Was zuletzt geschah:
Marcos letzter Besuch bei Erik führt bei beiden zu der Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann. Doch während Erik seine Hoffnungen in einen Nebenjob steckt, der ihm möglicherweise hilft, seinen Horizont zu erweitern und damit wieder näher zu Marco zu finden, stellt sich Marco endlich einer tragischen Wahrheit, aus der letztlich nur eine einzige Konsequenz folgen kann.
Kapitel 22
Eine halbe Stunde starrte Marco nun schon auf sein Telefon, als würde es ihn beißen, sobald er danach griff. Nie zuvor hatte er sich so vor einem Anruf gesträubt, doch er schob ihn bereits seit zwei Tagen auf und so konnte es einfach nicht weitergehen.
In der einen Hand hielt er sein Handy, in der anderen seinen zerknitterten Notizzettel, der mehr durchgestrichene als klar lesbare Wörter enthielt. Das Freizeichen klang weit entfernt hinter dem Blutrauschen in seinen Ohren. Es dauerte zu lang und endete zu früh.
„Hey.“
„Ciao, Erik.“
„Wie geht’s dir? Ist es immer noch so stressig?“
Marco hatte keine Antwort auf die schlechte Ausrede, die er Erik in den vergangenen zwei Tagen aufgetischt hatte, um nicht mit ihm telefonieren zu müssen. Zumal er ahnte, dass Erik insgeheim sehr genau wusste, angelogen worden zu sein.
„Jedenfalls tut es gut, deine Stimme zu hören.“
Sag sowas nicht. Bitte kling nicht so liebevoll. Nicht so … bedürftig.
„Hast du dir überlegt, was du am Wochenende unternehmen willst? Mir ist klar, dass deine letzten Besuche bei mir nicht wirklich toll für dich waren. Deshalb dachte ich, wir machen dieses Mal ausschließlich das, worauf du Lust hast. Was auch immer das ist. Oh, und vielleicht habe ich dann auch News, die ich dir unbedingt persönlich erzählen will. Positive, meine ich. Keine weiteren Verfolgungsjagden oder ähnliches. Versprochen.“
„Erik, ich …“ Marcos Kehle schnürte sich zu, wollte die nächsten Worte nicht preisgeben. Er zwang sich dennoch. „Ich werde am Wochenende nicht zu dir fahren.“
„Oh. Das, ah, das ist auch in Ordnung. Dann verschieben wir es einfach um eine Woche?“
„Nächste Woche werde ich auch nicht–“
„Oder ich könnte nach Stuttgart kommen. Etwas früher, als ich eigentlich geplant hatte, aber das ist ja nicht in Stein gemeißelt. Falls das besser für dich passt?“
Tat es nicht. Nichts von dem, was Erik sagte, passte. Marco wollte nicht die Hoffnung in seinen Worten hören, den unbedingten Willen, sich unterzuordnen, um ihre Beziehung zu retten. Nicht, wenn Marco entschieden hatte, dass es nichts mehr zu retten gab. „Wir müssen reden.“
„Pause.“
„Erik …“
„Pause!“
Marco presste die Lippen zusammen. Musste Erik ausgerechnet jetzt ihr Codewort verwenden? Wie sollte er ihn vor dieser Situation schützen?
Indem er ihm Zeit gab, sich darauf vorzubereiten. Wie unfair, dieses Telefonat erst hinauszuzögern und anschließend zu erwarten, dass sich Erik einfach davon überrollen ließ. Also tat Marco das Einzige, das ihm richtig schien: Schweigen.
Am anderen Ende der Leitung hörte er Eriks Atem, zunächst schnell, dann kontrollierter. „In Ordnung. Sag, was du zu sagen hast.“
In den vergangenen eineinhalb Jahren ihrer Beziehung hatte es immer mal wieder Momente gegeben, in denen Marco dachte, dem Erik ihrer Kennenlernzeit gegenüberzustehen. Kühl, unnahbar und scharfkantig. Nun begriff er, wie daneben er gelegen hatte. Denn jetzt stand er dieser Version tatsächlich gegenüber und sie brach ihm das Herz. Erik klang wie bei ihrer ersten Begegnung im Boxstudio, alle Schutzwälle hochgezogen, weil er fest damit rechnete, von Marco verletzt zu werden.
Damals hatte sich Marco gewünscht, ihm das Gegenteil beweisen zu können. Heute tat er das noch immer. Stattdessen würde er ihn bestätigen.
Fahrig glättete er den zerknitterten Zettel auf seinem Schoß; entzifferte die Worte, die vor seinen Augen zu verschwimmen drohten. „Ich … Ich bin nicht mehr glücklich in unserer Beziehung. Schon länger nicht mehr. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass auch du im Moment hauptsächlich damit beschäftigt bist, es mir recht zu machen, anstatt dein Leben zu genießen. Das kann so nicht weitergehen.“
„Sprich für dich, nicht für mich.“
„Scusa.“ Ratlos überflog Marco seinen Notizzettel; suchte nach den Worten, die seine Gefühle beschrieben. Er fand sie, doch sie klangen hölzern und ungenügend. Trotzdem las er sie vor. Welche Wahl blieb ihm schon?
„Erik, du bist mir so, so wichtig, aber ich sehe keine gemeinsame Zukunft für uns. Deshalb …“ Er schluckte. „Deshalb halte ich es für besser, diese Beziehung zu beenden. Das heißt nicht, dass du mir nichts mehr bedeutest! Absolut nicht! Ich …“ Verdammt. Die letzten Sätze hatte er improvisiert und dabei den Faden verloren. Wo ging es weiter? Hier. „Ich hasse diesen Moment so sehr, weil ich mir wünsche, dir etwas anderes sagen zu können. Aber egal, wie lange ich nach einer Lösung suche, ich finde keinen Weg, der uns beide glücklich macht, wenn wir an unserer Beziehung festhalten. Also …“ Erneut schluckte Marco. Jedes einzelne Wort fühlte sich wie ein Dolchstoß in seiner Kehle an. „Also muss ich mich von dir trennen. Ich hoffe nur, wir können Freunde bleiben.“
„Verstehe. Danke für deine Ehrlichkeit.“ Erik beendete das Gespräch.
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Erik blinzelte. In seiner Hand hielt er noch sein Handy, doch die Schatten in seinem Schlafzimmer hatten sich in der Zwischenzeit in Dunkelheit verwandelt. Wie lange saß er schon regungslos auf seinem Bett?
Ein Blick auf seine Armbanduhr ließ ihn aufspringen. „Shit!“ Halb neun. In zwanzig Minuten musste er sich für seine Probeschicht im Tix melden. Selbst wenn er sofort loslief, brauchte er mindestens eine halbe Stunde.
Mit einer Hand angelte er in seinem Schrank nach dem dunklen Hemd, das er tragen wollte, mit der anderen durchwühlte er das Adressbuch seines Handys nach der Telefonnummer des Clubs, um sie über seine Verspätung zu informieren. Viel beschissener konnte ein Tag kaum laufen.
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„Was hatte ich dir gesagt?“, begrüßte ihn Frau Černá, als Erik verschwitzt und atemlos in den Club platzte.
„Tut mir wirklich leid.“ Er widerstand der Versuchung, ihr eine Ausrede aufzutischen. Schlimm genug, dass er sein Wort nicht gehalten hatte, er würde nicht noch tiefer sinken. „Ich habe die Zeit vergessen.“ Genaugenommen erinnerte er sich nicht an die Stunden, die auf das Ende seines Telefonats mit Marco gefolgt waren.
„Spar dir die Entschuldigungen und mach dich an die Arbeit.“
„Entschuldigung. Ich meine ... Ja. Sofort.“
„Hm.“ Frau Černá beäugte ihn von oben bis unten. „Du siehst nicht gerade fit aus. Bist du krank? Das Schlimmste, was du mir antun kannst, ist zu spät kommen und dann auch noch meine restlichen Leute anstecken.“
„Ich bin gesund.“ Mein Freund hat sich vor ein paar Stunden von mir getrennt, das ist alles.
„Wir tun einfach mal so, als würde ich dir glauben. Komm mit.“
Kurz vor Öffnung sah der Club deutlich anders aus als bei Eriks Vorstellungsgespräch; die Lichter waren gedimmt, die Stühle standen um die Tische herum, statt darauf gestapelt und der DJ hatte sich an seinem Pult neben der Tanzfläche eingefunden. Hinter der Bar wartete eine junge Frau in Eriks Alter. Ihr dunkles, zu einem strengen Zopf geflochtenes Haar glänzte im Schummerlicht, ebenso wie ihr dezentes Lipgloss und das Piercing in ihrer Nase.
„Das ist Nathalie“, sagte Frau Černá. „Sie zeigt dir heute alles. Abgesehen von der Vorbereitung, weil du dafür zu spät dran bist.“
„Tut mir echt leid“, wiederholte Erik, nun an Nathalie gerichtet.
Sie zuckte mit den Schultern. „Passiert den besten.“
„Sollte es aber nicht!“, mahnte Frau Černá. Sie wandte sich ab. „Ich muss Bürokram erledigen. Macht euren Job, ich schaue später vorbei, wie es läuft.“ Ohne sich nochmal umzudrehen, marschierte sie zu der Hintertür, aus der Amara beim Vorstellungsgespräch gekommen war.
„Uff, die spielt dir gegenüber heute aber ganz schön die Harte“, sagte Nathalie. „Hilf mir mal bitte bei den Gläsern hier.“
„Spielt?“, wiederholte Erik, während er Shot-Gläser griffbereit aufreihte. Für ihn fühlte sich Frau Černás Verhalten absolut nicht nach einem Spiel an.
„Das macht sie bei Neulingen oft. Gibt sich streng und unnachgiebig, um zu verbergen, dass sie eigentlich ein Herz aus Gold hat. Normalerweise hört sie damit aber auf, sobald das Vorstellungsgespräch rum ist. So war es jedenfalls bei mir und den anderen. Keine Ahnung, warum sie bei dir extrastreng ist.“
„Ihr seid vermutlich nicht gleich zur Probeschicht zu spät gekommen.“
Nathalie lachte. „Nein, aber zur ersten richtigen.“ Sie deutete auf die Tür, hinter die Frau Černá verschwunden war. „Normalerweise kannst du deine Sachen hinten verstauen, aber wir öffnen gleich, deshalb zeige ich dir das alles nach Schichtende. Donnerstags ist meistens nicht viel los, vor allem nicht um diese Uhrzeit, also pass gut auf, wenn ich dir das Wichtigste zeige, damit du möglichst selbstständig zurechtkommst, sobald es hektischer wird.“
Erik nickte.
„An den Wochenenden wird’s stressiger, da sind wir in der Regel mindestens zu dritt. Das heißt, sofern wir genug Leute haben. Was zurzeit eher nicht der Fall ist. Versuch also, es nicht zu verkacken. Wir können die Unterstützung echt brauchen.“
„Ah … danke?“
Nathalie zwinkerte ihm zu. „Oh, und das da vorne“, sie deutete auf den glatzköpfigen Mann, dem Erik bei seinem Vorstellungsgespräch ein Wasser gebracht hatte, „das ist Tom. Abgesehen von mir, ist er dein wichtigster Ansprechpartner hier. Er ist für die Security zuständig. Wenn es also Stress gibt, oder du was siehst, das dir komisch vorkommt, dann wendest du dich an ihn. Du gehst nicht selbst dazwischen, verstanden?“
„Verstanden.“
„Es gibt eine Ausnahme. Wenn du beobachtest, dass jemand etwas in einen fremden Drink schüttet, dann müssen wir eingreifen. Gib mir Bescheid, dann sorg dafür, dass die Person, für die der Drink ist, nicht davon trinkt. Idealerweise merkst du dir, wie der Täter aussieht. Ich informiere derweil Tom. Und danach bereitest du dich auf einen gewaltigen Ansturm auf die Bar vor, weil unser DJ eine allgemeine Warnung aussprechen wird und wir jedem der möchte, das Getränk ersetzen.“
„Ihr nehmt das ziemlich ernst.“
„Tun wir“, erwiderte Nathalie. „Das ist einer der Gründe, warum ich hier so gerne arbeite. Sie nehmen hier nämlich auch unseren Schutz ernst. Gäste, die das Personal belästigen, werden von Tom und seinem Team diskussionslos vor die Tür gesetzt.“
„Kommt das häufiger vor?“ Erik vermutete, die Antwort bereits zu kennen.
„Gelegentlich. Nicht superoft, jedenfalls, dass Leute uns gegenüber richtig aufdringlich werden, mit antatschen und so, aber schmierige Sprüche sind ziemlich an der Tagesordnung. Die darfst du nicht zu nah an dich ranlassen. Wird es zu krass …“
„An Tom wenden“, vervollständigte Erik. „Ich denke, ich habe das Prinzip verstanden.“
Nathalie klopfte ihm auf die Schulter. „Sehr gut. Eine Warnung noch: Bei Tom nicht über die Chefin lästern. Die beiden sind verheiratet.“
„Gut zu wissen.“
„Jaaa, hätte man mir das mal an meinem ersten Tag gesagt.“
Entgegen allen Erwartungen lachte Erik. Das Geräusch ging in der einsetzenden Musik unter. Der Abend hatte offiziell begonnen.
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Eriks gute Laune hielt nicht an. Die Clubbesucher fanden sich nur tröpfchenweise ein und die wummernde Musik verhinderte längere Gespräche zwischen ihm und Nathalie. Was Erik deutlich zu viel Zeit mit seinen eigenen Gedanken ließ.
Ich bin nicht mehr glücklich. Ich sehe keine gemeinsame Zukunft. Ich bin nicht mehr glücklich. Ich sehe keine gemeinsame Zukunft. Ich bin nicht mehr …
Die Sätze, gesprochen in Marcos warmer Stimme, stachen auf ihn ein, bohrten sich in sein Inneres und füllten ihn mit Schmerz, der keinen Ausgang fand. Gefangen schwoll er an, bis er alles verdrängte. Er presste die Luft aus Eriks Lungen. Drückte gegen Eriks Schädel, drängte in seine Hirnwindungen. Er quetschte Eriks Herz, blähte seine Haut auf, versteifte seine Gelenke. Er nahm Erik sich selbst, bis nichts blieb als eine schmerzgefüllte Hülle.
„Schneid mal bitte ein paar Limetten auf“, rief Nathalie ihm zu.
Mechanisch griff Erik zum Messer. Die im Lichtermeer des Clubs funkelnde Klinge glitt durch die Früchte und befreite den frischen Duft darin. Nur ein Zentimeter weiter nach rechts, Haut statt Schale, Blut statt Saft, Schmerz, der von außen kam, statt von innen. Ein Ventil, das ihm Kontrolle zurückgab. Erik legte das Messer weg.
„Ah, ich muss kurz auf die Toilette.“
„Sekunde!“ Nathalie drückte ihm einen Schlüssel in die Hand. „Der ist fürs Personalklo. Treppe runter, erste Tür links.“
Erik schaffte es, ihr ein dankbares Lächeln aufzutischen, bevor er nach unten flüchtete. Fahrig drehte er den Schlüssel im Schloss, schlüpfte durch den Spalt und zog die Tür hinter sich zu. Er stand in einem Vorraum mit Waschbecken, neben ihm eine einzelne Kabine. Alles sauber, die Musik auf ein erträgliches Maß gedämpft.
Zitternd stützte er sich aufs Waschbecken und kontrollierte seine Atmung. Doch er wusste, dass er es nicht mit dem Beginn einer Panikattacke zu tun hatte, sondern mit einem ganz anderen Dämon. Einem, der ihn über Monate in trügerischer Sicherheit gewogen hatte.
Der Druck in seinem Inneren wollte einfach nicht nachlassen. Gott, wie sehr er sich selbst hasste, diesen Körper, der ihn gefangen hielt. Der sich in Momenten wie diesen nicht wie seiner anfühlte, sondern wie ein Käfig, in den man ihn gezwungen hatte. Voller Schmerz, ohne Kontrolle. Falsch. Fremdbestimmt.
Mit den Fingern seiner linken Hand klopfte Erik gegen die Innenfläche seiner rechten, stimulierte die empfindlichen Nerven darunter. Gleichzeitig dachte er sich an einen sicheren Ort. Dachte sich ins Wasser, tief untergetaucht, die Welt um ihn herum still, kalt. Schwer drängte der Druck von außen den in seinem Inneren zurück.
Keine gemeinsame Zukunft für uns. Peng!, befand sich Erik wieder in der wirklichen Welt. Der Welt, in der Marco nicht länger an seiner Seite stand. In der er zu kompliziert, zu kaputt war, um geliebt zu werden. Der Druck in ihm schwoll an, dröhnte, ließ sein Herz rasen und seine Augen tränen.
Vielleicht half Kopfrechnen. Ein simpler Trick, der ihn manchmal aus seinen Gedankenschleifen holte. Dreizehn mal fünfzehn. Erik rechnete. Zehnmal zehn, plus dreimal zehn, plus – Keine gemeinsame Zukunft. Zehnmal zehn. Nicht mehr glücklich. Zehnmal zehn ... Du bist schon viel zu lange hier unten. Was würde Nathalie denken? Oder seine potenzielle Chefin.
Als ob die beiden einen Gedanken an ihn verschwendeten. Niemand tat das. Marco hatte ihn verlassen. Keine große Überraschung, eigentlich, eher verwunderlich, wie lange er durchgehalten hatte. Lange genug, um Erik die Hoffnung zu geben, eine Chance auf Liebe und ein normales Leben zu haben.
Hör auf! Er musste dringend dieser Schleife entkommen und seine üblichen Tricks zur Ablenkung funktionierten offensichtlich nicht. Erik wusste, wann er verloren hatte. Der Schmerz saß zu fest verkantet, mit einer Ursache, die nicht nur in seinem Kopf existierte. Er brauchte einen Reiz von außen, um den Druck im Inneren abzulassen.
Erik rollte sein Hemd bis zu den Ellenbogen hoch, drehte das kalte Wasser auf und hielt seine Handgelenke darunter. Nadeln stachen in die sensible Haut, realer Schmerz, der ihn in der Realität verankerte. Winzige Löcher, die Druck entweichen ließen. Genug, zum Durchschnaufen, nicht ausreichend für einen klaren Kopf. Zu schnell gewöhnte sich sein Körper an die Temperatur.
Hätte er alle Zeit der Welt, in der Ruhe seiner Wohnung, käme er ab jetzt zurecht. Doch er hatte nicht alle Zeit der Welt. Nathalie brauchte ihn an der Bar und er wollte sie nach seiner Verspätung nicht erneut enttäuschen. Fahrig tastete er in seiner Hosentasche nach der Plastikschatulle, die er glücklicherweise vor seinem Aufbruch eingepackt hatte. Sein Skilltäschchen mitzunehmen war ihm wie ein böses Omen erschienen, es zuhause liegen zu lassen, wie Dummheit. Nun bestätigte sich beides. Erik öffnete die Schatulle und überflog ihren Inhalt. Ein paar Lagen Luftpolsterfolie, miteinander verknotete Gummibänder, extrascharfe Kaugummis, und das, wonach er suchte: Zwei Riechampullen Ammoniak.
Obwohl er wusste, was ihn erwartete, traf ihn der Gestank mit voller Wucht, ätzte sich in seine Schleimhäute und fegte alles andere aus seinem Bewusstsein. „Bah!“ Doch es half. Das Gefühl, sein Hirn mit giftigen Dämpfen zu zersetzen, ließ wenig Raum für tiefergehende Empfindungen. Wie ein Luftballon, den man mit einer dicken Nadel anstach, platzte sein Kopf und der unerträgliche Druck, der ihn in sich selbst gefangen gehalten hatte, entwich. Befreit sank Erik gegen das Waschbecken.
„Wirklich? Keine zwei Stunden in deiner ersten Schicht, deiner Probeschicht, und du hast es schon so nötig, dass du nicht einmal daran denkst, die Tür abzusperren?“
Erik fuhr herum. Vor ihm stand Frau Černá, die Arme vor der breiten Brust verschränkt, Missbilligung in den Augen.
„Ich–“
„Ich will nichts hören!“, unterbrach sie ihn barsch. „Spar dir deine Entschuldigungen und Ausflüchte! Weißt du, ich kann nicht verhindern, dass sich die Gäste hier mit Drogen zuballern, aber von meinen Mitarbeitern erwarte ich dann doch etwas mehr Anstand. Ach, was rede ich von Anstand. Ein Mindestmaß an Hirn würde schon reichen!“
Drogen? Grandios. Offensichtlich hatte Frau Černá komplett falsche Schlüsse gezogen. „Ich nehme keine D–“
„Ich habe gesagt, ich will nichts hören! Du packst jetzt deine Sachen und verschwindest von hier! Und tu mir den Gefallen und verzichte auf Theater. Ich will meinem Mann nicht mehr Arbeit machen als unbedingt nötig.“
„In Ordnung, ich gehe.“ Beinahe hätte Erik es dabei belassen, zu tief saß die Scham und das Gefühl des Versagens. Nur eine leise Stimme in seinem Hinterkopf hielt ihn davon ab, davonzuschleichen wie ein geprügelter Hund. Sie flüsterte ihm keine aufmunternden Worte zu, kein Kopf hoch. Nein, sie zischte: Himmel nochmal! Schämst du dich wirklich so sehr für dich selbst, dass du andere lieber in dem Glauben lässt, drogenabhängig zu sein? „Es ist Ammoniak, wissen Sie?“ Erik konzentrierte sich darauf, die angebrochene Ampulle sicher in seinem Notfalltäschchen zu verstauen. „Er ist ein Skill. Das bedeutet–“
„Ich weiß, was Skills sind.“
„Ah, gut.“ Erst jetzt bemerkte Erik seine noch immer hochgerollten Hemdsärmel und zog sie nach unten, bis sie seine Handgelenke verdeckten.
Frau Černá seufzte, langgezogen und tief. „In diesem Fall schulde ich dir offensichtlich eine Entschuldigung.“
„Schon gut. Ich kann mir vorstellen, wie das für Sie ausgesehen haben muss. Außerdem ist es so oder so unprofessionell.“
„Papperlapapp. Es war falsch von mir, voreilige Schlüsse zu ziehen und so auf dich loszugehen. Das tut mir sehr leid.“
Die Entschuldigung klang aufrichtig. „Danke.“ Entschlossen löste Erik den Blick von seinen Händen und sah dafür Frau Černá in die Augen. „Ah, ich mache mir absolut keine Illusionen, dass ich auch nur die geringste Chance auf diese Stelle habe, aber … wäre es möglich für mich, wenigstens die Schicht zu beenden?“ Alles war besser, als nachts allein in seiner leeren Wohnung zu sitzen. „Bitte?“
Er sah die Zweifel in Frau Černás Gesicht und rechnete es ihr hoch an, dass sie zumindest über seine Bitte nachdachte, anstatt sofort abzulehnen. „Unter einer Bedingung. Wenn du eine Verschnaufpause brauchst, oder ein offenes Ohr, oder anderweitige Hilfe, kommst du zu mir. Okay? Es ist mir lieber, meine Leute sind ehrlich mit mir, anstatt zu versuchen, alleine klarzukommen, bis es gar nicht mehr geht.“
Erik nickte. „Einverstanden. Und danke. Das ist alles andere als selbstverständlich.“ Es tat gut zu wissen, eine Chefin zu haben, der er mit Offenheit begegnen durfte. Es tat weh zu wissen, nur noch die kommenden sechs Stunden davon zu profitieren. „Ah, ich sollte zurück zu Nathalie. Ich habe sie lange genug allein gelassen.“
Frau Černá trat zur Seite, um die Tür freizugeben und Erik eilte an ihr vorbei nach oben. Dort angekommen, stellte er fest, dass sich die Menschenmenge in der Zwischenzeit mal eben verdreifacht hatte. Vom schlechten Gewissen geplagt, schob er sich zwischen tanzenden Körpern hindurch, bis er endlich die Bar erreichte, an der Nathalie in Überschallgeschwindigkeit Bestellungen abarbeitete.
„Entschuldige“, rief er ihr zu. „Ich …“ Hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch.
„Sorry, Nathalie“, erklang eine Stimme hinter ihm. „Ich habe Erik kurz ins Büro entführt.“
„Kein Ding, der Andrang ging gerade erst los.“
„Dann lasse ich euch arbeiten und gucke später nochmal vorbei.“ Kurz bevor sie sich abwandte, fing Frau Černá Eriks dankbaren Blick auf und beantwortete ihm mit einem grummeligen Lächeln, das kaum ihre Mundwinkel hob.
Entschlossen, sie ihre Entscheidung nicht bereuen zu lassen, stürzte sich Erik in die Arbeit.
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Erik stützte beide Ellenbogen auf die Bartheke und den Kopf auf seine Hände. „Urgh.“
Hinter ihm lachte Nathalie. „Glaub mir, so fühlt sich jeder nach seiner ersten Schicht.“
„Ich würde dich gerne damit volljammern, was mir alles wehtut, aber ich glaube, es geht schneller, wenn ich sage, was nicht. Mein Bauchnabel.“ Erik verzog das Gesicht. „Nein, bei genauerer Überlegung tut mir der auch weh.“
Mitfühlend tätschelte Nathalie seine Schulter. „Wird schon. Dafür, dass du kompletter Anfänger bist, hast du dich heute gut geschlagen.“
Erik lächelte schwach. „Danke.“ Im Trubel der vergangenen Stunden hatte er zeitweise alles vergessen, das nicht mit Bier, Wodka und Gläserspülen zu tun hatte. Dieser Luxus endete mit dem letzten Song des DJs. Er und Marco waren nicht länger zusammen und zur Krönung dieses beschissenen Tages, durfte er sich jetzt noch die finale Absage für den Job holen.
„Erik.“ Wie von seinen Gedanken heraufbeschworen, winkte ihn Frau Černá zu sich. „Komm bitte kurz in mein Büro.“
„Ah, ja. Sicher.“ Erik verabschiedete sich von Nathalie, folgte Frau Černá nach hinten, und wappnete sich für das Kommende.
Im Büro angekommen, machte sie es sich an ihrem Schreibtisch bequem. „Du hast heute gut gearbeitet.“
„Danke.“
„Ich habe hier“, mit den Fingerspitzen zog sie zwei Blätter aus einer Klarsichtfolie, „die Verträge vorbereitet. Meine Unterschrift ist schon drauf. Nimm sie mit, lies sie in Ruhe durch und wenn du hier anfangen möchtest, dann bringst du mir einen davon unterschrieben bis nächsten Dienstag vorbei, damit wir dich in die kommenden Schichten einplanen können.“
„Ah …“
„Schau nicht so geschockt. Ich habe doch eben gesagt, dass du gut gearbeitet hast.“
Erik war versucht zu diskutieren. Nachzubohren, weshalb sie ihm – einen Jungen, der ihr nichts bedeutete und für den sie keinerlei Verantwortung trug – eine Chance gab, obwohl sie ihn wenige Stunden zuvor an einem seiner Tiefpunkte erlebt hatte. Stattdessen hielt er die Klappe, nahm die Verträge entgegen und wagte es, sich schlicht über seinen Erfolg zu freuen.
Zuhause angekommen, fiel er Gesicht voraus ins Bett. Glücklicherweise verfolgte Marco ihn nicht bis in seine Träume, doch nach dem Aufwachen galt Eriks erster Instinkt seinem Handy. Das Gerät schon in der Hand, realisierte er, dass er Marco nicht anrufen und von seinem neuen Job erzählen konnte. Er konnte ihn nie wieder anrufen. Marco hatte ihn verlassen.
Betäubt legte Erik sein Handy aufs Nachtkästchen und floh zurück in den Schlaf.