„Wer gewinnen will, muss auch gut essen.“
-Xano, „der Prinz mit den langen Haaren“-
Bevor wir uns in den Speisesaal begeben konnten, wurden wir noch für das Dinner fertig gemacht. Die Dienstmädchen wuschen und schminkten uns und kleideten ein, doch ich war keineswegs darüber verärgert, denn so konnten wir immerhin den salzigen Schweiß von der Haut waschen.
Gesine wartete in der Zwischenzeit auf uns vor den Umkleiden. Als ich aus dieser heraustrat, blickte sie gerade von ihrer vergoldeten Taschenuhr auf. Hänsel war noch nicht anwesend.
„Gretel, schön siehst du wieder aus.“ Gesine seufzte und faltete die Hände vor ihre Brust. „Die Zuschauer werden entzückt sein von deiner Rolle, die dir einfach auf den Leib geschnitten ist. Dieses Natürliche und Ärmliche.“
Sie zog leicht an meiner weißen Haube. Wie eine Plastik stand ich da und hatte beide Hände vor meinen Rock zusammengefaltet. Während ich auf Charles wartete, wippte ich leicht auf der Stelle und schaute auf die beiden rötlichen Türen zur Umkleide. Davor hingen hölzerne Schilder an Ketten von der Decke, auf denen entsprechend eine männliche und eine weibliche Fee abgebildet waren. So vergingen ein paar Minuten, die wir beide, ohne uns zu unterhalten, verbrachten.
Die Tür öffnete sich schließlich und Charles stand wieder in Bundhose und weißem Hemd da. Seine Haare waren leicht zur Seite gekämmt worden und wirkten dadurch geordnet. Das Kinn war etwas lockerer und die Mundwinkel wirkten nicht mehr wie Reißzähne eines Hundes, der sich in etwas verbissen hatte. Doch seine Augen schauten nur Löcher in die Luft. Er stellte sich mit seinen Händen in den Hosentaschen neben mich hin.
Irgendetwas scheint ihn die ganze Zeit zu beschäftigen. Wie sollen wir das hier alles überstehen, wenn mein Partner nicht bei der Sache ist? Uns würde es sicherlich dort wie dem Reh ergehen, dass wir fast von einem wilden Wolf gefressen werden. Da bin ich mir sicher. Doch das war nicht das einzige Problem, das mich seit Stunden plagte, da ich nichts über Märchen wusste. Was beschäftigte ihn nur so, dass er mich und Gesine einfach wie Luft behandelte? Wenn ich ihm etwas über das Märchen und alles erzählen könnte, aber ... Das ist es: Weiß Charles etwas über das Märchen, das wir spielen sollen? Wird es nicht gut für uns beide enden und will er gleichzeitig, dass ich mir deswegen keine Sorgen machen muss?
Ich rieb leicht meine Stirn, da mich die Fragerei noch mich um den Verstand brachte.
„Gretel, kommst du jetzt endlich?“
Hänsel und Gesine standen schon am Ende des Flures, bevor dieser eine Kurve nach rechts einschlug. Anscheinend hatte ich nicht mitbekommen, dass sie schon vorgelaufen waren. Ich folgte dem lilafarbenen Teppichboden, der von vergoldeten Lampen an den Seiten gut erleuchtet wurde.
Insgesamt war es hier edler und luxuriöser als in den normalen Bereichen, die wir bis jetzt betreten hatten. Ausnahme stellte der Raum dar, in dem ich am Anfang aufgewacht war. Ich beschleunigte meine Schritte und so holte ich die beiden ein. Zügig machten wir uns zusammen auf den Weg, denn es winkte die wohl verdiente Mahlzeit.
Wie es wohl schmecken wird? Ich malte mir die leckersten Mahlzeiten schon aus.
Wir mussten noch um ein paar Ecken, bevor wir das Ziel erreichten. Eine kleine Halle führte uns zu einer gewaltigen, zweiseitigen Glastür, die sich wie ein Tor vor uns erhob. Über dem Eingang um den Torbogen war ein Schriftzug in einem goldenen Lettern angebracht: Zum süßen Brei.
Darunter hing ein verknitterter Zettel mit Edding beschriebenen Worten: "Hier haben Fans keinen Zutritt, auch wenn sie immer wieder anfragen!"
Links und rechts daneben standen zwei Engelsstatuen aus Marmor, die gerade Trompeten in den Händen hielten. Von außen konnte man durch die Glastüren ein paar tanzende Schatten beobachten. Ein Meer, welches aus Stimmen und klirrenden Besteck bestand, drang zu uns hindurch.
Gesine stolzierte zur Schiffsglocke, die sich neben der Tür befand, zog an dem Seil und die Glocke läutete. Ein Mann, wahrscheinlich ein Kellner, öffnete uns die Tür. Er trug einen schwarzen Anzug zusammen mit einem weißen Hemd und einer schwarzen Fliege.
Weiße, elegante Handschuhe schauten aus dem Ärmel hervor. Seine glatten, langen, blonden Haare reichten ihm bis zu seinem Steißbein.
„Oh. Besuch. Tretet doch ein in die gute Stube und ich heiße euch Zum süßen Brei herzlich willkommen.“ Er verbeugte sich daraufhin und mit einer eleganten Handbewegung deutete er, dass wir ihm folgen sollten. Seine Haare bewegten sich beim Gehen leicht hin und her. Während wir dem Bediensteten folgten, genoss ich die würzigen Gerüche, die in der Nase kitzelten. Ein leiser, unterdrückter Seufzer sprang über meine Lippen und so beschloss ich, meine Neugierde und den Hunger etwas zu lindern, indem ich mich ein wenig umschaute.
Das Lokal war gut besucht und mit runden Tischen fast komplett vollgestellt worden. Nur in der Mitte war noch ein Gang frei, um den Gästen das Essen servieren zu können. Auch konnte so die Kundschaft das Restaurant betreten, ohne dabei jemandem auf die Füße zu treten. Die Tische waren mit weißen, seidenen Tischdecken überzogen und fein gedeckt worden. Das Geschirr glänzte im Kerzenschein, da jeder Tisch eine Kerze besaß. Der Raum war insgesamt in einem angenehmen, warmen Farbton gehalten. Kurz darauf wurden wir von dem Kellner an den Tisch mit der Nummer 6 gebeten.
„Jeder Teilnehmer darf vor dem wichtigen Interview hier etwas essen ebenso wie die Mitarbeiter der Show. Das Menü ist für euch heute kostenlos“, erklärte er.
„Mein Name lautet im Übrigen Xano. Ich bin für heute Abend euer Kellner“, sprach der Mann weiter und zog daraufhin vorsichtig einen Stuhl zurück.
„Bitte setzt dich, Gretel.“
„Danke schön.“
Xano führte den Stuhl wieder nach vorne und ging danach zu Gesine, die sich schon neben einen Stuhl gestellt hatte. Auch hier führte er die gleiche Prozedur durch.
Als Gesine auf dem Stuhl saß, meinte er nur: „Teilnehmerin vor Schönheit.“ Gesine musste daraufhin anfangen zu kichern.
„Ach, Xano“, antwortete sie gackernd wie ein Huhn. Ich lachte leise mit, doch Charles schien sich nicht wirklich anzuschließen.
„Vielleicht solltest du lieber noch den Teilnehmer an den Platz begleiten.“ Kurz darauf saßen wir alle am Tisch. Er teilte noch die Karte für das Menü aus und entzündete die Kerzen.
„Ich komme gleich wieder mit etwas zu trinken.“ So verschwand er und ließ uns allein. Mein Blick wanderte über die Karte.
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~Vorspeise~
Austern mit Spargel-Vinaigrette
~Hauptgang~
Lammkeule mit Queller und Kräuterkartoffeln
~Dessert~
Zitronencreme mit Kirschkompott
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Ich hatte zwar noch nie Austern oder Queller gegessen, dafür liebte ich aber Spargel über alles. Nach so langer Zeit endlich wieder eine ordentliche Mahlzeit darauf freute ich mich schon.
„Ich hoffe, Xano gefällt euch. Er war schon immer ein lustiger Kerl. Seit er hier arbeitet, wird er auch von manchen Mitarbeitern -Der Prinz mit den langen Haaren- genannt.“
„Er macht einen netten Eindruck. Ich hoffe aber, dass er bald mit den Getränken erscheint. Ich habe nämlich Durst wie ein Bär“, äußerte Charles mit einem leichten Augenzwinkern, während er dabei auf sein leeres Glas schaute. Mit seiner rechten Hand nahm er den Stiel des Glases und schob dieses etwas ungeduldig hin und her.
„Er wird sicher gleich kommen. Ach ... Übrigens, wie ihr sicherlich wisst, wird das Interview im Fernsehen übertragen. Es gilt, nicht nur einen guten Eindruck bei den Zuschauern zu hinterlassen, sondern ihr könnt dadurch auch Unterstützung erhalten“, berichtete sie uns, während sie uns beide abwechselnd anschaute. Ich versuchte, dabei aufmerksam zu lauschen und beugte mich etwas vor, damit ich alles gut verstehen konnte und führte die Diskussion fort: „Wie genau können uns denn die Zuschauer unterstützen?“
„Es geht um die gespielten Rollen im Märchen, wie gut diese dem originalen Märchen nahekommen. Wenn ihr einmal nicht weiterwisst, dann können die Zuschauer euch unterstützen, wenn sie für euch abstimmen. Wie genau das alles funktionieren wird, müsst ihr gar nicht wissen, doch einen wertvollen Tipp kann ich euch geben; Je mehr ihr den Zuschauern ein Leuchten in die Augen zaubert, desto mehr werdet ihr unterstützt. Also bringt die Zuschauer dazu das Feuer der Leidenschaft zum Märchen zu ...“
Gesine wurde von einem Klavierspiel unterbrochen. Sofort wendeten sich die meisten Gäste im Saal zum Klavier, das sich in einer Ecke des Saals befand.
Eilige Schritte, die trotz des leichten Lärmpegels zu hören waren, näherten sich. Ich schaute mich um. Es war Xano, der ein Tablett mit Glasflaschen brachte.
„Hier bin ich mit den Erfrischungen wieder“, sprach er leicht schnaufend. Er schenkte mir zuerst etwas ein.
„Vielen Dank.“
Danach bekamen die anderen beiden ihre Erfrischungen. Der Prinz mit den langen Haaren verließ daraufhin den Tisch. „Ich besorge mal die Vorspeise.“
Mein Blick richtete sich auf den Inhalt des Glases. Es schien Apfelsaft zu sein. Gesine hatte einen Weißwein eingeschenkt bekommen.
„Bevor die Vorspeise kommt sollten wir auf euch, Hänsel und Gretel, anstoßen?“
Ich schaute Charles an und war positiv überrascht, dass er so entspannt war, wie ich ihn hier kennengelernt hatte. Auch ich hatte meine Sorgen etwas zur Seite geschoben. Die beruhigende Musik schien ihre Wirkung zu entfalten.
Wir prosteten uns zu und dann nahm ich einen großen Schluck aus dem Glas, das tatsächlich mit Apfelsaft gefüllt war. Die Minuten vergingen schweigend, bis Xano mit der Vorspeise erschien.
„Hier ist die Vorspeise: Austern mit Spargel-Vinaigrette und denkt dran: Wer gewinnen will, muss auch gut essen.“
Mit diesen Worten schritt er majestätisch zum nächsten Tisch um sich um die anderen Gäste zu kümmern. Ich schaute auf mein Essen. Es waren kleine Spargelspitzen, die in einer Art kalten Soße eingelegt waren. Die Muscheln waren schon geöffnet und im Inneren der Muschelschale war das essbare Muschelfleisch.
„Man sagt sich, dass Casanova jeden Abend davon gegessen haben soll. Aber ob das nur Volksmärchen sind? Zumindest habe ich ihn noch nicht in unserer Show gesehen“, erklärte und witzelte Gesine mit einem heiteren Lächeln. Nur ein zaghaftes Lächeln brachten wir hervor, bevor wir uns wieder auf das Essen konzentrieren. Ich nahm die äußerste Gabel, sowie das Messer. Ich konnte ein wenig von dem Spargel auf die Gabelspitze schieben und führte sie zum Mund. Der Geschmack des Spargels war umwerfend.
„Hmm...“, murmelte ich. Charles schien es zu schmecken, da auch er ein leichtes Schmatzen hören ließ. Die Austern probierte ich als Nächstes. Die Muscheln waren zum Glück ausgelöst und so kaute ich genüsslich auf dem etwas glitschigen Essen herum, das aber einen angenehmen Geschmack im Mund hinterließ.
Gesine richtete wieder die Aufmerksamkeit auf sich: „Wisst ihr schon, wer von euch zum Interview geht? Es kann nämlich nur einer hin gehen.“
„Ich werde gehen“, antworte Charles niedergeschlagen. Ich fühlte mich von seiner Aussage vor den Kopf geschlagen. Er kann doch in seinem Zustand die Leute nicht von sich überzeugen? Denn er hat keinen sicheren Eindruck auf mich in den Stunden davor gemacht. Ich muss in Ruhe mit ihm reden.
Ich lehnte mich leicht zu Gesine und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Daraufhin nickte sie und erhob sich vom Stuhl.
„Entschuldigt mich bitte. Ich bin gleich wieder da.“
Somit waren wir allein. Genau das hatte ich geplant, um Charles endlich zur Rede zu stellen.