand aufgebaut.
„Morgen. Bitte stellt euch dort hin“, sprach der Fotograf, ein kleiner, unscheinbarer Mann mit einem schiefen Kinn, jedoch einem schicken, blauen Anzug. Als er uns bemerkte, zeigt er auf die Leinwand und so stellten Charles und ich uns auf den gezeigten Platz.
„Jetzt fasst euch an den Händen und schaut bitte etwas verängstigt“, erklärte er. Ich dachte an meine Eltern. Meine Eltern, die sicher schon vor Sorge sterben würden. Sie hatte nur mich und niemand anderen. Eine Träne lief mir über die Wange, während das Blitzlichtgewitter auf uns losgelassen wurde.
*
„Sehr schön und jetzt bitte lächeln als ob ihr gewonnen hättet“, sprach der Fotograf. Ein Finger fuhr mir über die Wange und wischte mir die Träne weg. Mein Gesicht drehte sich langsam in seine Richtung. Er antwortete auf meinen überraschten Blick mit einem nervösen Lächeln.
„Keine Angst. Ich habe schon eine Freundin“, erzählte er mir. Plötzlich müsste ich anfangen zu schmunzeln, als ob ich alles um mich herum vergessen würde. Nach weiteren Minuten ging der Fotograf zu einem Laptop, der in einer Ecke auf einem Tisch stand und betrachtete sich die Bilder mit folgenden Worten: „Die sind gut geworden. Ihr könnt jetzt gehen.“
„Gehen wir zum Frühstück“, erklärte Hera.
Wir drei machten uns auf in Richtung der Mensa, wie uns Hera berichtete. Wir gingen durch zwei riesige Pforten, um in die riesengroße Mensa zu gelangen. Hunderte von Menschen schätzte ich, liefen in einer Schlange zum Buffet, was sich in der Mitte des Raumes befand. Außenrum waren verschiedene Tischreihen mit edlen Kunststoffstühlen oder Bänken angelegt worden. An der gegenüberliegenden Wand war ein riesiger Bildschirm angebracht.
„Ihr dürft euch heute nur zwei Brotscheiben nehmen und dazu zwei Stücker Käse“, sprach Hera zu uns. Nachdem wir endlich das Büffet hinter uns hatten und einen freien Platz fanden, begannen wir mit dem mageren Essen, was dennoch auf Grund des Hungers nicht schlecht schmeckte.
„Was läuft denn da im TV?“, fragte Charles. Nachdem Hera ihren Blick auf den Bildschirm gerichtet hatte, antwortete sie, dass dort die Sendung „Gefangen im Märchendorf“ läuft. Der Moderator, der ein roter Anzug trug, lief auf die Bühne und begrüßte die Zuschauer.
„Mal sehen welche Märchen wir dieses Mal verfolgen dürfen und natürlich stellt sich auch die alles entscheidende Frage, wer denn die eine Millionen bekommt?“
Das Publikum klatschte Beifall. Das Bild wechselte und nun waren 5 verschiedene Bilder zu erblicken.
„Wir haben insgesamt 5 Märchen: Rotkäppchen, Dornröschen, die kleine Meerjungfrau, Rapunzel und zum Schluss Hänsel und Gretel.“
Nun tauchten alle Bilder von den Teilnehmern aus. Auch wir waren zu sehen, und zwar an fünfter Stelle. Das Mädchen, was im gleichen Raum mit mir war, befand sich an der vierten Stelle zusammen mit einem schwarzhaarigen Jungen. Was mir auffiel, jedes Mädchen war mit einem Jungen zusammen. Was ist das nur für eine Show? Bei dieser ganzen Sache wurde mir immer unbehaglicher zumute.