Kapitel 1
Das Getuschel um Marco herum verstummte, als sein Handy die ersten Töne von MIKAs „Relax, take it easy“ anstimmte. Atemlose Stille breitete sich aus und er brauchte zwei Anläufe, um den Anruf anzunehmen. „Pronto.“
„Wir sind fertig.“
„Und?“
„863 Punkte.“
„Das ist gut, oder?“ Ruhelos tippte Marco gegen das Handygehäuse. Die Antwort schien ewig auf sich warten zu lassen. „Erik? Ist das gut?“
Am anderen Ende der Leitung erklang ein langgezogenes Seufzen. „Ja. Ja, das ist gut. Das ist eine 1,0.“
„Das ist fantastisch!“ Zusammen mit Marcos Freudenschrei änderte sich die Atmosphäre im Raum. Alle Anspannung verpuffte und an ihre Stelle trat Ausgelassenheit. Er bedeutete den anderen, still zu sein. „Dann sehen wir uns gleich?“
„Mhm. Bis dann.“ Erik legte auf.
Mit vor Erleichterung wackligen Beinen sank Marco auf sein Sofa. „Erik ist auf dem Weg. Und jetzt ist es offiziell: Er hat seine 1,0.“
Jubel brandete auf und hielt an, bis Hugo geschäftig in die Hände klatschte. „Ihr könnt euch später zusammen mit Erik freuen, wenn er hier ist. Davor haben wir noch ein bisschen was zu tun.“ In Windeseile verwandelte er mit Mannis Hilfe Marcos Küchenzeile in ein speichelförderndes Buffet, während Marcos Schwester Giulia gemeinsam mit seinen Freunden Jo und Hatice die Wohnung dekorierte. Zeitgleich mit den letzten Handgriffen ertönte die Türglocke.
Um den Blick auf die Überraschungsparty in seiner Wohnung zu verbergen, trat Marco in den Hausgang und wartete vor geschlossener Tür auf Eriks schlurfende Schritte.
„Hey“, murmelte dieser am obersten Treppenabsatz angekommen.
„Herzlichen Glückwunsch zum Abi!“ Marco schloss seinen Freund in die Arme, nahm allerdings Abstand, nachdem er auf unerwarteten Widerstand stieß. „Alles okay?“
„Mhm.“
„Sicher?“
„Mhm.“
„Komm schon, rede mit mir. Was ist los?“
„Nichts ist los. Ich bin einfach nur ausgelaugt.“
Reflexartig blickte Marco über seine Schulter zur Wohnung, in der eine ganze Reihe Menschen darauf wartete, Erik zum Abi zu gratulieren. „Brauchst du eine Pause?“
„Ich will heute nicht mehr großartig weggehen, aber–“ Erik stockte. Mit zunehmendem Misstrauen beäugte er Marco. „Was ist hier los? Irgendetwas erzählst du mir nicht.“
„Ähm … Möglicherweise habe ich eine kleine Überraschungsparty für dich vorbereitet, falls deine Note so gut ausfällt wie erhofft.“
Erik hob eine Braue. „Und falls sie schlechter ausgefallen wäre?“
„Hätte ich alle weggeschickt, bevor du hier ankommst.“
„Deshalb sollte ich dich sofort nach der Bekanntgabe anrufen?“ Zu Marcos Überraschung lachte Erik. „Spinner!“ Er hauchte einen Kuss auf Marcos Stirn und einen weiteren auf seinen Mund. „Lass uns reingehen, bevor sie sich fragen, wo wir bleiben.“
Die beiden hatten die Türschwelle noch nicht überschritten, da eilten bereits die ersten Gratulanten auf Erik zu. Nacheinander fand er sich in den Armen von Hugo, Manni, Giulia – die zu Eriks Bedauern ihre Tochter Bianca zuhause gelassen hatte – und Hatice wider. Deren Freund Jo klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Freut mich für dich, dass du den ganzen Schulscheiß jetzt auch endlich hinter dir hast. Wenn ich deinen Blick zur Küche lenken darf: Dort wartet Hatices weltbeste alkoholfreie Bowle darauf getrunken zu werden.“
„Er will eigentlich nur, dass du das Buffet eröffnest“, sagte Hatice grinsend. „Jammert, seit wir angekommen sind, dass er Hunger hat.“
„Das schaffe ich. Wo–“ Zum ersten Mal schien Erik die dekorierte Wohnung wahrzunehmen. Langsam wanderte sein Blick von den buntgeschmückten Wänden über den gigantischen Blumenstrauß, den Hatice mitgebracht hatte, und endete bei Hugos und Mannis vorbereiteten Leckereien. Seine Augen wurden groß. „Ihr spinnt ja.“ Nun trat zusätzlich ein feuchter Schimmer in sie. „Ihr spinnt ja!“
„Nah, du hast dich so ins Zeug gelegt, jetzt darfst du dich mal ein bisschen verwöhnen lassen.“ Marco schenkte Erik frische Erdbeerbowle ein. „Aisha lässt dich lieb grüßen, ihr ist hier zu viel los, aber sie meldet sich später bei dir.“
„Und Charlotte?“, fragte Erik. „Sie hat dieses Jahr doch auch ihren Abschluss gemacht.“
„Die kommt später mit Philipp nach. Der sitzt noch die letzten Stunden vor den Sommerferien ab.“
„Was ist mit dem Tässchen?“, fragte Erik weiter, jetzt allerdings an Hugo gerichtet. „Habt ihr eine Vertretung?“
Hugo schüttelte den Kopf. „Hatten wir uns überlegt, aber dann dachten wir, dass wir auch einfach mal ein paar Stunden außer der Reihe freinehmen können. Stuttgart hat genug Cafés und die Kids im Jugendtreff werden ausnahmsweise ohne uns auskommen.“
„Ah, ihr hättet nicht–“
„Zerbrich dir nicht so sehr den Kopf.“ Zusammen mit seinem sanften Tadel reichte Hugo Erik eine Zimtschnecke. „Wir wollten heute mit dir dein Abi feiern und genau das tun wir auch.“
Sichtlich gerührt richtete Erik ein wackliges Lächeln an seine versammelten Freunde. „Ah, fast vergessen. Das Büffet ist natürlich eröffnet.“
In der Hoffnung, auch nach dem ersten Ansturm noch eine Kleinigkeit zu ergattern, hielt sich Marco vorerst zurück. Viel zu sehr genoss er es, Erik zu beobachten, während dieser aß, lachte und rumblödelte. Ein harter Kontrast zu den vorangegangenen Wochen. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen er Erik in dieser Zeit überhaupt zu Gesicht bekommen hatte, hatte dessen Laune zwischen Apathie und Nervenbündel geschwankt. Wahrscheinlich hatte sich Marco das Ende der Prüfungen sehnlicher herbeigewünscht hatte als so mancher Abiturient. Heute einen Großteil seiner Liebsten hier versammelt zu sehen, Erik lachend in ihrer Mitte, wärmte ihm das Herz.
Das Läuten der Türglocke zwang ihn, seine Beobachtungen einzustellen und den nächsten Gästen zu öffnen. Das Klackern von Absätzen hallte durch sein Treppenhaus, begleitet von Geschimpfe. „–Aufzug? Ich hasse Treppen!“
„Ciao, Charlotte“, begrüßte Marco Eriks ehemalige Mitbewohnerin. Er lehnte sich ein Stück zur Seite, um einen Blick auf Philipp zu erhaschen, der halb hinter seiner Freundin verborgen stehen geblieben war. „Kommt rein.“
„Ich sag’s dir, wenn wir irgendwann zusammenziehen, dann nur in eine Wohnung mit Aufzug“, sagte Charlotte zu Philipp. Sie drängte sich an Marco vorbei, schaffte es dabei allerdings, ihm einen Begrüßungskuss auf die Wange und eine Flasche Sekt in die Hände zu drücken. Ihre ungezähmten, dunkelblond gebleichten Locken dufteten nach Erdbeeren, und in ihren Ohren baumelten Kreolen, so gewaltig, dass Marco beim bloßen Anblick Angst bekam, sie könnte damit hängenbleiben.
„Hi, Marco.“ Wie üblich begrüßte Philipp ihn mit einer raschen Umarmung, die kaum Körperkontakt erforderte. „Wie geht’s dir?“
„Ziemlich gut. Dir?“
„Nicht besser oder schlechter als sonst.“ Mit einem schiefen Lächeln schüttelte Philipp den Kopf. „Nein, eigentlich bin ich im Moment echt zufrieden.“ Sein Blick galt eindeutig Charlotte, die jubelnd die Arme in die Höhe riss.
„Erik! Wir haben’s geschafft!“
Hastig wischte sich Erik ein paar Krümel aus dem Mundwinkel, bevor er zu Charlotte eilte. „Das haben wir! Ist echt schön, dich zu sehen.“
„Könntest du viel öfter. Du müsstest dich nur mal melden.“ Sie bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, der nach wenigen Sekunden in ein selbstzufriedenes Grinsen schmolz. „Ich habe Neuigkeiten mitgebracht.“
„Du bist schwanger.“
„Witzig, Arschloch.“
„Du hast erfahren, dass eine Großtante, von der du bisher nicht einmal wusstest, gestorben ist und dir ein millionenschweres Erbe hinterlassen hat, das du aber nur bekommst, wenn du eine Nacht in ihrer von Geistern heimgesuchten Villa verbringst.“
„Junge, wenn ich die Chance hätte, arschreich zu werden, solange ich nur ein paar Gespenster ignorieren muss, würde ich jetzt nicht hier stehen und mit dir quatschen.“
Erik schmunzelte. „Dann weiß ich auch nicht, was das für Neuigkeiten sein sollen.“
„Ich hab ne Lehrstelle! Gestern kam die Zusage.“
„Oh, das ist fantastisch! Die, von der du erzählt hattest? Als Einzelhandelskauffrau?“
„Jupp!“ Marco wurde das Gefühl nicht los, dass eine Menge mehr Freude, Stolz und Erleichterung in Charlotte wühlten, als sie nach außen dringen lassen wollte. „Und du?“, fragte sie Erik. „Auch zufrieden?“
„Mhm.“ Doch Eriks Lächeln flackerte. Er drückte sich um eine ausführlichere Antwort, indem er Philipp winkte. „Hi, übrigens.“
„Hi. Von mir auch herzlichen Glückwunsch.“
„Danke.“ Die beiden ließen sich zu einer kurzen Umarmung hinreißen. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man den wackligen Start ihrer Beziehung und Eriks an Irrationalität grenzende Eifersucht bedachte, die Marcos Freundschaften mit anderen Männern oft schwierig machte. Umso schöner, sie so friedfertig zu erleben.
„Zeit zum Feiern! Wir haben Sekt mitgebracht!“ Charlotte deutete auf die Flasche in Marcos Händen. „Alkoholfrei gab’s aber leider nicht. Sorry.“
„Ist okay“, versicherte Erik. „Hatices Bowle schmeckt fantastisch, damit kann ich genauso gut anstoßen.“
Und das taten sie dann auch.
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„Kommt gut heim!“ Marco und Erik winkten ihren Gästen zum Abschied. „Bis bald!“
Mit einem Klicken schloss Marco die Tür zur schlagartig stillen Wohnung. „So.“
Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Weniger chaotisch als befürchtet – den gröbsten Müll hatten sie zusammen aufgeräumt – dennoch würde er den Putzlumpen schwingen müssen, bevor er sich in seinen eigenen vier Wänden wieder wirklich wohlfühlte. Allerdings nicht mehr heute. Heute wollte er den Rest des Abends mit Erik genießen.
Dieser hatte sich auf das Sofa verzogen und bedeutete Marco, seinem Beispiel zu folgen.
„Hat es dir denn ein bisschen gefallen?“, fragte Marco, nachdem er sich gesetzt hatte.
„Mhm.“
„Aber?“
„Kein ‚Aber‘“, versicherte Erik. „Es hat mir gefallen. Sehr. Danke fürs Organisieren.“
Marco überlegte, ob er das Thema beenden, oder die potenzielle Büchse der Pandora öffnen wollte. Entschied er sich falsch, lief er Gefahr, damit den Abend und vermutlich mindestens den kommenden Tag zu ruinieren.
„Es hat mir wirklich gefallen.“ Offensichtlich hatte Marco seine Zweifel weniger gut vor Erik verborgen als erhofft. „Ich bin einfach nur erschöpft.“
„Sicher? Ich habe dich nämlich schon erschöpft erlebt und für gewöhnlich pennst du dann einfach irgendwann an meiner Schulter ein. Das hier ist was anderes.“
„Kann sein“, gab Erik zu. „Das bedeutet aber nicht, dass es mir heute nicht gefallen hat.“
„Was ist dann los?“
Jetzt lehnte Erik tatsächlich den Kopf an Marcos Schulter. „Es ist stressig, weißt du?“
„Was ist stressig? Du hast dein Abi in der Tasche, mit der Note, die du wolltest. Schwarz auf weiß, beglaubigt und mit Siegel. Du hast es geschafft.“
„Habe ich nicht“, widersprach Erik. „Ich habe nur das letzte bisschen Kontrolle verloren. Alea iacta est. Die Würfel sind gefallen, beziehungsweise die Noten sind vergeben. Jetzt kann ich mich nur noch an den Unis bewerben und hoffen, dass ich einen Studienplatz bekomme, aber ob es so kommt, liegt nicht mehr in meiner Hand.“
„Und das stresst dich?“
„Mehr als ich erwartet hatte.“
„Mich nicht.“
„Ist ja auch nicht dein Leben, das im Zweifel den Bach runtergeht.“
Eriks spitze Erwiderung kam kaum überraschend und Marco fing sie mit Leichtigkeit ab, bevor die Worte ihn verletzen konnten. „Mich stresst das nicht, weil ich genau weiß, dass du eine Zusage bekommen wirst.“
„Das kannst du nicht wissen! Du hast keine Ahnung, wie viele Leute sich jedes Jahr auf ein Medizinstudium bewerben und wie wenig Plätze es dafür gibt. Die Konkurrenz ist–“
„Du bekommst einen Platz“, unterbrach Marco ihn. „Das weiß ich.“
„Nochmal: Das kannst du nicht wissen.“
„Doch. Und du kannst mir entweder weiter widersprechen, oder einfach darauf vertrauen, dass ich recht habe.“
Erik wollte widersprechen, Marco sah es ihm an. Sein innerer Kampf zog sich, bis er schnaubend die angehaltene Luft ausstieß und erneut gegen Marco sank. „Ich versuch‘s.“
„Genau das wollte ich hören.“ Marco rutschte zum Sofarand, den Rücken gegen die Armlehne gestützt. „Füße her.“
Erik hob eine Braue, folgte der Aufforderung jedoch. Wohlig brummend schloss er die Augen, als Marco begann, seine Fußsohlen durchzukneten. Mit jeder streichenden Bewegung von den Zehen bis zum Ballen, jedem Kreis, den Marcos Daumen vollendete, jedem erfolgreich bearbeiteten Druckpunkt, floss Anspannung aus Erik, bis sich sein Körper in fügsame Knetmasse verwandelte.
„Ich wollte dir heute eigentlich einen Vorschlag machen“, sagte Marco, ohne seine Massage zu unterbrechen, „aber jetzt denke ich, dass ich damit lieber warte, bis du deine Zusage fürs Studium hast.“
Träge öffnete Erik ein Auge. „Was für einen Vorschlag?“
„Och, nicht so wichtig.“
„Marco!“
Dieser lachte. „Okay, okay. Ich dachte, wenn dieser ganze Stress vorbei ist, könnten wir zusammen Urlaub machen. Einfach mal ein paar Tage wegfahren. Ich habe übers Jahr ein bisschen was angespart, also wäre es finanziell drin.“
„Bekommst du denn frei?“
Eriks Zweifel waren nicht unbegründet, in der Regel zeigte sich Marcos Chef wenig begeistert von Urlaubsplänen – ganz besonders von spontanen. „Ihm sind im vergangenen halben Jahr zwei Mitarbeiter weggelaufen. Das heißt zwar, dass wir anderen ziemlich viel zu tun haben, aber er kann es sich nicht leisten, den Rest von uns auch noch zu vergraulen. Wenigstens eine Woche sollte also drin sein. Der freie Tag heute hat ja auch geklappt.“
„Ich denke, ein gemeinsamer Urlaub würde mir gefallen“, gab Erik zu.
„Dann musst du mir aber etwas versprechen.“
„Ach ja? Muss ich das?“
„Sì. Du musst mir versprechen, in dieser einen Woche mal richtig auszuspannen. Mir ist klar, dass du das nicht kannst, solange du deine Uni-Zusage nicht hast, völlig egal, wie sicher ich bin, dass alles gut wird und wie sehr du versuchst, mir zu glauben. Aber wenn du deine Zusage in den Händen hältst, dann will ich, dass du wenigstens eine Woche lang allen Stress hinter dir lässt und einfach nur die Zeit genießt. Deal?“
Die Augen erneut geschlossen, lag Erik bewegungslos auf dem Sofa, lediglich seine Fußsohlen drängten sich Marcos Händen entgegen. Nach einer Weile seufzte er. „Deal.“
„Bene. Schon eine Idee, wo du hinwillst?“
„Ich darf aussuchen?“
„Klaro, ist schließlich deine Belohnung fürs Abi.“
„Ans Meer“, antwortete Erik postwendend. „Venedig würde mir gefallen.“
Natürlich entschied er sich für eines der teuersten Urlaubsgebiete Europas, doch Marco schwor sich, nicht zu meckern, solange der Vorschlag Erik ein solches Lächeln ins Gesicht zauberte. Ganz davon abgesehen, dass auch Marcos Herz einen Hüpfer machte, wenn er sich vorstellte, nach Jahren endlich wieder italienische Luft zu atmen. „Giulia und Giovanni sind für ihre Flitterwochen hingefahren. Ich wette, sie kennen noch ein paar Geheimtipps.“ Und verrieten Marco, wie er Erik einen unvergesslichen Urlaub bieten konnte, ohne sich dabei finanziell komplett zu ruinieren.
„Ich wusste gar nicht, dass die beiden mal dort waren.“
„Doch, doch. Und sie würden gerne wieder, wenn Bianca alt genug ist, um die Fahrt zu packen.“
„Ich find’s immer noch schade, dass sie heute nicht dabei war.“
„Du hast doch jetzt frei, oder? Ich bin sicher, die beiden lassen dich nur zu gerne ein paar Stunden Babysitter spielen.“
Ruckartig setzte sich Erik auf. „Denkst du?“
„Klaro.“ Marco zog ihn zu sich, küsste Lippen, die sich weich und nachgiebig gegen die seinen schmiegten. „Vorausgesetzt, du nimmst dir auch ein kleinwenig Zeit für mich.“
Weiterhin Eriks Füße auf dem Schoß, schickte Marco seine Hände auf Erkundungstour. Zart strich er über Wade und Knie, bis zu Eriks Innenschenkeln. Den ganzen Weg hinweg begegnete ihm kein Widerstand. Das änderte sich auch nicht, als seine Berührungen fordernder wurden, nach nackter Haut suchten und im Zweifel Stoff zur Seite schoben, um sie zu finden.
Eriks Atmung beschleunigte, seine Augen folgten Marcos Händen.
„Zieh dich aus“, forderte Marco rau.
Binnen Sekunden bedeckten Eriks Hemd, Hose, Boxershorts und Socken den Wohnzimmerboden, er selbst räkelte sich nackt auf dem Sofa. Mit hochgezogener Braue schleuderte er Marco ein wortloses Und weiter? entgegen.
„Spreiz die Beine.“
Eriks Knie kippten zur Seite. Und weiter?
Dreh dich um. Gib dich mir hin. Lass mich die Kontrolle übernehmen. Anstatt diese Fantasie laut auszusprechen, entledigte sich Marco ebenfalls seiner Klamotten und kletterte zwischen Eriks Oberschenkel. Er schmeckte Salz, als er mit den Lippen über schwitzige Haut strich und genoss das fast unhörbare Stöhnen, mit dem Erik seine Zärtlichkeit belohnte. Er wollte mehr. Er wollte Erik bis auf den letzten Tropfen aussaugen, ohne störende Latexhülle zwischen ihren Körpern.
Fragend blickte er auf, gerade rechtzeitig, um Zeuge des inneren Kampfs auf Eriks Gesicht zu werden und verwarf seinen Plan. Er verspürte wenig Lust auf Gummis, aber noch viel weniger Lust darauf, die Stimmung zu versauen, indem er zum unpassendsten Zeitpunkt ein Thema aufwärmte, das sie bereits bis zum Erbrechen durchgekaut hatten.
Bevor auch nur der Ansatz einer Diskussion entstehen konnte, küsste er sich mit einem charmanten Lächeln nach oben, über Muskeln, in denen eine Kraft steckte, die ihn selbst nach mehr als einem Jahr Beziehung gelegentlich überrumpelte.
Eriks Hand fand Marcos Nacken und lotste, nein, dirigierte ihn zu seinen Brustwarzen. Er wusste genau, wie er berührt werden wollte und scheute sich inzwischen nicht mehr davor, es zu kommunizieren.
Keuchend bog Erik den Rücken durch, drängte seine Erektion gegen Marcos. „Reib dich an mir.“ Verlangen verwandelte Eriks Stimme in tiefes Grollen. Ohne Marco eine Chance einzuräumen, seiner Aufforderung nachzukommen, umfasste er mit sicherem Griff ihre Erektionen.
Vor Marcos inneren Auge spielte sich eine etwas andere Szene ab. Dort presste er sein Gesicht nicht gegen Eriks Brust, sondern zwischen dessen Schulterblätter und es war auch keine Hand, die ihre Körper miteinander verband. Hilflos seiner Lust ausgeliefert, dämpfte Erik sein Keuchen mit einem Kissen, während Marco mit jedem Stoß tiefer in ihn eindrang.
Marco übernahm die Kontrolle, drückte Erik mit seinem Gewicht in die Sofapolster, stieß schneller zu; härter, bis er Erik an die Grenze des Erträglichen trieb und ein winziges Stück darüber hinaus. Gezähmt fügte sich Erik dieser Dominanz – das letzte bisschen Widerstand, das sein Geist zustande brachte, längst vom Verlangen seines Körpers überwältigt.
Die Fantasie endete mit Marcos Höhepunkt. Keuchend stützte er sich auf der Sofalehne ab; unter ihm bebte Erik, als die Wogen seines eigenen Höhepunkts über ihn hereinbrachen. Haut an Haut lagen sie zusammen, bis ihre Gehirne allmählich erneut die Arbeit aufnahmen.
„Mmh.“ Genüsslich streckte sich Erik, soweit das schmale Zweisitzersofa das erlaubte. „Hatte fast vergessen, wie gut sich das anfühlt.“
Nicht meine Schuld. Du warst derjenige, der in den Wochen vor der Abiprüfung komplett unzugänglich war. „Ich auch.“
Die Intervalle, in denen Erik die Augen offenhielt, verkürzten sich, bis sie irgendwann ganz geschlossen blieben und er kaum reagierte, als Marco die Beweise ihres gemeinsamen Höhepunkts notdürftig von seinem Bauch wischte.
Leise, um seinen schlafenden Freund nicht zu wecken, setzte sich Marco in den Sessel gegenüber und betrachtete Erik. Er wirkte entspannt, beinahe gelöst; sogar die schmale Sorgenfalte zwischen seinen Brauen verschwand zum ersten Mal seit Wochen. Ein Kranz blonder Strähnen umrahmte sein Gesicht, dämpfte die harten Kanten seiner Wangenknochen. Marco konnte ihn sich kaum noch mit den raspelkurzen Stoppeln vorstellen, mit denen er ihn kennengelernt hatte.
Sein Blick wanderte tiefer, über mit Sommersprossen gesprenkelte Schultern, drahtige Oberarme, eine haarlose Brust und einen flachen Bauch. Er stoppte bei den zerschnittenen Unterarmen. Normalerweise bemühte er sich, nicht zu genau hinzusehen, nicht jeden Zentimeter von Eriks Haut nach neuen Verletzungen zu inspizieren.
Im Gegenzug begegnete Erik ihm mit Offenheit. Er erzählte Marco, wenn er gegen den Drang sich zu schneiden ankämpfte und bat um Hilfe, sollte ihm alles zu viel werden. Doch in den vergangenen Wochen hatte er sich auffallend zurückgezogen. Je mehr ihn die Abiprüfungen stressten, umso stiller wurde Erik und umso mehr sorgte sich Marco um ihn. So sehr er Erik vertrauen wollte, manchmal gewannen seine Ängste die Oberhand.
Mit schlechtem Gewissen, aber ohne ehrlich gegen das Bedürfnis anzukämpfen, begutachtete Marco Eriks Körper und unterdrückte ein erleichtertes Seufzen, als er nichts fand, das er nicht schon vor Monaten entdeckt hatte. Selbst der jüngste Schnitt sah inzwischen alt aus und die ältesten waren längst zu Narben verheilt.
Marco stand auf. Ihm mochten keine neuen Schnitte aufgefallen sein, doch die Gänsehaut, die Eriks Arme trotz der sommerlichen Temperaturen überzog, konnte er nur schwer ignorieren. Behutsam breitete er eine dünne Decke über ihm aus.
„Marco?“, nuschelte Erik schläfrig.
„Hm?“
Eriks Augen öffneten sich einen Spalt. „Können wir den Urlaub gleich buchen? Also, erst für September, aber eben schon jetzt? Ich will mit dir ans Meer, völlig egal, ob ich einen Studienplatz bekomme oder nicht.“
„Klaro.“
Erik schloss die Augen wieder. „Ich liebe dich.“
Zärtlich hauchte ihm Marco einen Kuss auf die Stirn. „Ti amo anch'io.“ Ich liebe dich auch.