Was zuletzt geschah:
Während Marco von Schuldgefühlen und Ängsten um Eriks Wohlergehen aufgefressen wird, wagt Erik die ersten Schritte aus seiner – nur teilweise selbstgewählten – Isolation. Zu seiner Überraschung fallen diese Schritte recht groß aus. Er knüpft wieder zarte Kontakte mit seinen Freunden, genießt einen Alleingang ins Kino, einen kleinen Flirt und … den ersten One-Night-Stand seines Lebens. Der zwar vermutlich nicht hollywoodreif ausfällt, ihm aber ganz neue Seiten seiner Sexualität aufzeigt.
Kapitel 30
Die Schultern bis zu den Ohren gezogen, ging Marco seiner Arbeit nach. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Daniel es ihm gleichtat. Die Stimmung in der Schreinerei hätte besser sein können.
Sein Kollege Moritz hatte sich am Wochenende einen sauberen Hexenschuss eingefangen und fiel mindestens den Rest der Woche aus. Noch schlimmer hatte es den Neuling Timo erwischt, der nicht einmal zwei Monate nach Start seines Jobs unliebsame Bekanntschaft mit einer Schleifmaschine gemacht hatte. Also fehlten ihnen aktuell zwei Vollzeitmitarbeiter, zusätzlich zu den beiden seit Ewigkeiten ausgeschriebenen und noch immer unbesetzten Stellen. Obendrein durfte sich Marcos Chef mit den bürokratischen Freuden eines Arbeitsunfalls auseinandersetzen. All das spiegelte sich merklich in dessen Laune wider.
„Bianchi!“ Offenbar musste man gar nicht mehr vom Teufel sprechen, es genügte, an ihn zu denken. „Büro! Jetzt!“
Missmutig schlurfte Marco in das winzige Zimmer, in dem sein Chef thronte, wie ein Drache auf seinem Goldschatz. Nur, dass der Schatz in diesem Fall hauptsächlich aus alten Aufträgen und überfälligen Rechnungen bestand. „Ja?“
„Moritz hat angerufen. Ist kein Hexenschuss, sondern ein Bandscheibenvorfall. Behauptet, seine Ärzte haben keine Ahnung, wann er wieder zur Arbeit kann.“
Porco dio, der Arme. Laut sagte Marco nichts dazu. Sein Chef rief ihn eher selten ins Büro, um seine Meinung zu hören, also wartete er brav darauf, gesagt zu bekommen, wie er das Problem ausbügeln sollte.
Schmid schob ihm den Ordner mit den aktuellen Aufträgen zu. „Geh den hier durch. Wir konzentrieren uns ab jetzt aufs Bodenlegen. Alles andere, was wir nicht schon angefangen haben, rufst du an und sagst ab.“
„Alles?“, wiederholte Marco ungläubig. „Sollen wir nicht nur verschieben?“
„Wir tun, was ich sage! Und ich sage, dass wir uns in Zukunft aufs Bodenlegen konzentrieren! Wir haben nicht die Leute für Möbelbau. Wer von euch hat denn schon wirklich Ahnung davon, seit Werner weg ist, hä?“
„Daniel–“
„Mach dich nicht lächerlich! Daniel ist weg, sobald er seinen Meister hat. Geht bestimmt irgendwo in die Industrie, wo se besser zahlen. Sowas wie Treue dem Arbeitgeber gegenüber kennt eure Generation doch gar nicht mehr.“
„Ich kann–“
„Was kannst du?“, unterbrach Schmid ihn schroff. „Bloß, weil hier Not am Mann herrscht und du ein paar Euro mehr bekommst, heißt das nicht, dass du plötzlich ‘n Meister bist. Ein Frischling ist, was du bist. Gerade genug gelernt, um nicht mehr Kosten zu verursachen als du einbringst. Glaubst du wirklich, du kannst den Laden hier allein schmeißen? Ohne Werner? Ohne Daniel?“
Noch nicht. Und warum nicht? Weil du alter Bock mich mit langweiligen 08/15-Aufgaben abspeist, anstatt mir was beizubringen. Marco würgte diesen altbekannten Frust herunter. „Ich könnte mich um Zusatzqualifikationen bemühen“, bot er stattdessen an. „Abends, oder am Wochenende, damit ich tagsüber hier bin, und–“
Schmids Faust donnerte auf den Schreibtisch. „Schluss jetzt! Ich hab diese ständigen Diskussionen mit dir satt! Ich bin hier der Chef, hörst du? Solange ich dein Gehalt zahle, tust du, was ich dir sage! Verstanden? Verstanden?“
„Verstanden“, knirschte Marco zwischen zusammengebissenen Zähnen. Mit viel Überwindung fügte er hinzu: „Chef.“ Er nahm den Auftragsordner entgegen und verschwand aus dem Büro.
Es war einfach nicht fair. Er konnte mehr. Er wollte mehr. Wenn Schmid ihn nur ließe. Seit Beginn seiner Lehre schuftete er sich für dieses Unternehmen ab, immer in der Hoffnung, irgendwann die interessanteren Aufträge zu bekommen, die mit mehr Freiheit und Verantwortung.
Nach dem ersten Lehrjahr hatte er geglaubt, im zweiten müsste es so weit sein. Im zweiten, dass es bestimmt im Dritten richtig losginge. Als sich das nicht erfüllt hatte, hatte er sich dem Ende seiner Lehre entgegengesehnt, denn spätestens als ausgelernter Tischler würde man ihn an den Aufträgen beteiligen, um die sich sonst der Chef und Werner kümmerten. Doch nie hatte es mehr als ein paar Brotkrumen gegeben. Eine Karotte vor der Nase, um ihn bei Laune zu halten.
Dann hatte Werner gekündigt, und Marco einige seiner Aufgaben übernommen. Hauptsächlich das Einweisen neuer Kollegen und Beratungen von Kunden, auf die der Chef aus diversen Gründen keine Lust hatte. Marco übernahm all das sehr gerne, aber von den komplexeren Aufträgen – spezielle Sonderanfertigungen oder Möbelrestaurationen zum Beispiel, eben das, was den Betrieb damals bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz so interessant für ihn gemacht hatte – hielt sein Chef ihn weiterhin fern. Immer mit der vagen Andeutung, ihn schon bald auch darin einzulernen.
Und nun? Nun sah es so aus, als wäre all das Warten umsonst gewesen, denn wenn er Schmid richtig verstand, würde es diese Art von Aufträgen bei ihnen gar nicht mehr geben. Es war einfach nicht fair!
„Alles okay?“, raunte Daniel Marco zu, als dieser ihn auf dem Weg in die Umkleidekabinen passierte. Der einzige halbwegs ruhige Raum außerhalb des Büros, an dem er seinem Auftrag nachgehen und sich von zurecht übellaunigen Kunden am Telefon anmaulen lassen konnte.
„Blendend. Einfach blendend.“
Daniel hob die Brauen, startete aber keinen Versuch, mehr aus Marco herauszubekommen.
Nach einem Urschrei, der nur in seinem Kopf erklang, gefolgt von jedem deutschen, italienischen und englischen Fluchwort, das ihm einfiel, atmete Marco durch, und begann, Kunden zu erklären, weshalb sie sich bedauerlicherweise auf die Suche nach einer anderen Schreinerei machen mussten.
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Miesepetrig starrte Marco in seinen Kühlschrank. Ihm fielen auf Anhieb drei Gerichte ein, die er mit dessen Inhalt zubereiten könnte, und sicher vier weitere, wenn er länger als zehn Sekunden darüber nachdachte. Nur der Appetit wollte nicht kommen. Er hatte es satt, allein zu essen; hatte es satt, niemand anderen bekochen zu dürfen.
Das brachte seine Gedanken gefährlich nahe an Erik, an das Leuchten in dessen Augen, wann immer Marco ihm einen Teller frisch gekochter Pasta mit Tomatensoße vor die Nase gestellt hatte. Wenn er nur wüsste, ob es Erik gut ging. Mehr wollte er doch gar nicht.
Frustriert fuhr sich Marco durchs Haar. Egal, wie sehr er sich das wünschte, erfahren würde er nichts. Möglicherweise hatten Manni und Hugo Erik inzwischen erreicht, aber weshalb sollten sie Marco davon erzählen? Nach dem, was er sich an Weihnachten geleistet hatte? Aus gutem Grund hielt er sich seit seiner Beichte vom Tässchen fern.
Das Schrillen seiner Türklingel schreckte ihn aus seinen trüben Gedanken. Wer könnte das sein?
Die Antwort kam in Form heiteren Gebrabbels, das durch den Hausgang schallte. „Bianca!“ Mit ausgestreckten Armen erwartete Marco seine kleine Nichte, die tapfer an der Hand ihrer Mutter die Treppen zu seiner Dachgeschosswohnung erklomm. Oben angekommen, watschelte sie an ihm vorbei in seine Wohnung. „Oh, na schön. Ich betrachte das mal als Luftumarmung.“
„Nimm es nicht persönlich“, sagte Giulia. „Im Moment ist die ganze Welt interessanter als die Menschen um sie herum. Lass dich drücken.“
Das tat Marco. „Wie geht’s euch?“ Dass Giulia nicht sofort antwortete, verriet mehr, als ihr nach einigen Sekunden gemurmeltes ‚wird schon‘.
Sie löste sich von ihm. „Gehen wir rein, bevor Bianca deine Wohnung zerlegt.“
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Bianca hatte Marcos Wohnung nicht zerlegt, was sich eher auf das beherzte Eingreifen ihrer Mutter zurückführen ließ als auf ihr grundsätzliches Benehmen. Amüsiert beobachtete Marco, wie seine Nichte sich an seinem CD-Regal zu schaffen machte. Sie zog eine Hülle heraus, betrachtete sie, kostete sie und legte sie neben sich auf den Boden, um sich der nächsten zu widmen. „Wollt ihr Abendessen? Ich wollte eben anfangen zu kochen.“
„Lieb, dass du fragst“, antwortete Giulia, „aber wir sind heute schon woanders eingeladen. Ich dachte nur, ich nutze die Gelegenheit, und schau davor mal wieder bei dir vorbei. Wenn du schon nicht zu uns kommst.“
„Ich bin doch ständig bei euch!“
„Ach ja? Wann das letzte Mal?“
Marco öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne eine Antwort parat zu haben. Wann war er das letzte Mal bei seiner Schwester zu Besuch gewesen? Die Auflösung lautete: Nicht mehr, seit er sich von Erik getrennt hatte. „Scusa. Ich …“ Was? Was konnte Marco schon sagen, das sein Verhalten entschuldigte? Gab es überhaupt jemanden in seinem Umfeld, den er nicht vernachlässigte? Den er nicht enttäuschte?
„Du meine Güte, Marco! Das war kein bisschen böse gemeint!“
„Ich weiß, ich weiß.“ Das machte die Kritik nicht weniger wahr. Bevor Giulia nachsetzen konnte, und er am Ende noch in Gejammer verfiel, fragte Marco: „Was gibt’s Neues bei euch?“ Er nickte Richtung Bianca. „Ist doch bestimmt viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Ein Schatten huschte über Giulias Gesicht, den sie so schnell mit einem Lächeln vertrieb, dass er Marco beinahe entgangen wäre. Beinahe. „Unsere Principessa steigt jetzt Treppen, wie du vielleicht schon bemerkt hast.“
„Ich hatte eine vage Vermutung.“
„Oh, und sie hat neulich ihren Namen gesagt! Glaube ich. Es klang ein wenig wie Blabla, aber sie hat definitiv sich selbst gemeint.“
„Das ist toll.“ Unvermittelt hatte Marco Eriks Gesicht vor Augen, dieses zarte Lächeln, das er zeigte, wann immer Giulia ihm von Biancas neuesten Eskapaden erzählte. Rigoros stampfte er das Bild nieder. „Und bei dir und Giovanni? Ist er endlich aus der Kurzarbeit raus?“
Giulias Lächeln erlosch schlagartig. „Könnte man so sagen. Man hat ihm gekündigt.“
„F–“, Marco würgte den Fluch Bianca zuliebe ungesagt herunter. „Wann?“
„Letzte Woche. Er ist nicht der einzige, den es erwischt hat, aber das macht es nicht besser. Es bedeutet nur mehr Konkurrenz bei der Stellensuche.“
„Kann ich euch irgendwie unterstützen? Ich bin nicht gerade reich, aber ein paar Rücklagen habe ich.“ Solange nichts Unerwartetes seine Kassen leerte. Schlimmstenfalls würde er sich eben von seinem Auto trennen müssen.
„Das ist lieb, aber vorerst kommen wir über die Runden. Ich kann erstmal in meinen alten Job zurück. Eine dauerhafte Lösung ist das zwar nicht, aber es reicht hoffentlich, bis Giovanni einen neuen Job findet. Nur allzu lange darf das nicht dauern, weil …“ Giulia nagte an ihrer Unterlippe. „Ich bin schwanger.“
Marco starrte mit offenem Mund, während er in Gedanken durchging, wie die korrekte Erwiderung auf diese Information lautete. Am Ende brach die erstbeste heraus. „Herzlichen Glückwunsch! Das ist fantastisch!“ Er stockte. „Ist es fantastisch?“
Giulia lachte auf und barg gleich darauf seufzend das Gesicht in den Händen. „Ich weiß es nicht. Ich meine, wir wollten immer ein zweites Kind, aber das Timing könnte kaum schlimmer sein. Es war auch absolut nicht geplant, aber ich schätze, wenn beide eigentlich ein Kind wollen, passt man nicht mehr ganz so gut auf, wie man eigentlich sollte.“
Sanft legte Marco einen Arm um seine Schwester. „Das wird schon werden. Giovanni findet sicher bald einen neuen Job, und ihr und euer Zuwachs seid gut versorgt.“
„Ehrlich gesagt, hat er schon ein Angebot.“
„Ach so?“
„Einer seiner Onkel hat eine Werkstatt und könnte Hilfe gebrauchen.“
„Das ist doch klasse!“
„In Italien.“
Unbewusst zog Marco Giulia näher zu sich. „Und ihr denkt darüber nach?“
„Wenn Giovanni hier keinen Job findet, bleibt uns kaum eine andere Wahl. Wir waren mal da, kurz nach unserer Hochzeit. Es ist schön. Ländlich, aber vielleicht wäre das gerade das Richtige für die Kinder. Wir hätten mehr Platz, könnten uns eine größere Wohnung leisten. Unsere hier ist ja jetzt schon fast zu klein, wie soll das mit einem zweiten Kind werden?“
Marco sprach es nicht laut aus, doch für ihn klang es, als hätte seine Schwester die Entscheidung längst getroffen. Tief in seiner Brust entstand eine weitere hohle Kammer. Bald verlor er den letzten Teil seiner Familie, der ihn noch liebte.
„Bianca! Nein!“ Giulia sprang auf, gerade rechtzeitig, um ihre Tochter daran zu hindern, sich an Marcos Yuccapalme zu schaffen zu machen. Offenbar war die Faszination des CD-Regals verflogen. Mit ihrer quengelnden Tochter auf dem Arm, drehte sich Giulia zu Marco um. „Ich fürchte, wir müssen eh bald los. Mamma und–“ Abrupt stoppte sie, als hätte sie sich die Zunge verbrannt.
Das war also ihre Verabredung für heute. Marco lächelte über den Schmerz hinweg. „Dann solltet ihr pünktlich los. Nicht, dass sie sich Sorgen machen.“ Giulia sollte kein schlechtes Gewissen haben, nur weil sie den Kontakt mit ihren Eltern aufrechterhielt. Es war nicht Giulias Schuld, dass die beiden sich entschieden hatten, Marco aus ihrem Leben zu verbannen.
Kurz spielte er mit dem Gedanken, zu fragen, ob ihre Eltern den Brief erwähnt hatten, den sie schon vor Monaten von ihm erhalten haben mussten, doch er verkniff es sich. Stattdessen stellte er eine andere, viel wichtigere Frage: „Wie geht es Francesca?“ Porco dio, er vermisste seine kleine Schwester, völlig egal, wie sehr sie ihn mit ihrem Vorwurf, die Familie zu zerstören, verletzt hatte. Völlig egal, dass sie sich seither weigerte, ihn zu sehen.
Giulias Lächeln trug schmerzhaft viel Mitgefühl in sich. „Es geht ihr gut. Sie spricht immer noch ständig davon, nach Frankreich zu wollen. Wenn nicht über einen Schüleraustausch, dann vielleicht nach ihrem Abschluss.“
„Ich drücke ihr alle Daumen, dass das klappt.“
„Ich weiß, dass du das tust.“ Zum Abschied umarmte Giulia Marco lange und fest. „Komm bald vorbei, ja? Wir könnten zusammen Abendessen kochen. Mal wieder richtig auftischen, wie klingt das?“
Wie Mitleid. Marco drückte seine Schwester erneut an sich. „Mach’s gut. Grüß–“ Er brach ab. Was brachte es schon, wenn Giulia seinen Eltern Grüße von ihm ausrichtete, außer am Ende Stress für sie? Würden sie Kontakt mit ihm wollen, hätten sie ihn aufgenommen; spätestens nachdem sie seinen Brief erhalten hatten. Ihr Schweigen war Botschaft genug. „Mach’s gut“, wiederholte er.
„Ach, Marco.“ Die Hand an der Türklinke, sah Giulia ihn aus ihren großen, dunklen Augen an. „Ich wünschte, die Welt wäre gerade netter zu dir.“
„Ich komme schon klar“, versicherte er.
Allein kehrte er in seine leere Wohnung zurück und machte sich daran, eine einzelne Portion Pasta zuzubereiten. Er kam schon klar.