Was zuletzt geschah:
Alles vorbei. Marcos und Eriks Beziehung ist Geschichte.
Kapitel 23
Marco schreckte aus einem Traum, in dem er sich von Erik getrennt hatte. Per Telefon, wie ein Feigling. Schweißnass sank er zurück in die Kissen, doch die Realität holte ihn ein, bevor er sich den Schlaf aus den Augen reiben konnte. Kein Traum. Er hatte sich von Erik getrennt. Eine Entscheidung, die gestern unausweichlich schien und sich heute wie Verrat anfühlte.
Energielos rollte er sich aus dem Bett. Dieser Tag hielt zwei Optionen für ihn bereit. Sofort aufstehen und loslegen, oder sich die Decke über den Kopf ziehen und die Welt so lange wie möglich aussperren. Letzteres half niemandem weiter, also zwang er sich zu einer kalten Dusche und stürzte im Anschluss die dreifache Menge seines üblichen Morgenespressos herunter. Dann starrte er aus dem Fenster, bis die Zeit kam, zur Arbeit aufzubrechen. Der Sonnenaufgang würde noch einige Stunden auf sich warten lassen.
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„Du siehst aus wie ein Geist“, begrüßte Daniel Marco in der Arbeit.
„Kurze Nacht“, erwiderte dieser knapp.
„Ist das alles? Das letzte Mal so fertig ausgesehen hast du, als …“ Dankbarerweise verstummte Daniel, ohne seinen Satz zu beenden. Sie befanden sich in der großen Werkhalle und solange keine Maschinen liefen – was sie aktuell nicht taten – fand der Schall hier gerne seinen Weg zu neugierigen Ohren. Ohren, die aus gutem Grund nichts von Erik wussten.
„Bianchi! Kellerer!“ Die beiden zuckten unter der unerwarteten Stimme ihres Chefs zusammen. Soviel zu den unwillkommenen Zuhörern. „Ich will, dass ihr heute–“ Schmid musterte Marco aus zusammengekniffenen Augen. „Wasn mit dir los, Bianchi? Gestern zu viel gesoffen?“
„Schlecht geschlafen, sonst nichts.“
„Ach ja? Weil wenn du irgendeinen Scheiß baust und sich dann rausstellt, dass du besoffen zur Arbeit gek–“
„Ich. Habe. Nichts. Getrunken.“ Marco hörte seine Zähne knirschen, so energisch klappte er seine Kiefer zusammen, um nichts zu sagen, das ihn den Job kosten konnte. Abrupt wandte er sich ab und stürmte aus der Halle. Die eisige Morgenluft – Weihnachten näherte sich mit langen Schritten – kühlte hoffentlich seinen Kopf.
Sie half teilweise. Das Verlangen, seinem Chef kräftig die Meinung zu geigen, ließ nach. Es verschwand nicht, doch es kroch zurück in das von Schatten verborgene Versteck, in dem es für gewöhnlich lauerte. Das war in Ordnung.
Seinem sicheren Job zuliebe würde Marco weiter den Kopf einziehen und sich den Launen seines Chefs unterwerfen. Heute, morgen, in einem Jahr. Im nächsten Jahrzehnt ... Scheiße, wollte er das wirklich? Oder behielt Erik recht und Marco verdiente besseres?
Erik.
Oh Gott, Erik.
„Vielleicht solltest du dich heute krankmelden.“
„Es geht mir bestens!“ Aus dem Augenwinkel sah Marco, dass Daniel einen Schritt zurücktrat. „Scusa, du bist der letzte, an dem ich meine Laune auslassen sollte. Und du hast recht, es geht mir nicht gut. Aber was glaubst du, denkt der Chef, wenn ich jetzt nach Hause fahre? Damit bestätige ich ihn doch bloß.“
Seufzend trat Daniel wieder näher. „Tröstet es dich, wenn ich sage, dass wir den Vormittag damit verbringen, ein Wohnzimmer auszumessen?“
„Parkett?“ Gefühlt machte Marco seit Beginn seiner Lehre nichts anderes, obwohl sich die Schreinerei eigentlich auf Möbelbau spezialisiert hatte. Böden wurden nur verlegt, um die Kassen aufzufüllen und Lehrlinge zu quälen. Allerdings schien Parkett derzeit deutlich gefragter als maßgeschneiderte Möbel.
Was Marco, wenn er sich die Ausstellungsstücke auf der mehr schlecht als recht gepflegten Webseite des Betriebs ansah, kaum überraschte. Die Qualität des Holzes konnte noch so hochwertig, die Fertigung noch so perfekt sein; sah das Foto aus, als hätte man es in einem schummrigen Keller aufgenommen, während draußen eine totale Sonnenfinsternis stattfand und der Fotograf einen Schlaganfall erlitt, sprach man damit eher wenige Kunden an.
„Kein Parkett“, sagte Daniel. „Mindestens eine Schrankwand und wenn wir uns clever anstellen, kommt vielleicht noch die restliche Einrichtung dazu.“
Die Aussicht auf ein ausführliches Beratungsgespräch, mit der Möglichkeit, seine Kreativität einfließen zu lassen, tröstete Marco in der Tat. Wäre da nur nicht … „Dann müssen wir wohl nur noch auf den Chef warten.“
Daniel grinste wie ein Angler, dem nach stundenlangem Ausharren ein fetter Fang ins Netz gegangen war. „Müssen wir nicht. Chef hat irgendeinen anderen Termin und überlässt das heute komplett uns.“
Das klang fast zu schön, um wahr zu sein. „Wo ist der Haken?“
„Habe ich mich auch gefragt. Wenn ich raten müsste, ärgern wir uns heute mit einem stressigen Kunden rum, der aus irgendeinem Grund eh schon schlecht auf den Chef zu sprechen ist. Dann machen wir die ganze Arbeit, die er am Ende als seine eigene ausgibt, während er uns unter die Nase reibt, ohne seine Hilfe komplett aufgeschmissen zu sein. Ist aber nur eine Vermutung.“
Die ziemlich sicher zutraf.
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Marco starrte auf die Schnitzarbeit in seinen Händen. Was eine antike Kommode in Miniaturform hätte werden sollen, hatte sich unter seinen fahrigen Fingern unrettbar in einen unregelmäßigen Klotz verwandelt. Frustriert verstaute er seine Arbeitsmaterialien; heute würde ihm nichts mehr gelingen. Außerdem knurrte sein Magen, aber so, wie er sich aktuell konzentrierte, verbrannte er sich bestenfalls beide Arme und fackelte schlimmstenfalls den kompletten Wohnblock ab. Also ins Tässchen?
Klaro, wenn er Lust hatte, Manni und Hugo von seiner Trennung von Erik zu erzählen. Allein bei dem Gedanken daran verknotete sich sein Magen, bis beißende Säure seine Speiseröhre hochkletterte. Was immerhin das Hungerproblem löste, aber nicht die Frage klärte, wie er den Rest dieses grauenhaften Tages überstehen sollte.
Hinter ihm, vergessen in seiner Jackentasche, bimmelte sein Handy die ersten Takte von Over the Hills and Far Away. Dragos Klingelton. Erleichtert über die kurzzeitige Unterbrechung seiner Grübelei, hechtete Marco zu seiner Garderobe. „Pronto.“
„Drago hier. Ich gehe einkaufen. Brauchst du etwas?“
„Äh … Wieso fragst du? Ich meine, ist nett, dass du an mich denkst, aber … Wieso?“
„Daniel hat vorhin erzählt, dass du dich heute nicht gut gefühlt hast.“
„Oh.“ So viel zu seiner Hoffnung, nach dem verkorksten Morgen die Kurve gekriegt und für den Rest des Arbeitstags eine bessere Figur gemacht zu haben. „Grazie, aber ich bin versorgt.“
„Ich kann auch bei der Apotheke vorbeischauen. Der Umweg ist kein Problem.“
„Ich bin nicht krank, und das Einzige, was ich brauche, ist Ablenkung.“
Am anderen Ende der Leitung antwortete überraschte Stille und Marco überlegte fieberhaft, wie er sich, erstens, für seinen schroffen Ton entschuldigen, und, zweitens, zurückrudern sollte, ohne endgültig jämmerlich zu klingen. Oder, schlimmer noch, beichten zu müssen, was der wirkliche Grund für seine Laune war.
„Die Weihnachtsmärkte haben seit heute geöffnet“, sagte Drago, bevor Marco seine Stimme wiedergefunden hatte. „Ich gehe nach dem Einkaufen hin, um nach Geschenken für meine Familie zu suchen. Du kannst dich anschließen.“
„Das … würde ich tatsächlich gern tun.“ Definitiv ein besserer Plan als in seiner Wohnung zu versauern.
„Ich brauche ungefähr dreißig Minuten zum Einkaufen. Das heißt, ich hole dich um kurz nach sieben ab.“
Marco schmunzelte über Dragos Angewohnheit, Ansagen zu machen, statt Fragen zu stellen. „Passt prima. Bis dann.“
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Weder bedeckte Schnee die Dächer noch glitzerten Eiszapfen an Wandvorsprüngen, dennoch herrschte dichtes Treiben auf dem Weihnachtsmarkt und es dauerte nicht lange, bis die festliche Stimmung Marco mitriss. Gemeinsam mit Drago schlenderte er durch enge Menschengassen und nutzte entstehende Lücken, um die ausgestellten Waren der einzelnen Stände zu inspizieren.
Kritisch beäugte Drago Bienenkerzen, Windlichter und Schmuck, schien jedoch mit keinem der Angebote zufrieden.
„Suchst du was Bestimmtes?“, erkundigte sich Marco.
„Das würde die Sache erheblich vereinfachen.“
„Okay, für wen genau brauchst du denn noch Geschenke?“
Drago zählte an seinen Fingern ab. „Meine Mutter, meine beiden älteren Schwestern, meine beiden jüngeren Schwestern. Die Geschenke für meine Nichte und meine beiden Neffen habe ich schon.“
„Oh, du bist Onkel!“ Bisher war Marco der einzige in seinem Freundeskreis, auf den das zutraf. „Wie alt sind die drei?“
Wieder nutzte Drago seine Finger, lang und kräftig, mit knotigen Gelenken. „Fast sieben, fast drei und der jüngste erst ein paar Monate.“ Bei seinen nächsten Worten nahm seine Stimme einen gedämpften Ton an, als schämte er sich für die Emotionen, die darin mitschwangen. „Weihnachten sehe ich ihn zum ersten Mal persönlich.“
„Das ist toll! Dann verbringst du die Feiertage bei deiner Familie in Serbien?“
„Mehr oder weniger. Wir sind serbisch-orthodox, das heißt, wir feiern nicht wie hier in Deutschland im Dezember, sondern erst im Januar. Ich fahre kurz nach Neujahr und komme zurück, wenn die Uni wieder losgeht.“
„Hat den Vorteil, dass du ein paar Tage länger nach Geschenken suchen kannst.“
Drago stieß dieses kurze, überraschend herzhafte Lachen aus, das er nur selten hören ließ. „Strenggenommen gehören Geschenke nicht zu unseren Weihnachtsbräuchen. Die Tradition, allen eine Kleinigkeit mitzubringen, geht allein auf meine Kappe.“
„Und Daniel? Schenkst du ihm auch was?“
„Daniel bekommt den traditionellen Gutschein für dreimal Bad und Küche putzen.“
„Dreimal gleich? Großzügig.“
„Ich versichere dir, damit beschenken wir uns gegenseitig.“
Drago sprach es nicht aus, doch Marco hörte deutlich das versteckte ‚Der Junge weiß einfach nicht, wie man richtig putzt‘ heraus. Bisher hatte er Daniel zwar nicht als übermäßig schlampig empfunden – er reinigte die Werkstatt gewissenhafter als manch anderer – allerdings zweifelte Marco keine Sekunde daran, dass Dragos Erwartungen an Sauberkeit merklich höher lagen als beim Durchschnitt.
„Ich klinge undankbar“, stellte Drago nüchtern fest. „Daniel ist der beste Mitbewohner, den ich mir wünschen könnte.“
„Wenn überhaupt, klingst du anspruchsvoll. Nicht undankbar.“
„Manchmal ist das ein und dasselbe.“
Zu sehr von Dragos letztem Satz abgelenkt, verpasste Marco dessen spontanes Abbiegen zum nächsten Stand und lief einige Meter zu weit. Als er sich endlich zurück an Dragos Seite gekämpft hatte, betrachtete dieser eine hölzerne Windmühle, kaum größer als Marcos Zeigefinger und mutmaßlich handgefertigt. Sie erinnerte ihn an die geschnitzten Bauwerke in Dragos Zimmer, gehörte jedoch eindeutig nicht zum Set. Dafür fehlte ihr die Standplatte mit Gravur und auch das Holz passte nicht ganz.
Offensichtlich kam Drago zum selben Schluss und wandte sich merklich enttäuscht ab.
„Warum eigentlich Architektur?“, fragte Marco, nachdem sie ein paar Schritte zurückgelegt hatten. „Was daran fasziniert dich?“
Drago antwortete mit einer Gegenfrage. „Warst du jemals in Belgrad?“
„Nah. Ich bin nicht sehr reisefreudig.“ Und finanziell zu knapp bei Kasse. Sein Kontostand versuchte noch immer, sich von Venedig zu erholen.
Marco zuckte innerlich zusammen, ein schmerzhafter Pfeil schien direkt in sein Herz getroffen zu haben. Falsches Thema. Ganz falsches Thema. Er war hier, um nicht an Erik zu denken. Mit, wie es sich für ihn anfühlte, übermenschlicher Kraft zwang er sich, seine Aufmerksamkeit zurück auf Drago zu lenken.
„Ein nicht unwesentlicher Teil der Gebäude dort wurde und wird illegal gebaut“, erzählte dieser gerade. „Einfamilienhäuser, Wohnblocks, teilweise sogar ganze Siedlungen. Oder auch“, auf der Suche nach dem korrekten Wort stockte er kurz, „Dachaufbauten, die auf schon bestehende Gebäude aufgesetzt werden, um sie zu erweitern.“
„Wäre sicher spannend, das mal mit eigenen Augen zu sehen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht besonders viel über Serbien“, gab Marco zu.
„Warum solltest du auch? Es betrifft dich ja nicht.“ Marco suchte vergeblich nach Sarkasmus oder Unmut in Dragos Stimme. Es schien für ihn eine nüchterne Feststellung zu sein. „Ich wusste vor unserer Flucht auch nichts über Deutschland und eigentlich kaum mehr über Serbien. Ursprünglich bin ich in einem kleinen Dorf aufgewachsen, aber nach Kriegsende sind wir in Belgrad untergekommen. Meine Mutter hatte dort Freunde, die uns unterstützen konnten. Wir hatten Glück. Es ist schwer, in der Stadt halbwegs bezahlbaren Wohnraum zu finden.“
„Der Grund für den illegalen Bau, nehme ich an?“
„Einer von vielen und die wenigsten haben das gesellschaftliche Wohlergehen im Blick. Die Wohnung, in die wir gezogen sind, und in der meine Mutter noch heute zusammen mit meiner ältesten Schwester und meiner Nichte lebt, ist winzig. Jedenfalls für eine Familie mit fünf Kindern. Ich war eigentlich nur zum Schlafen und Essen da, länger habe ich es nicht ausgehalten. Wenn ich dann nachts im Bett lag und sich alles viel zu beengt angefühlt hat, habe ich mir ausgemalt, die Wände um mich herum einzureißen und ein paar Quadratmeter anzubauen. Oder, in Nächten, in denen nicht einmal diese Vorstellung ausgereicht hat, ein bisher ungenutztes Grundstück zu finden und ein Haus darauf zu errichten. Ich habe Stunden damit verbracht, dieses Haus zu skizzieren.“
Drago blieb an einem Stand stehen, der verschiedenste aus Lammfell und Wolle gefertigte Produkte anbot. „Natürlich waren das naive Kinderträume.“ Seine Fingerspitzen schwebten über einem Paar Handschuhe; beiges Leder mit dezenten Ziernähten, innen dick mit Lammfell gefüttert. „Ich fand, jeder hat ein sicheres Zuhause verdient.“
„Ein schöner Gedanke“, sagte Marco.
„Ein utopischer Gedanke.“
„Der dich nie ganz losgelassen hat, oder?“ Drago gab selten so viel von sich preis und Marco hoffte, noch ein wenig mehr aus ihm herauszukitzeln. „Warum sonst solltest du Architektur studieren?“
„Ich mag die Herausforderung, verschiedene Bedürfnisse so gut wie möglich zusammenzubringen. Zeit und Kosten, Nutzen und Ästhetik. Nachhaltigkeit.“ Drago runzelte die Stirn. „Möglicherweise hast du recht und ich habe diesem alten Wunsch damit nur eine erwachsenere Form gegeben.“ Nach eingehender Prüfung der Handschuhe, zahlte er den saftigen Preis ohne Murren. „Was ist mit dir? Warum bist du Tischler geworden?“
„Ehrlich gesagt habe ich dazu keine tolle Story. Ich hatte die Nase voll von Schule und Büffeln, und wollte was Handwerkliches machen. Am liebsten mit Holz, aber das war keine wirklich feste Bedingung. Mein Chef war dann einfach der erste, der mir eine Zusage gegeben hat. Andernfalls wäre ich heute vielleicht Koch, Gärtner oder Steinmetz.“
„Hast du deine Wahl je bereut?“
„Nah, ich mag meinen Job.“ Meistens. Hauptsächlich dann, wenn er möglichst wenig von seinem Chef zu Gesicht bekam. „Außerdem werde ich nie erfahren, ob mir einer der anderen Berufe mehr Spaß gemacht hätte, also lohnt es sich nicht, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.“ Marco stupste gegen Dragos Papiertüte, in der dieser die frisch erstandenen Handschuhe transportierte. „Für deine Mutter?“
„Ja.“ Als Marco bereits dachte, dass Dragos Antwort damit ausgeschöpft wäre, fügte er hinzu: „Ihre alten fallen auseinander und sie hat ein wenig Luxus verdient.“ Aus jeder Silbe klang die Liebe, die er für seine Mutter empfand, klar heraus.
„Dann fehlen jetzt noch deine Schwestern.“
„Wir schenken uns nur Kleinigkeiten. Es wäre nicht schlimm, wenn ich heute nichts mehr finde.“
„In diesem Fall schlage ich einen Abstecher zum nächstbesten Glühweinstand vor.“
„Einverstanden.“
Nach kurzer Suche entdeckten sie einen vielversprechend aussehenden Stand. Genaugenommen entdeckten sie die beträchtliche Schlange davor. Rastlos stampfte Marco mit den Füßen und blies warme Luft in seine Hände. Die Minuten zogen sich, da gefühlt jeder vor ihnen Glühwein für seine zwanzig Freunde und dreißig Tanten bestellte, der erst frisch zubereitet und von drei Priestern verschiedener Glaubensrichtungen gesegnet werden musste. Allmählich meldete sich zudem Marcos Magen, um darauf hinzuweisen, dass die Zeit fürs Abendessen schon vor seinem Aufbruch zum Weihnachtsmarkt überschritten gewesen war und sich die Situation seither nicht verbessert hatte.
Marco spähte über seine Schulter zu den nicht-flüssigen Verpflegungsangeboten, als der vertraute Duft frisch gerösteter Maroni seine Nase kitzelte. Mit ihm kamen die Erinnerungen. Der erste Joggingausflug mit Erik, dessen verschlossenes Gesicht bei der Aussicht auf Maroni aufleuchtete. Marcos stiller Schwur, diesen Ausdruck jeden einzelnen Tag, an dem sie sich sahen, hervorzulocken.
Plötzlich hatte Marco Schwierigkeiten zu atmen. Sein Hals fühlte sich zu eng an, seine Nase verstopft. Seine Augen prickelten unter dem Druck aufsteigender Tränen. Wie hatte er nur alles so unglaublich versauen können?
Eine heiße Tasse, die ihm in die Hand gedrückt wurde, lenkte ihn lange genug ab, um einen beruhigenden Atemzug frostiger Luft in seine Lungen zu lassen. „Grazie“, murmelte er in den Duft aromatischen Glühweins.
Anstelle einer Erwiderung schob Drago ihn zu einem halbwegs ruhigen Eck am Rand des Markts. Er fragte nicht und Marco behielt seine Antworten für sich. Die Hitze der Tasse brannte auf seinen Handflächen, lenkte ihn durch physischen Schmerz von dem in seinem Inneren ab. War es das, wonach Erik suchte, wenn er sich selbst verletzte?
Oh fuck. Was hatte sich Marco nur dabei gedacht, übers Telefon schlusszumachen?! Nur, weil er sich die Fahrt hatte ersparen wollen, und den Anblick auf Eriks Gesicht, wenn er die Worte aussprach. Aber zu welchem Preis? Er sollte in Berlin sein. Sichergehen, dass Erik nichts Dummes anstellte. Dass er Leute um sich hatte, die ihn auffingen.
Die fast leere Tasse in Marcos Händen wurde durch eine volle ersetzt. Brennend heiß, erst an seinen Fingern, dann in seiner Kehle. Allmählich entfaltete der Alkohol seine Wirkung, verlangsamte Marcos Gedanken, dämpfte seine Ängste. Erinnerte ihn daran, wo er sich befand, und dass er eigentlich nach Ablenkung suchte. Sobald er zurück nach Hause kam, würde er Charlotte und Aisha anschreiben. Ihnen sagen, was passiert war. Sie bitten, sich um Erik zu kümmern. Jetzt und hier konnte er nicht mehr tun.
Marco schüttelte den Kopf, um ihn zu klären. Weder wollte er betrunken sein, noch Dragos Abend versauen. Gerade lief er Gefahr, beides zu tun. „Ich brauche dringend eine Kleinigkeit zu essen. Wie sieht’s bei dir aus?“
Mit gerunzelter Stirn ließ Drago seinen Blick über die Essensstände streifen.
„Lass mich raten“, sagte Marco. „Essen ja, aber nicht hier?“ Es überraschte ihn nicht, dass Dragos Abneigung gegen Restaurants Fingerfood auf Weihnachtsmärkten einschloss.
Ein scheues Lächeln erschien auf dessen Lippen. „Um ehrlich zu sein, ja.“
„Wir könnten zu mir gehen und ich koche was für uns.“
„Ich möchte dir keine Umstände bereiten.“
„Nah, Quatsch. Ich muss ja eh für mich selbst kochen, und ob ich dann gleich eine Portion mehr mache, macht echt keinen Unterschied.“ Als Drago weiterhin unentschlossen wirkte, ergänzte er: „Und falls es dir nicht schmeckt, ist das auch nicht tragisch, dann überlegen wir uns was anderes und ich habe eine Portion für morgen. Das schadet nie.“ Außerdem zögerte er damit den Moment hinaus, an dem er erneut allein in seiner Wohnung saß. Er leerte die Reste seines Glühweins mit einem Zug. „Na los, ab zu mir.“
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So schwer, wie der Nachthimmel über seinem Kopf hing, hing die Erinnerung an Erik in Marcos Gedanken. Um ihn herum knackten Äste im Wind, der kalt um Ecken und unter Kleidung kroch, und während die Straßenlaternen die Dunkelheit zurückdrängen mochten, kamen sie nicht gegen den feinen Nebel an, der sich über Pflastersteine, Grünstreifen und asphaltierte Straßen legte.
Plötzlich verschwand Dragos stille Präsenz neben Marco. Irritiert drehte er den Kopf und suchte die Gegend ab, bis er seinen abtrünnigen Begleiter auf der anderen Straßenseite entdeckte. „Was tust du?“, fragte er, nachdem er ihn eingeholt hatte. „Weißt du nicht mehr, wo meine Wohnung ist?“
„Natürlich weiß ich das.“ Doch Drago sah nicht zu Marco, sondern zu einer jungen Frau auf der Straßenseite, die sie eben verlassen hatten. Diese warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter, dann eilte sie weiter. Wie lange waren die beiden ihr schon hinterhergelaufen, ohne dass Marco es bemerkt hatte? „Hast du deshalb die Seite gewechselt?“
„Sie hat sich unwohl gefühlt“, erwiderte Drago knapp und setzte seinen Weg fort.
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Drago entpuppte sich als wesentlich dankbarerer Essensgast, als Marco anhand dessen Selbstbeschreibung vermutet hatte. Er sagte deutlich, welche Lebensmittel ihm nicht schmeckten und vor welchen Konsistenzen er sich ekelte. Am Ende blieb genug übrig, aus dem sich ein unkompliziertes Abendessen zaubern ließ. Marco fackelte dabei nicht einmal seine Küche ab, obwohl seine Gedanken wiederholt zu Erik wanderten. Je energischer er sie verbannen wollte, umso zäher klebten sie an ihm.
„Du bist still heute“, sagte Drago, nachdem sie es sich mit einem Dessert-Bier auf dem Sofa bequem gemacht hatten.
Zu müde und angetrunken, um schöne Ausflüchte zu finden, sprach Marco aus, was ihn seit Stunden in seinem Kopf gefangen hielt. „Ich habe mich von Erik getrennt.“
„Wann?“
„Gestern.“ Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: „Eigentlich will ich nicht darüber sprechen.“ Schon gar nicht mit Drago, für den Beziehungen einem lebenslangen Versprechen gleichkamen, das Marco nun gebrochen hatte. Drago musste ihn bestenfalls für einen Versager und schlimmstenfalls für einen Verräter halten. Er bereute es bereits, das Thema angeschnitten zu haben. „Ich will heute nur trinken und vergessen.“
Eine ganze Weile erwiderte Drago nichts; lediglich sein Zeigefinger tippte einen Morsecode gegen die Bierflasche in seiner Hand. Schließlich raunte er: „Ich kann dich ablenken.“
„Pff, nur zu. Keine Ahnung, wie du das schaffen willst, aber versuch’s ruhig.“
Drago stellte sein Bier auf dem dafür vorgesehenen Untersetzer ab, rutschte vom Sofa auf die Knie und positionierte sich zwischen Marcos Beinen. Warm legten sich seine Hände auf Marcos Oberschenkel.
„W-Was tust du da?“
„Dich ablenken.“ Drago hob den Blick, musterte ihn eingehend. „Soll ich aufhören?“ In der Frage lag nichts Spielerisches, nichts Provokantes, und schon gar kein Vorwurf. Es war einfach nur eine Frage, deren Antwort er hinnehmen würde, egal, wie sie ausfiel.
Marco schüttelte den Kopf, sein Mund zu trocken und seine Zunge zu schwer für eine verbale Erwiderung.
Langsam, als wollte er ihm Zeit geben, es sich anders zu überlegen, schob Drago seine Hände nach oben; über Marcos Oberschenkel, seine Hüften, bis zum Rand seiner Cargohose, deren Knopf seinen geübten Fingern nicht lange standhielt. Der Reißverschluss versuchte gar nicht erst, Widerstand zu leisten und jeder nachgebende Zentimeter enthüllte neben olivgrünen Boxershorts eine Erektion, die sich herzlich wenig für Marcos verwirrte Überforderung interessierte.
„Äh, sollten wir ein Kondom nehmen?“, nuschelte Marco mit weiterhin nicht voll funktionsfähiger Zunge.
„Sollten wir?“
„Ich meine, ich bin getestet und es gab nur …“ Erik.
„Das genügt mir, wenn es dir genügt.“
Stumm nickte Marco, doch sein Schweigen endete, als Drago die Zunge gegen die Unterseite seines Schafts presste. Ein peinlich bedürftiges Wimmern entkam seiner Kehle und er griff reflexhaft nach den breiten Schultern, die gegen seine Knie drückten. In tausend Jahren hätte er sich nicht ausgemalt, dass dieser Abend so enden würde.
Nur … Es fühlte sich kein bisschen nach Erik an. Dragos Kopfbewegungen fehlte der Eigensinn, seiner Zunge eine gewisse Weichheit und Marcos Ohren das zufriedene Schnaufen, das Erik von Zeit zu Zeit ausstieß.
Nicht darüber nachdenken. Das einzig Schlimmere, als sich in Gedanken an seinen Ex zu verlieren, war, sich in Gedanken an seinen Ex und zusätzlich seine Erektion zu verlieren, während sich jemand, den er bis eben als rein platonischen Freund betrachtet hatte, zwischen seinen Beinen abmühte. Marco öffnete seine Lider einen Spalt und schielte zu diesem jemand.
Dragos Aufmerksamkeit galt eindeutig nicht Marcos Gesicht, oder irgendeinem anderen Körperteil oberhalb dessen Bauchnabels. Fokussiert versiegelte er seine Lippen um Marcos Glied, gab dabei jedoch – abgesehen von den üblichen, zwangsweise entstehenden Geräuschen – keinen Mucks von sich. Kein Stöhnen, kein Seufzen, keine gelegentlichen Blicke. Nichts.
Genoss er das hier? Fand er Erregung darin, Marco zu befriedigen? Oder hatte er sich etwas anderes erhofft? Marco realisierte, wie wenig er über Drago wusste, und wie schwer es ihm fiel, ihn einzuschätzen. Dragos Motive, seine Vorlieben, seine Gefühle, sie alle stellten ein undurchdringliches Mysterium für ihn dar. Scheiße, bis eben hatte Marco ihn für absolut hetero gehalten!
Plötzlich blickte Drago doch auf und kalte Luft traf Marcos schwächelnde Erektion, als er sie aus seinem Mund entließ. „Mache ich etwas falsch?“
„Nein! Ich meine … Nein. Mache ich was falsch?“
Drago hob die Brauen. „Wie könntest du?“
„Keine Ahnung“, gab Marco zu. „Vielleicht bin ich ja zu grob? Oder zu aggressiv?“ Zu langweilig? Zu klein? Er wusste, dass er eher am unteren Ende des Durchschnitts lag, bisher hatte sich allerdings niemand beschwert. Jedenfalls nicht in seiner Hörweite. „Ist es okay, dass ich deine Schultern festhalte?“
Er glaubte, Überraschung über Dragos Gesicht flackern zu sehen. „Ich würde es dich wissen lassen, wenn nicht.“
„Äh … okay. Gut. Ich meine … gut.“ Porco dio, wenn die Tatsache, dass er mit offener Hose und raushängendem Schwanz dasaß, lediglich das Zweitdemütigendste an diesem Gespräch war, lief irgendwas gehörig schief. Vielleicht sollten sie es einfach bleiben lassen und so tun, als hätte diese peinliche Episode nie stattgefunden.
Auch Drago schien einen Entschluss gefasst zu haben, der allerdings in die andere Richtung ging. Nach einem letzten Blick auf Marco öffnete er den Mund gerade weit genug, um die kümmerlichen Reste von dessen Erektion erneut in Wärme zu tauchen.
Marco zwang sich, alle störenden Gedanken zur Seite zu schieben und sich ganz auf Dragos Berührungen einzulassen. Dieser brachte offensichtlich Erfahrung mit. Er wusste seine Zunge einzusetzen, seine Lippen und auch seine Hände, die Marcos Hoden massierten. Doch Marco konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass all dem echter Enthusiasmus fehlte.
Wahrscheinlich bildete er sich das nur ein, immerhin hatte Drago die ganze Sache angeleiert. Weshalb sollte er sich aus heiterem Himmel vor Marco auf die Knie werfen, wenn er eigentlich gar keinen Bock darauf hatte? Er gehörte eben zu den stillen, kontrollierten Typen.
Vollständig beruhigen konnte sich Marco damit nicht. Er musterte Drago, betrachtete sein weißblondes Haar, das am Hinterkopf einen Wirbel bildete und ihm vorne in die Stirn fiel. Ob es sich so weich anfühlte, wie es aussah?
Zaghaft ließ er seine Hand von Dragos Schulter in dessen Nacken gleiten, bis erste Strähnen seine Fingerspitzen kitzelten, fedrig fein, wie in Seide gehüllte Daunen. Als kein Protest kam, setzte er seine Erkundung fort und erlaubte es sich, seine Hand tiefer in Dragos Haar zu vergraben.
Mit einem Mal kam Leben in Drago. Er saugte Marco in seinen Mund, bis er den Eingang seines Rachens streifte. Unwillkürlich verstärkte Marco seinen Griff, zog, statt sanft zu halten. Drago stöhnte und Marco lag bereits eine Entschuldigung auf der Zunge, als seine Ohren das Geräusch korrekt registrierten. Das hatte nicht nach Schmerz geklungen, sondern eher nach … Oh. Oh!
Als wäre ein Knoten geplatzt, fanden Marco und Drago zueinander. Marco griff in Dragos Haar, führte seine Bewegungen, anfänglich zaghaft, doch bald verlor er seine Scheu und zeigte ihm deutlich, wie er berührt werden wollte. Zur Antwort erhielt er neben hingebungsvollem Stöhnen einen Körper, der willig tat, was er von ihm forderte.
Gemächlich schob Marco seinen Fuß über Dragos Innenschenkel, bis er eine unverkennbare Ausbuchtung unter seinen Zehen spürte. Drago keuchte um Marcos Erektion herum; umso lauter als Marco seine Zehen fester gegen die Härte unter ihnen presste.
Zeitgleich grub er seine Finger in Dragos Haar und zwang ihn, aufzublicken. Rote Flecken krochen über seinen Hals, bis sie unter seinem Pullover verschwanden; seine feuchtglänzenden Lippen standen einen Spalt geöffnet und über seinen Augen lag ein glasiger Schimmer. Kaum vorstellbar, dass es sich um denselben Mann handelte, mit dem Marco vor kurzem noch über den Weihnachtsmarkt geschlendert war.
„Warum verrätst du mir nicht, was dir wirklich gefällt?“ Eine als Frage getarnte Forderung, die Marco unterstrich, indem er ein weiteres Mal die Zehen gegen Dragos Erektion presste.
Drago blinzelte, und unerwartete Härte ersetzte den Schimmer in seinen Augen. „Keine Schläge ins Gesicht, keine Küsse auf den Mund. Nichts, das Spuren hinterlässt, die am nächsten Tag noch zu sehen sind. Nichts, das ernsthafte medizinische Risiken birgt oder Langzeitschäden verursachen könnte. Keine Körperflüssigkeiten abgesehen von Speichel und Sperma. Kein Würgen oder anderweitiger Sauerstoffentzug. Kein Analsex“, hier machte er eine Pause, die nach dem Ende des Satzes klang, nur um einen Atemzug später zu ergänzen: „ohne Kondom. Keine verbalen Erniedrigungen, kein Anspucken. Keine weiteren Beteiligten, ohne das vorab explizit mit mir abgesprochen zu haben. Keine Spiele in der Öffentlichkeit. Diese Punkte sind nicht verhandelbar. Bei allem anderen benutze ich mein Safeword ‚Gnade‘, wenn es zu viel wird. Außerhalb des Schlafzimmers erwarte ich, dass du mir weiterhin auf Augenhöhe begegnest.“ Er musterte Marco abwägend. „Ist das akzeptabel für dich?“
„Äh, ja. Klaro.“ Diese gestotterte Antwort musste sich für Drago ähnlich überzeugend angehört haben, wie für Marco. Er gab seinem Gehirn einen Tritt, um Dragos Worte mit der Ernsthaftigkeit zu behandeln, die sie verdienten. „Das letzte, das ich will, ist eine klar von dir gesetzte Grenze überschreiten. Das gilt sowohl für dein Safeword als auch deine Tabus. Beides respektiere ich, immer und ohne Diskussion.“
Dragos Gesichtszüge entspannten sich, seine Schultern sackten herab und er neigte den Kopf in stiller Akzeptanz. Oder hätte ihn geneigt, wenn Marcos Hand in seinem Haar das zugelassen hätte.
Nun war es an Marco, sein Gegenüber zu mustern. Er hoffte, nicht so grenzenlos überfordert auszusehen, wie er sich fühlte. Als er Drago nach dessen Vorlieben gefragt hatte, hatte er mit „Ich mag es gerne hart“ oder „Es darf ruhig ein wenig zwicken“ oder dergleichen gerechnet, nicht mit … dieser Intensität. Diesen Möglichkeiten, die sich eröffneten. Diesen Fallen, die bei einem falschen Schritt lauerten.
Also lieber langsam und da weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Abgesehen von einer Kleinigkeit. „Zieh dich aus.“
Anmutig erhob sich Drago. Seine Finger lösten den nachtblauen Wollschal, der zu Beginn ihres Ausflugs fest um seinen Hals gesessen hatte, nun jedoch locker um seine Schultern lag. Anstatt ihn auf den Boden gleiten zu lassen, faltete er ihn penibel – Kante auf Kante – und legte ihn über die Rückenlehne von Marcos Sessel.
Der steingraue Wollpullover, der sich lose um Dragos breite Brust und schmale Taille schmiegte, erfuhr dieselbe Behandlung. Ausgezogen, zusammengefaltet, über die Stuhllehne drapiert. Blieb noch das taubenblaue Hemd, das die Farblosigkeit seiner Augen betonte.
Knopf für Knopf enthüllte er einen Körper, auf dem sich die harten Kanten seiner Gesichtszüge nahtlos fortsetzten. Sei es sein Schlüsselbein, das bei jeder Bewegung scharf hervortrat, oder das Spiel seiner Muskeln. Wie viele Trainingsstunden in letztere geflossen sein mussten, wollte sich Marco lieber nicht ausmalen.
Mit leisem Surren zog Drago seinen Gürtel aus den Schlaufen seiner dunklen Stoffhose und platzierte ihn neben seiner Kleidung. Marcos Blick blieb am glatten Leder hängen, während sein Geist zu diversen Verwendungsmöglichkeiten wanderte, die wenig damit zu tun hatten, Hosen an Ort und Stelle zu halten.
Allerdings nicht heute. Nicht, mit einem Bier und mehreren Tassen Glühwein intus und ganz bestimmt nicht, solange Marco zweifelte, Dragos Körpersprache korrekt einschätzen zu können. Safeword hin oder her.
Dragos Hose fiel, seine Unterwäsche und Socken folgten. Kein Stoff bedeckte seinen Körper, und zu Marcos Überraschung von den Augenbrauen abwärts kein Haar seine Haut. Dafür übersäten blaue Flecken seine Unterarme und Schienbeine – nicht ungewöhnlich für einen Kampfsportler. Er wirkte verletzlich und gefährlich zugleich, eine Kombination, die Marcos Puls in die Höhe trieb. „Dreh dich“, wies er Drago an. „Langsam.“
Ohne eine Miene zu verziehen, kam Drago der Aufforderung nach. Mit angespannter Muskulatur und hinter dem Kopf verschränkten Händen, präsentierte er seinen Körper.
Als er wieder nach vorne blickte, deutete Marco zwischen seine Beine. „Komm her.“ Wie schwierig sich klares Sprechen doch gestaltete, wenn sich der Mund weigerte, Speichel zu produzieren. Glücklicherweise musste er sich nicht wiederholen. Drago ging vor ihm auf die Knie, den Blick gesenkt, die Lippen geöffnet, das fluffige Haar endgültig zerzaust.
Marco verlor keine Zeit, erneut seine Finger darin zu vergraben, und bald war es, als hätten sie nie pausiert. Abgesehen von dem Anblick, der sich ihm nun bot; Dragos nackter Körper kniend vor ihm, stark, doch folgsam. Es kostete einiges an Willenskraft, nicht augenblicklich in der Hitze seines Mundes zu kommen.
Immer wieder vibrierte Dragos Kehle mit gedämpftem Stöhnen, seine Erregung deutlich wahrnehmbar.
Dank fehlender Hose fanden Marcos Zehen seine Erektion problemlos, eine Berührung, die Drago erstmals aus dem Takt brachte. Marco konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wer hätte gedacht, dass sich seine Selbstkontrolle so leicht durchbrechen ließ? „Willst du dich anfassen?“
Ohne Marco aus seinem Mund zu entlassen, keuchte Drago ein rauchiges „Ja“.
„Dann tu das. Aber“, Marco krallte die Finger fester in sein Haar, „du kommst erst, wenn ich es erlaube.“
Und er erlaubte es eine ganze Weile nicht. Zu sehr genoss er die Aufmerksamkeit, die seiner eigenen Erektion zuteilwurde. Die Enge, die sie umhüllte, die feuchte Zunge, die sich anfangs fremd und nun vertraut anfühlte. Am meisten genoss er Dragos Hingabe, die ihn in formbares Wachs verwandelte. Er schenkte Marco die Macht, jede seiner Bewegungen zu steuern.
Marco nahm dieses Geschenk an, ohne es auszunutzen. Selbst von Lust vernebelt, achtete er auf Dragos Reaktionen, ließ ihm ausreichend Luft und zog sich zurück, wenn er versehentlich seinen Würgereflex auslöste. Was erstaunlich schnell passierte, dafür, dass Drago Erfahrung mitzubringen schien und Marco größentechnisch nicht unbedingt Rekorde aufstellte.
Je weiter er sich seinem Höhepunkt näherte, umso schwerer fiel ihm diese Zurückhaltung, doch auch als sich das Prickeln in seinen Hoden auf seinen gesamten Körper ausbreitete und der Druck in ihm ins Unerträgliche wuchs, behielt er die Kontrolle. Sie vollständig aufzugeben, war Drago vorbehalten.
Sein Orgasmus entlud sich wie ein Blitzschlag. Stürmisch und unerbittlich, mit einer Energie, die ihm den Atem raubte. Nachdem ihn das letzte elektrisierende Bitzeln verlassen hatte, sank Marco erschöpft in die Polster zurück und blinzelte zu Drago.
Dieser hob den Kopf und öffnete die Lippen; präsentierte das Ergebnis von Marcos Höhepunkt in seinem Mund. Bevor er schluckte, entkam ein Tropfen, rann über sein Kinn und tropfte auf seine Brust. Markierte ihn. Ein Anblick, der Marcos eben erst erschlafftes Glied erneut aufmerken ließ.
Bei Drago fand sich hingegen keine Spur von Erschlaffung, er hielt seine Erektion fest umklammert, allerdings ohne seine Hand zu bewegen. Brav.
„Jetzt“, wies Marco an.
Drago brauchte keine dreißig Sekunden, dann warf er stöhnend den Kopf in den Nacken und sein Sperma vermischte sich auf seiner Brust mit Marcos. Er sah ausgesprochen klebrig und ausgesprochen befriedigt aus.
Bevor Marco ein Taschentuch und ein Glas Wasser anbieten konnte, stand Drago auf und verschwand wortlos ins Bad.
Marco nutzte die Zeit, sich mithilfe der Küchenspüle ein wenig frisch zu machen. Hauptsächlich, um seinen Händen eine Beschäftigung zu geben, denn jetzt, da sein Hirn ausreichend mit Blut versorgt wurde, drohte es, seine Arbeit wiederaufzunehmen. Was zu der einzig möglichen Frage führte: Was zur Hölle war da eben zwischen ihnen passiert?
Die Badtür öffnete sich und Dragos Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gingen ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf. Stumm starrten sie sich an.
„Oh, prima“, brach Marco das Schweigen. „Ich hatte schon befürchtet, wir würden den peinlichen Moment danach, in dem keiner so recht weiß, was er sagen oder tun soll, einfach auslassen. Wäre schade gewesen.“
Das brachte ihm ein flüchtiges Lächeln ein. Immerhin besser als nichts.
„Noch ein Bier?“
Drago zögerte, sein Blick huschte zur Wohnungstür, aber er machte keine Anstalten, darauf zuzugehen. Wenig verwunderlich, wenn man bedachte, dass er noch immer splitterfasernackt dastand. Das schien ihm nun ebenfalls aufzufallen, denn mit langen Schritten durchquerte er das Wohnzimmer und begann, sich auf dieselbe methodische Art anzuziehen, auf die er sich zuvor von seiner Kleidung befreit hatte. Als er den Gürtel seiner Hose schloss, antwortete er: „Ein Bier klingt gut.“
In der Hoffnung, die seltsame Stimmung aufzulösen, die sich über sie gelegt hatte, eilte Marco zum Kühlschrank. Zwei kalte Flaschen in der Hand, hörte er hinter sich leises Fluchen. Jedenfalls nahm er an, dass es sich um Flüche handelte, denn er kannte die Sprache nicht, doch der Ton klang universell. Er drehte sich um und erwischte Drago – die Brauen zusammengezogen, die Zähne zu einem lautlosen Knurren gebleckt – im Kampf mit seinen Hemdknöpfen. „Ist ein Knopf lose? Ich habe Nähzeug da.“
„Nichts ist lose“, erwiderte Drago knapp.
„Was ist es dann?“
„Es dauert ewig, alle Knöpfe zu schließen.“
Marco konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dieser Abend hatte ihm so einige neue Seiten an Drago gezeigt, aber dass ausgerechnet schlichte Hemdknöpfe ihn an den Rand seiner Geduld brachten, kam unerwartet.
„Warte, lass mich.“ Drago erhob keine Einsprüche, als Marco die Bierflaschen auf dem Küchentresen abstellte und mit Sorgfalt die verbleibenden Knöpfe schloss. Am Ende strich er den Kragen glatt. „Warum trägt jemand, der offensichtlich Knöpfe hasst, überhaupt Hemden?“
„Weil nur damit das Gesamtkonzept aufgeht.“
Dem konnte Marco schwerlich widersprechen.
„Ich sollte gehen. Es ist spät.“
Hä? „Dein Bier …?“
„Nächstes Mal.“
Es brauchte nicht viel Empathie, um zu erkennen, dass Drago wegwollte. „Äh, klaro. Komm gut nach Hause. Und grüß Daniel von mir.“
Drago schlüpfte in seinen Pullover, nahm Schal, Jacke und die Tasche mit dem Weihnachtsgeschenk für seine Mutter, und hastete zur Wohnungstür. „Wir sehen uns.“
Sicher? Marco sprach die Frage nicht aus. Es gab keinen Grund, den Abschied noch unangenehmer zu machen, als er sich ohnehin anfühlte.
Am Türabsatz warf Drago einen letzten Blick über seine Schulter, doch er sah nicht zu Marco, sondern fixierte eine Stelle ein Stück links von diesem. Dann verschwand er ohne weiteres Wort.
Verwirrt, erschöpft und ein wenig verletzt, versuchte Marco herauszufinden, was Dragos Aufmerksamkeit erregt hatte. Er musste nicht lange nach einer Antwort suchen. Es war vermutlich dieselbe Stelle, die in Dragos Blickfeld gelegen hatte, während Marco sein Hemd zuknöpfte. Die leere Wand neben Marcos PC. Die Wand, an der bis vor kurzem Eriks Foto gehangen hatte, nicht einmal lange genug, um nach dem Abhängen einen Fleck zu hinterlassen.