„Im Herzen des Taifuns könnte ein Kind schlafen.“
-Aus Japan-
Langsam öffnete ich meine Augen und merkte, wie ein milchiger Schleier meine Sicht bedeckte. Schwer wie Blei fühlten sich meine Augenlider an, leichter Schlafsand kitzelte in meinen Augen. Es dauerte noch ein wenig bis ich meine Augen richtig öffnen konnte.
Über mich beugte sich gerade Charles - genauer gesagt sein Kopf lehnte ein wenig über meinen. Anscheinend musste ich mich liegend in einem Bett befinden.
„Was ist passiert?“, fragte ich ihn noch völlig benommen, während meine kalten Hände sich auf einer sanften, dünnen Bettdecke ausruhten.
„Sam, du bist in der Halle plötzlich umgekippt. Aber jetzt ist alles wieder gut. Du befindest dich zurzeit im Krankenzimmer“, erklärte er mir, wobei seine Stimme sehr erleichtert klang.
Meine Augen wanderten durch die unbekannte Umgebung und da wurde mir bewusst, dass das Krankenzimmer klein und farblos war. Das gespenstische Neonlicht an der Decke, sowie die weißen, kargen Wände im Raum wirkte alles auf mich sehr bedrückend und unnatürlich. Kalte Schränke aus Metall, die sich an den Wänden befanden und mit Medikamenten sowie alle mögliche Gerätschaften der Medizin gefüllt waren. In der Mitte des Raumes befand sich mein Krankenbett. Auch die Geräusche waren so still als würden wir uns auf einer Trauerfeier befinden.
„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte ich ätzend während meine Lippe sich rau und zerbrechlich anfühlte.
Charles betrachtete mich weiter und antwortete: „Du warst insgesamt 2 Stunden außer Gefecht. Die Krankenschwester hat dich gut versorgt. Sie meinte, dass du für heute kein Sport mehr brauchst und dich im Zimmer ausruhen solltest.“
„Ich muss mich einmal ein wenig bewegen“, erklärte ich ihm und versuchte aufzustehen. Er half mir dabei, dass wir es sogar gemeinsam zur Tür geschafft hatten.
Das war sehr nett von ihm, doch ich hatte das Gefühl, ich müsste mich bei ihm wieder revanchieren. Aber ich weiß nicht wie. Ich spiele hier irgendwie nur die Nebenrolle, während er sich um mich abkämpfen musste – so als ob ich uns nur dran hindern würde im Training voran zu kommen. Obwohl ich versuchte mich etwas hilfreicher anzustellen, konnte ich nichts Passendes finden, was ich ihm hätte sagen oder geben können. Es musste wohl oder übel noch warten.
Als wir in einem noch kälteren Gang standen wie das eigentliche Krankenzimmer, versammelte sich dort unter den paar Leuten, auch unsere Trainerin. Sie trug immer noch ihre dunkle, kohleschwarzen Kleidung und war dadurch von den Ärzten und Krankenschwestern mit ihren zahnweißen Mänteln abgehoben.
Hera blickte zu uns und ihre Wangenknochen gingen leicht nach oben. Ich konnte ein wenig Erleichterung in ihrem Blick lesen. Denn noch machte sie sich in einem starren und kontrollierten Gang auf den Weg zu uns.
Als Hera uns erreichte, wollte ich ihr die Hand hinreichen, damit wir uns die Hände schütteln konnten. Allerdings wurde ich überrascht, denn sie fing an mich stattdessen zu umarmen. Ich sank tief in die Umarmung als ob ich ein sinkendes Schiff wäre und spürte, wie ihre Haarspitzen sich ein wenig in meinen Haaren verfingen.
„Ich hoffe, es geht dir soweit gut?“, flüsterte Hera fast schon aufgelöst mir direkt ins linke Ohr. Damit ich die Frage beantworten konnte, mussten wir uns voneinander lösen. Die Frage konnte ich nur belächeln.
Ob es mir gut geht? Zuerst wurde ich gefangen genommen und sollte ein Training durchlaufen. Später dann im Märchendorf sollte ich mit einem fremden Jungen zusammen ein Märchen nachspielen, welches sich als Fernsehsendung herausstellte und nun wurde ich von Hera gefragt ob es mir gut ging. Man musste mich für verrückt halten.
„Wie geht es nun heute mit mir weiter?“, fragte ich Hera irgendwann, um die darauffolgende Stille zu durchbrechen.
„Sam, du wirst heute nicht mehr auf dem Laufband trainieren. Wir werden dann nun einfache Übungen machen. Heute werde ich dir keine Zeit vorgeben. Schaue aber bitte, dass du die Aufgabe ordentlich machst“, erläuterte sie mir ihren Trainingsplan.
„Dann müssen wir uns ja sicher bald auf den Weg machen.“
Charles schaute mich und Hera etwas verdutzt an und sprach dann: „Aber die Krankenschwester hat doch gesagt, dass Sam sich ausruhen sollte.“
Er schien nicht zu begreifen, dass wenn ich hier raus wollte so viel wie möglich bei dem Training mitnehmen musste. Ansonsten könnte ich die Fernsehshow verlieren und das wollte ich nicht. Ich wollte nicht erfahren, wenn ich etwas falsch machte, was dann auf uns zukommen würde.
„Dann kommt mit zur Trainingshalle“, teilte Hera uns mit bevor wir einen der beiden Fahrstuhl im Gang betraten.
*
Wir drei erreichten wieder die Trainingshalle. Schnaufend stand ich da und wartete bis Hera wieder zurückkam, da sie zuerst Charles zu den Laufbändern brachte.
Die meisten Leute waren wie vorher auch am Trainieren und so konnte ich sie ein wenig studieren.
„Ich habe dir schon zum dritten Mal gesagt, dass du schneller den Bauch aufschneiden musst. Ansonsten hast du und deine Partnerin später ein Problem“, erklärte ein älterer Trainer, der damit meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Er hatte einen weißen Rauschebart und wirkte durch sein Alter sehr gebrechlich. Doch seine Art mit dem Teilnehmer umzugehen hatte etwas sehr direktes und ehrliches.
Der Junge hatte auch einen schwarzen Trainingsanzug an. Seine schwarzen kurzen Haare waren zerzaust als ob diese seit Tagen keinen Kamm mehr gesehen hätten.
Dennoch schien diese Frisur ihm trotzdem zu stehen und machten etwas her.
Er saß vor einem toten Tier, welches er hastig mit einem Messer den Bauch aufzuschneiden versuchte.
„Da bin ich wieder.“
Ich wendete meinen Blick von dem Jungen ab und achtete nun auf meine Trainerin, die etwas ungeduldig auf mich wirkte.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich Hera um endlich mit dem Training weiter zu machen.
„Wir gehen jetzt in die Reinigungskammer. Dort wirst du diese komplett sauber machen. Alles was du dafür brauchst befindet sich dort“, erklärte sie mir, während dabei ihre Finger wie ein Dirigent durch die Luft wedelte.
*
Kurz darauf stand ich in der besagten Kammer mit einem Reisigbesen bewaffnet da. Ein modriger, alter Geruch stieg mir in die Nase und ich drehte mich sofort weg.
Diese Kammer, die mehr an eine Küche aus einer alten, steinigen Burg erinnerte, war in die Länge gezogen und nur wenige Möbel standen an den felsigen Wänden. Der Boden war aus steinernen, grauen Fließen gefertigt worden. Millimeter dick lag der Staub auf dem Fußboden, der sich wie eine Schneedecke über diesen verteilte.
Hinter mir fiel etwas ins Schloss und ein lautes „Klick“ ließ mein Herz in die Hose rutschen.
Eine mechanische Stimme sagte mir anschließend durch die Lautsprecher: „Reinige bitte den Boden, dass sich kein Staubkorn mehr auf dem Boden befindet. Du hast dafür keine Zeitvorgabe. Allerdings, wenn du bis 18 Uhr nicht fertig bist, bekommst du kein Abendessen.“
Mein Blick viel auf die Uhr, die ich durch die Glasscheibe eines in der Wand eingelassenen Fensters, welches kein Griff hatte, sehen konnte.
Es war nun 17 Uhr. Somit hatte ich nur eine Stunde, um die komplette Kammer zu reinigen.
Ich versuchte so schnell ich konnte mit ruckartigen Bewegungen des Besens den Staub wegzuwischen. Es funktionierte soweit gut bis der Staub wie tausende klein Eintagsfliegen durch die abgestandene, modrige Luft segelte. Der aufgewirbelte Staub wirbelte durch die Luft, meine Lunge füllte sich mit kratzigen Staubkörnern und ein kräftiger Hustenanfall überkam mich. Frische Luft. Ich brauche frische Luft.
So schnell meine Beine mich tragen konnten rannte ich hustend zur Tür. Als ich versuchte diese zu öffnen merkte ich aber, dass diese abgeschlossen war. Instinktive zog ich so fest wie ich konnte am gedrückten Griff, doch die Tür gab der rohen Gewalt keinen Millimeter nach.
*
Nachdem ich die Staubkörner in meiner Lunge etwas abgehustet hatte, umschloss ich den Stiel des Besens fester. So leicht gebe ich mich nicht geschlagen.
Wie kleine Sterne flogen die Staubkörner durch die Luft als ich ein weiteres Mal versuchte die Kammer so schnell wie möglich mit dem Reisigbesen zu reinigen. Trotzdem endete der zweite Versuch dieses Mal in einem heftigen Niesanfall. „Hatschi!“
Mein Blick fiel schließlich auf die Uhr: 17:14.
Ich hatte nur noch 46 Minuten bis zum Abendessen.
Leichtes Bauchknurren ließ mich kurz in meine Gedanken versinken und die schönsten, schmackhaften Speisen erschienen vor meinem inneren Auge.
Ich schüttelte daraufhin meine Gedanken aus dem Kopf.
Zuerst die Arbeit und dann das Vergnügen. Diesen Satz sagte meine Mutter immer und versuchte mich damit zu motivieren mein Zimmer aufzuräumen. Damals hatte mich dieser Satz nicht motiviert, doch welche normale Jugendliche räumt schon gerne ihr Zimmer auf. Das war anscheinend der ewige Kampf der Geschichte. Eltern die wollten, dass man sein Zimmer aufräumt und Jugendliche, die das nicht wollen. Die Kreuzzüge im Mittelalter waren nichts dagegen. Doch an diesem Tag war die Situation anders. Ich musste mein „Zimmer“ aufräumen, ansonsten bekam ich nichts zu essen.
Doch wie kann ich das Problem lösen? Moment einmal. Eventuell gab es hier etwas in der Küche, was mir weiterhelfen würde.
Zuerst untersuchte ich alle Schränke, die sich dort befanden. Ich fand Töpfe, einen Eimer, weiße Putzlappen sowie Geschirr und ein Becken das mit kaltem, klarem Wasser gefüllt war.
Den Eimer füllte ich mit Wasser bis er gefährlich hin und her wankte, stellte ihn auf den Boden. Im Anschluss nahm ich einen Lappen und feuchtete diesen mit dem frischen Nass aus dem Eimer an.
Meine Hände schmerzten als ich das erste Mal in das kalte Wasser eintauchte.
Vorsichtig kniete ich mich auf den Boden und fing an den Dreck mit dem nassen Lappen auf zu wischen.
Das vom Staub verdreckte Stofftuch tauchte ich erneut ins Wasser, um den Dreck auszuwaschen.
Nachdem ich ungefähr ein Viertel des Bodens unter aller Aufbringung der Mühe geschafft hatte, schaute ich wieder auf die Uhr. Es war mittlerweile 17:50.
Sam jetzt beeile dich.
Ich beschleunigte daraufhin mein Tempo.
Mein Bauchgefühl war im Moment nicht gerade erfreut über die Tatsache, dass ich eventuell nichts zu essen bekam.
Als ich endlich alles geschafft hatte, rannte ich keuchend zur Tür. Langsam schaute ich auf die Uhr, mit der leichten Hoffnung, doch noch etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Es war 18:07.
„Ich bringe dich jetzt auf dein Zimmer“, erklärte Hera mir ohne mich anzusehen, die sich mittlerweile am Eingang der Kammer befand. Niedergeschlagen nickte ich mit dem Kopf. Nachdem ich wieder angezogen auf meinem Zimmer war, knurrte mein Bauch, doch ich konnte ihm nichts zu essen geben.
Somit beschloss ich zu Bett zu gehen, denn die Kräfte würde ich noch für den nächsten Tag brauchen. Hungrig sang ich mich leicht in den Schlaf.