Was zuletzt geschah:
Erik und Marco führen ihr Leben getrennt voneinander fort, und allmählich scheinen sich beide recht gut damit arrangiert zu haben. Charlottes und Philipps Umzug könnte allerdings dazu führen, dass sich ihre Wege in absehbarer Zeit doch wieder kreuzen.
Kapitel 36
Erik sog die Luft seiner Geburtsstadt in seine Lungen. Stuttgart hatte ihn wieder.
Ausgestattet mit seinem Koffer und einer Reservierung in dem Hotel, in dem eine Freundin von Charlotte ihre Ausbildung absolvierte, wagte er sich in seine alte Heimat. Den Weg zur Stadtbahn fand er problemlos, ab da starrte er jedoch mit großen Augen aus dem Fenster, während Baustellen, Schaufenster und Wohnhäuser an ihm vorbeizogen. Wie viel sich in den wenigen Monaten seit seinem Umzug verändert hatte!
Was, wenn er so darüber nachdachte, nicht nur für die Umgebung galt. Morgen zogen Charlotte und Philipp in ihre erste gemeinsame Wohnung, ein riesiger Schritt, bei dem Erik helfen durfte. Heute Abend stand allerdings zunächst ein spätes Essen mit Hugo und Manni auf dem Plan, dem er mit Vorfreude, aber auch Nervosität entgegenblickte.
Davor musste er dringend im Hotel einchecken und wenigstens dreißig Minuten in einem stillen Zimmer verbringen. Früh aufstehen, direkt nach der letzten Vorlesung in den Zug springen und sechs Stunden im ICE hocken, hatten ihn doch mehr erschöpft als erwartet. Dass er vor ein paar Monaten gedacht hatte, das mindestens alle zwei Wochen zu schaffen, kam ihm inzwischen lächerlich vor. Wann hätte er lernen, wann im Tix arbeiten sollen?
Erik stieg an der von seinem Routenplaner angegebenen Haltestelle aus der Bahn und hielt Ausschau nach seinem Hotel. ‚Klein und familiär‘ hatte Charlotte es genannt. Naja, sie hatte etwas andere Worte gewählt, aber in der festen Überzeugung, dass sie ihn nicht in eine völlige Bruchbude schicken würde, hatte er sich für eine positive Interpretation entschieden.
Babyblaue Vorhänge und geblümte Bettwäsche begrüßten Erik hinter der Hotelzimmertür. Gerade kitschig genug, um gemütlich zu sein, ohne ihm das Gefühl zu geben, ein verfluchtes Puppenhaus betreten zu haben. Der zitronige Geruch nach Putzmittel hing in der Luft.
Erik stellte seinen Koffer ab, streifte die Schuhe von seinen Füßen und ließ sich Gesicht voraus aufs Bett fallen. Er war eingeschlafen, bevor er auch nur daran denken konnte, Pullover und Hose auszuziehen.
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Ungläubig starrte Erik auf seinen Handywecker. Das verräterische Ding funktionierte offenkundig wie es sollte, egal, wie sehr er es überzeugen wollte, auf keinen Fall bereits dreißig Minuten geschlafen zu haben. Wenn er nicht sofort unter die Dusche sprang, und sich dabei auch noch halbwegs beeilte, kam er zu spät zu seiner Verabredung mit Hugo und Manni.
Dieser Gedanke schaffte es, ihm den notwendigen Antrieb zu geben. Innerhalb von fünfzehn Minuten stand Erik geschniegelt und gestriegelt vor dem Spiegel, lediglich seine Haarspitzen hingen noch feucht um seine Schultern. Er unterschätzte regelmäßig, wie ewig seine Haare bei ihrer derzeitigen Länge zum Trocknen brauchten, insbesondere bei dem eher schwachbrüstigen Föhn, den das Hotel bot. Glücklicherweise hatte inzwischen der Frühling Einzug ins Land gehalten und ein paar nasse Spitzen störten kaum.
Gerade noch rechtzeitig, um seinen Bus zu erwischen, brach Erik auf, einen nervösen Knoten im Magen, der sich mit jeder Station enger zuzog.
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Erik stand auf die Minute pünktlich am Hintereingang des Tässchens, der gleichzeitig zu Hugos und Mannis Wohnung im ersten Stock führte. Das Café hatte schon vor einer Weile seine Pforten geschlossen. Offiziell hatten sie sich auf den recht späten Besuch geeinigt, da die lange Fahrzeit nach Stuttgart kaum Alternativen ließ. Dass Erik so nicht befürchten musste, Marco über den Weg zu laufen, falls dieser während der Öffnungszeiten ins Tässchen schneite, war definitiv ein Bonus. Er selbst glaubte, damit klarzukommen, doch er wollte nicht riskieren, Marco das Gefühl zu geben, einen seiner wichtigsten Rückzugsorte zu verlieren.
Die Hand bereits zum Klingeln erhoben, zögerte Erik. Wenn er jetzt läutete, würde er Manni und Hugo zum ersten Mal seit der Trennung persönlich gegenüberstehen und dann zeigte sich, ob sich ihr Verhältnis trotz aller gegenteiliger Beteuerungen nicht doch verändert hatte.
Genervt von seiner eigenen Unsicherheit, drückte Erik die Klingel. Allmählich sollte er seine Lektion gelernt haben und nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, wenn es um seine Mitmenschen ging. Hugo und Manni hatten ihn stets mit offenen Armen empfangen, es gab keinen Grund anzunehmen, dass das plötzlich nicht mehr der Fall sein sollte.
Der Summer erklang und Erik trat ins Innere des Wohnhauses. Geradeaus führte ein Gang zu den Toiletten und weiter in den Hauptraum des Tässchens. Oder er hätte dorthin geführt, wäre die Zwischentür in diesen Teil des Gebäudes nicht fest verschlossen gewesen. Der einzige Weg, der ihm blieb, war nach oben, wo warmes Licht die obersten Treppenstufen flutete.
Behutsam schob Erik die offene Wohnungstür ein Stück weiter auf und lugte hindurch. „Hallo?“
„Komm rein!“, erschallte Hugos Stimme. „Wir sind in der Küche.“
Erik folgte der Aufforderung und fand Hugo und Manni an einem mit allerlei dampfenden Töpfen vollgestellten Herd. Hugo schöpfte eben Spätzle aus siedendem Wasser. „Sorry“, sagte er über seine Schulter. „Ist hier gerade etwas hektisch geworden.“
„Kein Problem, ich weiß, wie man eine Tür bedient.“
In Hugos Lächeln lag die Herzlichkeit, die Erik in den letzten Monaten so schmerzlich vermisst hatte. „Es ist schön, dich wiederzusehen.“
Sobald Hugo den aktuellen Schwung Spätzle aus dem heißen Wasser gerettet hatte, sank Erik in seine ausgebreiteten Arme. Wärme und Geborgenheit umhüllten ihn, und fegten alle Ängste, seine Trennung von Marco könnte zwischen ihnen stehen, fort. Diese bedingungslose Zuneigung, diese Väterlichkeit hatten ihm gefehlt. So sehr gefehlt.
Erik stiegen Tränen in die Augen, die sich auch durch mehrfaches Blinzeln nicht zurückhalten ließen. „Sorry“, schniefte er peinlich berührt. „Es ist nur … Nur …“ Weiter kam er nicht, weil ihm die Stimme versagte, aber er hätte ohnehin nicht gewusst, wie er den Satz beenden sollte.
„Shh, ist alles gut.“ Hugo drückte ihn fest an sich. „Wir sind so froh, dass du hier bist.“
Erik presste die Stirn gegen Hugos Schulter und erlaubte es sich, sich festhalten zu lassen. Nach einer Weile versiegten seine Tränen und zurück blieb das wohlige Gefühl, behütet zu werden. Verschämt lächelnd richtete er sich auf. „So, jetzt geht’s wieder.“
Hugo erwiderte sein Lächeln mit so viel Wärme, dass beinahe erneut ein paar Tränchen gekullert wären. „Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.“
„Habe ich das nicht immer?“ Während Hugo drei Teller mit Linsen, Spätzle und vegetarischen Seitanwürstchen füllte, begrüßte Erik endlich auch Manni und half ihm, den Tisch zu decken.
Die ersten Minuten ihres gemeinsamen Abendessens verstrichen schweigend, hauptsächlich, weil Eriks seinen Mund lieber mit Spätzle und Linsen beschäftigte als mit Worten. So sehr er Berlin inzwischen schätzte, bisher hatte sich niemand dort bereiterklärt, ihn zu bekochen.
„Und?“, fragte er, nachdem er in Rekordzeit die zweite Portion vertilgt hatte und sein Magen ihn anflehte, wenigstens ein paar Minuten Pause einzulegen. „Was gibt es bei euch Neues?“
„Ach, wenig bis nichts.“ Hugo schmunzelte. „Zum Glück.“
Manni ergänzte: „Wir kommen in das Alter, in dem keine Neuigkeiten gute Neuigkeiten sind.“
Skeptisch hob Erik eine Braue und erntete dafür zweistimmiges Gelächter.
„Das ist nicht negativ gemeint“, versicherte Hugo. „Wir sind einfach an einem Punkt in unserem Leben, in dem es so läuft, wie wir es uns erhofft hatten. Oder zumindest so nah wie möglich an unsere Hoffnungen rankommt. Jede Änderung kann fast nur eine Verschlechterung sein.“
„Hm.“
„Du glaubst uns nicht.“
„Doch, doch, ich kann es mir nur nicht vorstellen.“
„Erik, du bist gerade erst zwanzig geworden. Du sollst dir das noch gar nicht vorstellen können.“
Manni nickte bekräftigend. „In deinem Alter hatten wir ein paar grobgesteckte Ziele. Schulabschluss, Ausbildung, dieses Café aufbauen, aber alles darüber hinaus haben wir mehr oder weniger wöchentlich ausgewürfelt.“
„Und wann ist es dann ruhiger bei euch geworden? Oder vorhersehbarer?“ Natürlich wusste Erik, was er von der Zukunft erwartete – sein Studium meistern und Kinderarzt werden – doch die Details schienen sich kontinuierlich neu zu ordnen. Manchmal brachte ihn das an den Rand der Verzweiflung, gleichzeitig wollte er es um nichts in der Welt ändern. Es gab zu viel zu entdecken und zu erleben, um sich jetzt schon in allzu geordnete Gewässer zu begeben.
Nachdenklich blickte Hugo zur Zimmerdecke. „Naja … Ich habe das Tässchen eröffnet … Aber nein, ab da ist eigentlich noch überhaupt nichts ruhig geworden. Es dauert eine ganze Weile, bis so ein Café Gewinn abwirft, so es das denn überhaupt jemals tut. Am Anfang waren wir permanent einen schlechten Monat von der Insolvenz entfernt. Als das dann ein kleines bisschen besser lief, hat sich Manni beruflich nochmal umorientiert, und etwas später nochmal. In der Zeit ist dann auch eher zufällig der Jugendtreff entstanden. Oder seine Vorform. Bis das richtig lief, und vor allem auch juristisch abgeklärt war, was wir alles beachten müssen, um damit nicht in Teufelsküche zu geraten, sind auch nochmal ein paar Jahre vergangen. Dann haben wir geheiratet, das heißt, ‚unsere Lebenspartnerschaft eintragen lassen‘. Und dann, als wir angefangen haben zu glauben, dass es allmählich ruhiger zugeht, stand plötzlich Marco vor der Tür. Völlig durchnässt und ohne einen Plan, wo er die Nacht verbringen sollte.“ Hugo stoppte abrupt.
Erik begegnete dessen schuldbewusstem Blick mit einem Lächeln. „Ist in Ordnung.“ Marcos Namen zu hören, tat kaum mehr weh. Lediglich in besonders einsamen Nächten vermisste Erik warme Haut und sonores Schnarchen neben sich, oder jemanden, der ihn bekochte, wenn er sich gerade zum dritten Mal in dieser Woche eine Tiefkühlpizza in den Ofen schob, obwohl er viel lieber Pasta mit Tomatensoße essen würde. Doch der Schmerz nahm ihm nicht länger die Luft zum Atmen, sondern diente ihm als Erinnerung, etwas Wundervolles erlebt zu haben. Auch, wenn es sich vermutlich niemals wiederholte.
Ein Teil seiner Gedankengänge musste sich auf seinem Gesicht gespiegelt haben, denn Manni fragte vorsichtig: „Du weißt, dass Marco morgen auch beim Umzug mithilft?“
„Mhm, Charlotte hat mich vorgewarnt, aber sie haben uns in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Marco hilft mit ein paar Leuten Philipps altes Zimmer auszuräumen, während ich mit der anderen Gruppe in der neuen Wohnung alles in Empfang nehme. Das heißt, wir begegnen uns sehr wahrscheinlich gar nicht oder höchstens flüchtig. Hat außerdem den Vorteil, dass ich nicht ganz so früh da sein muss, weil unsere Arbeit ja erst richtig losgeht, wenn die anderen ankommen. Den Part dürfen gerne die Frühaufsteher übernehmen.“ Und einfach, um es einmal konkret ausgesprochen zu haben, fügte er hinzu: „Ihr könnt ihn übrigens ruhig erwähnen. Unsere Trennung liegt Monate zurück, ich komme damit klar.“
Hugo lächelte. „Das sehen wir.“
„Ja?“, fragte Erik überrascht.
„Du wirkst, als hättest du seit deinem Umzug mehr zu dir selbst gefunden.“
Erik dachte über Mannis Worte nach. „Ich glaube, ich bin zumindest auf dem Weg dahin“, sagte er schließlich. „Was nicht heißt, dass ich komplett im Reinen mit mir bin, absolut nicht, und ich weiß auch, dass sich gute und schlechte Phasen bei mir ganz gerne abwechseln, aber ja, alles in allem fühle ich mich gut mit mir, meinem Leben und meinen Entscheidungen.“ Es hatte lange genug gedauert, an diesen Punkt zu kommen.
„Darf ich einen Vorschlag machen, mit dem du dich sicher noch besser fühlst?“, fragte Hugo.
„Nur zu.“
„Nachtisch.“
Überglücklich mit seiner Entscheidung, seine Ängste zu überwinden und endlich hierherzukommen, nickte Erik.